Ohrenschützer
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Von diesem Text gibt es auch eine spezielle graphische Umsetzung, die ich empfehlen möchte. Zu finden unter
Alles Gesagt als GIF auf imageshack.us
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Alles gesagt (I)
Durchatmen. Den Türstock berühren. Ein Blick zurück. Die kahlen Wände der Zelle ließen die starken Gefühle kaum erahnen, die ich in ihnen erlebt hatte. Ihr Anblick war mir mit einem Schlag unvertraut. Doch die Erinnerung kroch wieder an mir hoch und ließ sich nur widerwillig abschütteln. Nur noch die persönlichen Gegenstände abholen. Ein klein wenig Geduld. Bald würde ich wieder freie Luft atmen. Endlich. Ich fragte mich, ob ich nun auch das Gefängnis in mir selbst verlassen könnte.
Als ich diesen Ort des Schmutzes verließ, wusste ich, dass ich alles hinter mir lassen musste, um weitermachen zu können. Ein neues Leben sollte beginnen, mit einer neuen Familie. Eine saubere Zukunft. Ohne Zurückschauen, ohne Schuld oder Anlass für Reue.
Ich wollte meiner Mutter einen Brief zukommen lassen. Unzählige Varianten hatte ich verfasst, verworfen, korrigiert. Schließlich entschied ich mich für eine Fassung. Ich bat sie um Vergebung und um die Möglichkeit, sie zu treffen. Um eine Zukunft, in der ich ihr und somit auch mir selbst wieder in die Augen sehen konnte. Meine Strafe war abgesessen, meine Fehler zwar nicht ausgelöscht, aber durch mein langjähriges Leid mehr als aufgewogen.
Damals hatte ich gelernt, was Einsamkeit war. In einer Welt der Scheinmoral stand nun niemand mehr hinter mir. Geblieben waren mir Erinnerungen, die mich zuerst trösteten, mich dann aber quälend auf das bittere Jetzt hinführten. Die Zeit, dachte ich damals noch, würde alles ins Lot bringen. Doch die Veränderung kann nur im Innern stattfinden. Man muss sich vollständig lösen von allem, was war, wenn sich etwas ändern soll.
Bevor ich das Land verließ, wollte ich ein letztes Zeichen der Versöhnung setzen. Ich würde meinen Brief hinterlassen und außen am Kuvert schreiben, am folgenden Tag die Antwort abzuholen. Vielleicht, so wagte ich kaum zu hoffen, würde mich meine Mutter sogar mit offenen Armen empfangen. Menschen ändern sich in so vielen Jahren. Letzter Abschied oder gemeinsamer Neuanfang. Jedenfalls Klarheit. So ging ich zur Wohnung meiner Mutter und hatte schon den Finger an der Klingel.
Da hielt ich inne und wog den Brief nochmals in Händen, als ob ich so seinen Inhalt ermessen könnte. Dann entschied ich mich dafür, ihn gut sichtbar auf das Fensterbrett neben der Tür zu legen. Zuvor fuhr ich zärtlich mit dem Finger über die Oberseite – im Gedanken, dass somit aus meiner Sicht alles gesagt sei. So würde der Brief sicherlich gefunden werden und damit die Frage beantwortet werden, ob eine Versöhnung möglich wäre.
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Alles gesagt (II)
Viel Zeit war verronnen. Der Schmerz verging. Es blieb der Makel, eine schlechte Mutter zu sein. Obwohl mein Sohn damals längst erwachsen gewesen war. Einmal habe ich ihn besucht, ohne dass jemand etwas davon erfuhr. Vielleicht hatte ich gehofft, dass sich alles als Justiz-Irrtum herausstellte. Oder dass er zu allem gezwungen wurde. Aber er gab alles zu. Er müsse jetzt dafür bezahlen, sagte er. Nicht nur du, dachte ich. Nicht nur du! Ich vergönnte ihm die folgenden Jahre im Dreck.
Als ich diesen Ort des Schmutzes verließ, wusste ich, dass ich alles hinter mir lassen musste, um weitermachen zu können. Ein neues Leben sollte beginnen, mit einer neuen Familie. Eine saubere Zukunft. Ohne Zurückschauen, ohne Schuld oder Anlass für Reue.
Jeder Finger, der auf mich zeigte, wies mir den Weg fort von Vergangenem. Es gab keine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Das kann nicht mein Sohn sein, dachte ich. So habe ich ihn nicht erzogen. Er gehört nicht mehr zu uns. Das Geschäft meines Mannes litt unter dem Stigma, einen Schwer-verbrecher in der Familie zu haben. Mein Mann wurde depressiv, begann zu saufen. Es wurde so schlimm, dass er keinen anderen Ausweg sah als den Strick.
Damals hatte ich gelernt, was Einsamkeit war. In einer Welt der Scheinmoral stand nun niemand mehr hinter mir. Geblieben waren mir Erinnerungen, die mich zuerst trösteten, mich dann aber quälend auf das bittere Jetzt hinführten. Die Zeit, dachte ich damals noch, würde alles ins Lot bringen. Doch die Veränderung kann nur im Innern stattfinden. Man muss sich vollständig lösen von allem, was war, wenn sich etwas ändern soll.
Das funktionierte auch über Jahre hinweg gut. Bis ich einen Brief vor meiner Wohnung fand, mit der Schrift des Mannes, der mein Sohn gewesen war. Sollte ich ihm antworten? Breit erklären, warum ich mich nicht mehr von den Geistern der Vergangenheit hetzen lassen wollte? Dass meine Angst vor neuerlichem Schmerz größer war als das Bedürfnis, ihm alles Gute zu wünschen? Ich gab dem Impuls nach, den Brief ungeöffnet in zwei Teile zu reißen und ging damit zum Mülleimer.
Da hielt ich inne und wog den Brief nochmals in Händen, als ob ich so seinen Inhalt ermessen könnte. Dann entschied ich mich dafür, ihn gut sichtbar auf das Fensterbrett neben der Tür zu legen. Zuvor fuhr ich zärtlich mit dem Finger über die Oberseite – im Gedanken, dass somit aus meiner Sicht alles gesagt sei. So würde der Brief sicherlich gefunden werden und damit die Frage beantwortet werden, ob eine Versöhnung möglich wäre.
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Alles gesagt (I)
Durchatmen. Den Türstock berühren. Ein Blick zurück. Die kahlen Wände der Zelle ließen die starken Gefühle kaum erahnen, die ich in ihnen erlebt hatte. Ihr Anblick war mir mit einem Schlag unvertraut. Doch die Erinnerung kroch wieder an mir hoch und ließ sich nur widerwillig abschütteln. Nur noch die persönlichen Gegenstände abholen. Ein klein wenig Geduld. Bald würde ich wieder freie Luft atmen. Endlich. Ich fragte mich, ob ich nun auch das Gefängnis in mir selbst verlassen könnte.
Als ich diesen Ort des Schmutzes verließ, wusste ich, dass ich alles hinter mir lassen musste, um weitermachen zu können. Ein neues Leben sollte beginnen, mit einer neuen Familie. Eine saubere Zukunft. Ohne Zurückschauen, ohne Schuld oder Anlass für Reue.
Ich wollte meiner Mutter einen Brief zukommen lassen. Unzählige Varianten hatte ich verfasst, verworfen, korrigiert. Schließlich entschied ich mich für eine Fassung. Ich bat sie um Vergebung und um die Möglichkeit, sie zu treffen. Um eine Zukunft, in der ich ihr und somit auch mir selbst wieder in die Augen sehen konnte. Meine Strafe war abgesessen, meine Fehler zwar nicht ausgelöscht, aber durch mein langjähriges Leid mehr als aufgewogen.
Damals hatte ich gelernt, was Einsamkeit war. In einer Welt der Scheinmoral stand nun niemand mehr hinter mir. Geblieben waren mir Erinnerungen, die mich zuerst trösteten, mich dann aber quälend auf das bittere Jetzt hinführten. Die Zeit, dachte ich damals noch, würde alles ins Lot bringen. Doch die Veränderung kann nur im Innern stattfinden. Man muss sich vollständig lösen von allem, was war, wenn sich etwas ändern soll.
Bevor ich das Land verließ, wollte ich ein letztes Zeichen der Versöhnung setzen. Ich würde meinen Brief hinterlassen und außen am Kuvert schreiben, am folgenden Tag die Antwort abzuholen. Vielleicht, so wagte ich kaum zu hoffen, würde mich meine Mutter sogar mit offenen Armen empfangen. Menschen ändern sich in so vielen Jahren. Letzter Abschied oder gemeinsamer Neuanfang. Jedenfalls Klarheit. So ging ich zur Wohnung meiner Mutter und hatte schon den Finger an der Klingel.
Da hielt ich inne und wog den Brief nochmals in Händen, als ob ich so seinen Inhalt ermessen könnte. Dann entschied ich mich dafür, ihn gut sichtbar auf das Fensterbrett neben der Tür zu legen. Zuvor fuhr ich zärtlich mit dem Finger über die Oberseite – im Gedanken, dass somit aus meiner Sicht alles gesagt sei. So würde der Brief sicherlich gefunden werden und damit die Frage beantwortet werden, ob eine Versöhnung möglich wäre.
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Alles gesagt (II)
Viel Zeit war verronnen. Der Schmerz verging. Es blieb der Makel, eine schlechte Mutter zu sein. Obwohl mein Sohn damals längst erwachsen gewesen war. Einmal habe ich ihn besucht, ohne dass jemand etwas davon erfuhr. Vielleicht hatte ich gehofft, dass sich alles als Justiz-Irrtum herausstellte. Oder dass er zu allem gezwungen wurde. Aber er gab alles zu. Er müsse jetzt dafür bezahlen, sagte er. Nicht nur du, dachte ich. Nicht nur du! Ich vergönnte ihm die folgenden Jahre im Dreck.
Als ich diesen Ort des Schmutzes verließ, wusste ich, dass ich alles hinter mir lassen musste, um weitermachen zu können. Ein neues Leben sollte beginnen, mit einer neuen Familie. Eine saubere Zukunft. Ohne Zurückschauen, ohne Schuld oder Anlass für Reue.
Jeder Finger, der auf mich zeigte, wies mir den Weg fort von Vergangenem. Es gab keine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Das kann nicht mein Sohn sein, dachte ich. So habe ich ihn nicht erzogen. Er gehört nicht mehr zu uns. Das Geschäft meines Mannes litt unter dem Stigma, einen Schwer-verbrecher in der Familie zu haben. Mein Mann wurde depressiv, begann zu saufen. Es wurde so schlimm, dass er keinen anderen Ausweg sah als den Strick.
Damals hatte ich gelernt, was Einsamkeit war. In einer Welt der Scheinmoral stand nun niemand mehr hinter mir. Geblieben waren mir Erinnerungen, die mich zuerst trösteten, mich dann aber quälend auf das bittere Jetzt hinführten. Die Zeit, dachte ich damals noch, würde alles ins Lot bringen. Doch die Veränderung kann nur im Innern stattfinden. Man muss sich vollständig lösen von allem, was war, wenn sich etwas ändern soll.
Das funktionierte auch über Jahre hinweg gut. Bis ich einen Brief vor meiner Wohnung fand, mit der Schrift des Mannes, der mein Sohn gewesen war. Sollte ich ihm antworten? Breit erklären, warum ich mich nicht mehr von den Geistern der Vergangenheit hetzen lassen wollte? Dass meine Angst vor neuerlichem Schmerz größer war als das Bedürfnis, ihm alles Gute zu wünschen? Ich gab dem Impuls nach, den Brief ungeöffnet in zwei Teile zu reißen und ging damit zum Mülleimer.
Da hielt ich inne und wog den Brief nochmals in Händen, als ob ich so seinen Inhalt ermessen könnte. Dann entschied ich mich dafür, ihn gut sichtbar auf das Fensterbrett neben der Tür zu legen. Zuvor fuhr ich zärtlich mit dem Finger über die Oberseite – im Gedanken, dass somit aus meiner Sicht alles gesagt sei. So würde der Brief sicherlich gefunden werden und damit die Frage beantwortet werden, ob eine Versöhnung möglich wäre.