Als ich nichts sagte

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Anonym

Gast
Ich sagte nichts, als die Lehrerin meines Sohnes während der Klassenpflegschaftssitzung seine missratene Hausaufgabe als abschreckendes Beispiel vorlas, zwar ohne Namensnennung, aber sie wusste, wer die Mutter dieses Schülers war. Ich sagte nichts, als der Arzt mir in einem Satz erklärte, dass meine Schwangerschaft nicht intakt sei und das unterversorgte, dreizehn Wochen alte Gewebe, nicht Kind, weg müsste. Ich sagte nichts, als meine Schwester ihre angeblich beste Freundin zur Trauzeugin auswählte und mich stillschweigend überging.

Ich sagte nichts, als eine Bekannte befand, dass ein schwerbehinderter Junge in meinem Firmunterricht nicht zu suchen hätte und weswegen er das Sakrament überhaupt empfangen sollte. Ich sagte nichts, als mein damaliger Freund mit einer anderen tanzte und mich unbeachtet ließ, um die Beziehung auf diese Weise endgültig zu beenden. Ich sagte nichts, als der Priester die Tür mit dem Hinweis auf seinen freien Tag schloss und die Ministrantengruppe, die zur Probe erschienen war, stehen ließ. Ich sagte nichts, als mir Professor G. empfahl, das Studium auf der Stelle zu beenden, da ich die deutsche Sprache mit Füßen träte.

Ich sagte nichts, als mir der Arzt riet, mich dringend untersuchen zu lassen, da ich auf Grund der Familienanamnese ein Aneurysma im Kopf haben könnte, welches bei einem Platzen zum sofortigen Tod führe.

Situationen in meinem Leben, in denen ich nichts gesagt habe. Aus Angst, aus Scham, aus dem Gefühl heraus, der andere sitze am längeren Hebel, auch aus Überrumpelung und unter Schock. Dann war es wieder da, das nichtssagende und nichts sagende, schüchterne Mädchen, das ich im Grunde meines Herzens immer noch bin. Trotzdem ärgere ich mich heute darüber, damals nichts gesagt zu haben.

Der Weg zu einem anderen Verhalten dauert lang und ist schwer. Manchmal kann ich noch immer nichts sagen. Aber etwas hat sich grundlegend geändert. Jetzt kann ich darüber schreiben.
 

molly

Mitglied
Hallo Du,

""Trotzdem ärgere ich mich heute darüber, damals nichts gesagt zu haben.""

Das musst Du nicht. Oftmals bleibt einem doch das Wort im Hals stecken, oder schluckt mal lieber eines runter oder findet das rechte Wort nicht; es kommt auf die Situation an.
Und ein schüchternes Mädchen ist eben nicht immer schlagfertig.
Ich kenne das und fühle mich immer wieder mal schüchtern.

"Jetzt kann ich darüber schreiben."

Das ist ein guter Weg zur "Wortfindung", und kostete sicher auch Überwindug am Anfang. Also schreiben wir weiter.

Dir ein gesegnetes Osterfest und viele Grüße

molly
 

revilo

Mitglied
ein Text über Jemanden,der/die sich wohl endlich beginnt zu befreien.....Thema gut, Ausführung weniger......

LG und frohe Ostern von revilo
 

Anonym

Gast
Vielen Dank Molly und Revilo! Warum ist die Ausführung weniger gelungen? Ebenfalls frohe Ostertage von A.
 



 
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