Anarchie

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Anarchie


Ich habe einen Mann erschlagen, weil ich Hunger hatte, aber ich fand nur elf Euro in seinen Taschen und Zettel voller Notizen und Gedichte.
Trotzdem bin ich satt und betrunken.
Es ist warm, kurz vor Sonnenaufgang, und ich lese die Aufzeichnungen meines Opfers.
Blutig versinkt der Mond wie ein Tampon im Klo.
Und ich bin müde, denn ich sah zu viele Menschen sterben.
Ich könnte sie addieren, zu einer Summe, die an die Fleischhügel Treblinkas nicht heranreicht, aber immerhin eine dreistellige Zahl ergibt, und zahlreiche Nächte ohne Schlaf.
Mich trifft keine Schuld. Ich habe sie nicht ermordet, nur gepflegt.
Aber rein ist mein Gewissen nicht, angesichts Mutter Naturs maßloser Verschwendung, in der sie gebiert und tötet, frisst und kotzt, und pendelt zwischen Schüttelkrampf und Magersucht, zum Anbeten vergoldet, mit Hörnern verziert.
Eiter rinnt aus ihren Brustwarzen und bedeckt die Vorhöfe mit gelblichen Krusten.
Kinder lächeln ihr grindiges Lächeln.
Freitag gibt es Fisch!
„Hoffnung! Wir wollen Hoffnung! Gib uns Hoffnung!“ schrien die Leute, und der Dichter auf der Bühne zitterte und schwitzte.
„Ich bin doch kein Gott! Ich weiß nicht mehr als ihr!“ entgegnete er vorsichtig.
„Dann halt die Schnauze! Wir haben bezahlt, und wir kriegen, was wir wollen!“ lautete die Antwort.
„Ihr wisst nicht, was ihr wollt! Es gibt überhaupt keinen Willen!“ schrie nun der Dichter trotzig zurück. „Unter diesen Bedingungen lese ich kein Wort mehr!“
„Dich machen wir fertig!“ beschlossen sie und stürmten die Bühne.
Der Dichter dachte an den Brei der Brüder Grimm und an Flucht, aber zwei Bewaffnete versperrten ihm den Weg.
„Stehenbleiben! Gedankenpolizei!“ sagten sie und hielten die Menge in Schach. Dann befahlen sie Ruhe, damit der Dichter verhört werden konnte.
„Wollen sie wirklich behaupten, sie hätten keinerlei Lösung anzubieten?“ fragte der ranghöhere Polizist ungläubig.
„ Nicht mehr als sie!“
„ Und sie nennen sich Dichter und nehmen dafür Geld?“
„ Ja!“
„ Das ist doch Betrug! Da können wir nichts machen, tut uns leid!“
Sie schüttelten die Köpfe und setzten sich Kapuzen auf, die sie aus der Hosentasche zogen, legten sich gegenseitig Handschellen an, und ließen sich über den ultramarinblauen Teppich zum Ausgang begleiten. Dann fiel die Menge über den Dichter her, und jeder wollte der Erste sein, denn ein Künstler besitzt ein begrenztes Repertoire.
Sie schlugen und traten ihn, bis er sich nicht mehr wehrte.
Sofort stritten sie um die Leiche und schnitten alles weg, was abstand, Finger, Zehen, Ohren, Nase, Brustwarzen, die Lippen und sein Geschlecht. Das brachte ein junges Paar an sich. Sie sahen sehr verliebt aus.
Die Leute waren so wütend, dass sie ihm die Haut abzogen, und ein tiefes T in seinen Rumpf schnitten, um ihn auszuweiden, lege artis.
Am nächsten Morgen hatten sich die Gemüter abgekühlt.
Das Blut war getrocknet, der Teppich ruiniert.
Auch ein mageres Schwein hat die Anlage herum zu toben.
Wiederstand ist zwecklos. Ich sehe keinen Ausweg, nur glattgestreckte Straßen, geometrische Muster und nirgends Platz, sich zu verstecken.
Wohin gehen die Tiere, und nehmen sie mich mit?
Wohin gehen, wenn nicht bleiben?
Bereust du unsere Sünden, bodenlos und ohne Grund?
Die Schlange schläft im Sonnenschein.
Sternschnuppen schauen zum Fenster rein.
Mutter trägt Halbmonde aus Dreck unter ihren Nägeln.
„Er war ein sinnlicher Mensch, aber er hat zu wenig gelacht!“
„Er konnte nicht spielen!“
„Schreiben konnte er auch nicht!“
„Wenigstens war er gut im Bett!“
„Und du glaubst, das reicht?“
So könnte meine Beisetzung verlaufen. Freunde, Bekannte und
Verwandte, die ich mir allesamt nicht ausgesucht habe, stehen vor dem Loch, in dem mein Sarg liegt, und reden den üblichen Mist über mich, wenn ich nicht dabei bin. Und in der Tat, es lässt mich kalt. Aber vielleicht habe ich auch Glück und werde beiläufig von einem Panzer in den Boden gerollt, im Bürgerkrieg oder ich werde dehydriert,
und eine Elfe erfüllt mir sieben Wünsche, da Katzen neun Leben haben, und ich zwei schon verbraucht oder verspielt habe, wie mans nimmt.
Ich wünschte mir Glück und Frieden, die Haltung eines Narren
und Stellung eines Künstlers, eine Frau und zwei Katzen.
Ich bezahlte mit meinen restlichen Leben. Meine Seele wollte die Elfe nicht.
Und das ist der Grund, warum ich keine Kinder will, und sollte ich jemals welche bekommen, werde ich mich schuldig fühlen, denn ich besitze keine Entschuldigung.
Wenn Pinocchio lügt, wächst sein Wahnsinn.
Kommunikation ist Krieg, der Gott der Kunst ein Dieb.
Der Mond versinkt im Klo, blutig wie ein Tampon.
„Ich will nur deine Liebe!“ sagte sie. “Ich bin anlehnungsbedürftig, wenn ich meine Tage habe! Nur deine Liebe!
Sie war wie eine Schwester, und ich gab ihr mehr.
Schlammüberkrustet schlief ich ein, und am Morgen, als ich aufwachte, war der Schlamm getrocknet, und draußen lag Schnee.
Die Heckenrose birgt den Heckenschützen, und man weiß nie wann Schluss ist.
Ich habe vor Hunger einen Mann erschlagen, und jetzt bin ich satt.
 

Rainer

Mitglied
hallo black sparrow,

bis auf wenige ausnahmen gefällt mir dein text. assoziationsreich, aber trotzdem gerade noch fluffig.

die ausnahmen:

eigentlich lese ich keine texte, in denen sich der prot in einem normalen umfeld über seine qualitäten im bett ausläßt. diese selbstdefinition würde ich substituieren.

anarchie. nee, der titel gefällt mir überhaupt nicht. wie sich der bürger die anarchie vorstellt klingt zwar an, aber es bleibt mir zu unterschwellig, welche intention du mit diesem titel verbindest. die gedankenpolizei kommt mir dagegen zu direkt; ich denke, hier kannst du problemlos die normale polizei (nicht) walten lassen.

vielleicht stört mich daran auch nur die momentane antidehydratationshysterie (ich weiß, das heißt sogar in den nachrichten und bei ärzten dehydrierung. aber es fehlt nicht wasserstoff, sondern wasser; und entwässerung heißt nun mal dehydratisierung - ist aber ein anderes thema), aber dieses wort gefällt mir nicht. nimm einen anderen mit der aufnahme bzw. nichtaufnahme verbundenen tod, z.b. ersticken würde es umfassender machen. im moment gefällt mir gerade ersaufen am besten, schließlich ersaufen wir in hoffnungsschwangeren andeutungen.

aber trotz aller meckerei: ein gewinn für die ll

grüße

rainer
 
hi black sparrow,

wenn ich jetzt schreibe, dass mir der text gefällt, so fasse es nicht als eine art "opportunismus, pragmatismus" oder sonst einen "ismus" auf - NEIN es geschieht aus sympathie für die "anarchie" in deinem text.
nur das mit dem "T" habe ich nicht verstanden.

so long
 

knychen

Mitglied
ohne

hallo black sparrow,
obwohl der text sehr nach drogen klingt und nach meiner auffassung viele deutungsmöglichkeiten zuläßt, paßt die mitklingende hektik sehr gut zur hitze der vergangenen tage. laß zwei monate fünfunddreißig grad im schatten brennen und du wirst erstaunt sein, welche monster aus dem sonst so normalen bürger kriechen. exzellent das nüchterne fazit am anfang und am ende deines textes, wer weiß, wozu mensch fähig ist,wenn er WIRKLICH durst und hunger hat.
gruß aus berlin
knychen
 
Danke für eure Kommentare, auf die ich eingehen möchte.

Zunächst mal an Rainer:
Was das " im Bett" angeht, hast du natürlich völlig recht,
und das einzige, was ich damit erreichen möchte, ist ein Schmunzeln, ich hätte nicht gedacht, dass das ernstgenommen
wird! Was könnte ich noch zu meiner Rechtfertigung sagen?
Dass es Sätze aus einem tatsächlichen Gespräch sind?
Das ich das nicht selber sage, und es nur die Aufzeichnungen
eines/meines Opfers sind?
Es ging nicht anders und kommt nie wieder vor,versprochen!

Anarchie meint weniger die politische Funktion des Wortes,
als die physiologische, nämlich die anarchische
Funktion des Gehirns.

An die Glasperlenspielerin:

Ein T wird bei einer Obduktion in den Torso geschnitten,
um ihn zu öffnen. Ist kein schöner Gedanke, ich weiß.

Und Knychen, wieso denkst du an Drogen?
So was kommt raus, wenn man sich selbst beim Denken zusieht.
Ich glaube eben, dass der menschliche Verstand kompliziert ist und dass für manche Geschichte die lineare Erzählstruktur nicht ausreicht. Aber dafür muss ich keine Drogen nehmen.
Vielleicht braucht man Drogen, um den Text zu verstehen.
Da bin ich nämlich auch überfragt,
so ziemlich jedenfalls.

Ich wünsch euch ein schönes Wochenende

black sparrow
 

Renee Hawk

Mitglied
ich habe es mit Spannung und Freude zugleich gelesen, die Freude daher, weil ich deine Texte sehr mag und froh bin, dass du trotz der vielen negativen Gedanken viele positive Ansätze drin hast.
Dabei fiel mir ein Satz besonders auf, für mich eine Art Schlüsselsatz:
"Ich wünschte mir Glück und Frieden, die Haltung eines Narren und Stellung eines Künstlers, eine Frau und zwei Katzen."
Ich interpretiere darin, Ursprung des Dasein, Rückblick auf Zukünfiges und hoffnungsvolles Sehnen nach der Erfüllung.

Black, ich mag nicht nur diesen Text, auch die vielen andere, wie die Lyrik mit dem alten Mann, der die Rolltreppe nicht benutzen will, oder Henry, auf dessen Fortsetzung ich schon ein Jahr warte.
Wenn ich nicht viel zu deinen Texten sagen, dann liegt das daran, dass du mich zu meist sprachlos machst (im positiven Sinne).

Ich wollte nur, dass du weißt, auch wenn ich nichts sage, lese ich doch alles von dir oder "Du entkommst mir nicht" ;)

Sei lieb gegrüßt und herzlich umarmt
Reneè
 

Daria

Mitglied
Hallo black sparrow,

ich habe mir vorgenommen, etwas von dir zu lesen und fand sogleich das hier. Mehr als "ausgezeichnet" fällt mir gerade nicht ein, du schreibst das, was mich beschäftigt, so, wie ich es nicht kann, nur manchmal, wenn mich der Wahnsinn überfällt, was mir hier ja niemand verzeiht, (siehe mein ganz spezielles Gedicht). Über einige Kritiken wie so manche über genau dieses Werk, haben wir ja schon gesprochen, ich denke, mehr als "Da haben wir's wieder", brauche ich nicht zu sagen.
Verwirrend, subtil, keine Ahnung, ob ich es richtig deute, aber ich empfinde es so, kurz: das lade ich mir als e-book herunter.

Gruß
Daria
 
D

Daktari

Gast
geteilt

Hi!

Der Text ist sprachbildlich gesehen eine echte Fundgrube. Man kann massenweise Parallelen ziehen. Nur mir ist er zu hart, zu blutig. Aber das ist meine Meinung, die hat mit der Qualität des Textes nichts zu tun.

Ciao
Tim
 



 
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