Anders

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Chrisch

Mitglied
Anders

Im Augenblick ist die politische Lage wirklich ziemlich chaotisch.
Uns geht es anscheinend zu gut. Jetzt wollen sie schon wieder die Arbeitszeit verkürzen. Erst vor zwei Jahren wurde durchgesetzt, dass nur noch vierzehn Stunden pro Tag gearbeitet werden muss und nun sollen es nur noch zwölf sein. Außerdem steht der Sonnabend schon auf dem Plan. Der soll ja auch noch frei sein. Das wäre dann von einer vierundachtzig auf eine sechzig Stunden Woche. Wie unsere Familie damit auf einen grünen Zweig kommen soll ist mir schleierhaft. Ich hoffe deshalb, dass es nicht auf Kosten des Lohns geht. Gestern hat mir ein Kollege gesagt, dass er mit der vielen Freizeit gar nichts anzufangen weiß. Zwölf Stunden vorm Fernseher hält sein Hinterteil nicht aus und Spaziergänge von mehr als vier Stunden, da halten seine Sandalen nicht lange durch.
Dazu kommt, dass wir uns Sorgen um meine Mutter machen, die uns erzählt hat wie sie sich seit einiger Zeit immer öfter hinlegen muss, um sich auszuruhen, immerhin ist sie erst Mitte fünfzig. Insgeheim aber denke ich schon, dass es mit ihr wohl bald losgehen wird und ohne es zu wollen habe ich mich nach einem Schlafplatz für sie flüchtig umgeschaut. Vorsorgen sollte man ja schon ein wenig. Gerade neulich habe ich einen sehr schönen Bericht über die neue Schlafstadt in Brandenburg gelesen. Da können sich die Verwandten wunderbar aufhalten und Wochenenden genießen. Es ist alles vorhanden und auch die Schlafplätze sind wie Wohnzimmer eingerichtet. Ein großer Schrank für die Wäsche und ein bequemes riesiges Bett, sowas kann man sich in den normalen kleinen Wohnungen gar nicht hinstellen. Die Schlafenden werden jeden Tag angekleidet, gewaschen und gefilmt, wenn die Eine oder der Andere unerwartet aufwacht. Das kann man sich dann später bequem anschauen. Viele Besucher bleiben gleich einige Tage, meist in der Hoffnung ihre Lieben noch einmal sprechen zu können. In den ersten Jahren ist das zwar nichts Ungewöhliches aber später geschieht es eben doch nur noch selten.
Forschungsberichte von früheren Zeiten, erzählen uns ungleich Schlimmeres. Abgesehen von den Nomadenvölkern, die ihre Schläfer auf Bäume gelegt oder mit Steinen vor wilden Tieren geschützt aber zurückgelassen haben, taten sich die Menschen vor hundert Jahren auch schon schwer mit der Ernährung von alleinstehenden Schläfern, die oft nur noch zwei mal in der Woche aufwachten. Laut Untersuchungen neuester Art, gibt es immer mehr alte Menschen, die inkontinent sind oder kaum noch erwachen, um zu Essen und zu trinken. Das soll mit dem steigenden Schlafeintrittsalter zu tun haben, das wiederum daran liegen soll, dass die Menschen einfach immer älter werden.
Inzwischen wird die Nahrungsaufnahme und alles was dazu gehört professionell und unauffällig geregelt. Es war schon eine enorme Belastung, in den Großfamilien, wenn Mutter und Vater langsam zu Dauerschläfern wurden. Klar wollen die Radikalen einfach die Spritze, aber nach einem langen intensiven Leben, haben es sich die alten Menschen doch wohl verdient, nicht wie lahme Pferde eingeschläfert zu werden.
Im Augenblick haben wir aber Anderes zu tun; denn seit dem unsere Tochter bei uns ist, sind die Prioritäten plötzlich ganz andere.
Noch darf sie zwar an Mamas Brust nuckeln, aber ich packe den Koffer oder besser die Tasche für unsere Kleine. Die Schultüte macht dann die Mama fertig.
Nun beginnt für Karin der Ernst des Lebens, wie es so schön heißt. Uns kam ja die eine Woche seit der Entbindung viel zu kurz vor, aber das geht bestimmt allen Eltern so, die die Zeit mit dem Kind genießen wollen, bevor es eingeschult wird.
Wir sehen natürlich ein, dass die Kinder so früh wie möglich Unterricht bekommen und auch mehrsprachig aufwachsen, was ich für meine Person deutlich vermisse.
In den zur Zeit wichtigsten Weltprachen muss man sich schon zu hause fühlen. Chinesisch, Russisch, Englisch, Spanisch, Französisch und sogar zusätzlich Esperanto, wenn man wirklich mal mit jemandem zu tun hat, der zum Beispiel ansonsten nur Suaheli spricht.
In den Schulen wird jeden Tag eine andere zur Unterrichtssprache gemacht. Den Kindern fällt das gar nicht auf, weil sie ja, wie unsere kleine Karin Amaya Ramona Chantal Sibylle die Sprachen schon lernen, während sie noch am Fläschchen saugen.
Liebevoll verfrachte ich meine Frau mit dem Kind in unser Auto. Wir malen uns, während der Fahrt zur Schule, das zukünftige Leben der Kleinen aus. Die Gentests haben uns gezeigt, dass sie hochintelligent und mathematisch-naturwissenschaftlich begabt ist. Das soll natürlich bestmöglich gefördert werden.
Wenn ich meine Familie im School-Center abgeliefert habe, fahre ich gleich weiter zur Universität, um Karin Amaya Ramona Chantal Sibylle anzumelden, damit sie auch sicher, in 10 Jahren, einen Platz erhält. Es wird ein sehr schönes spannendes arbeitsreiches Leben werden, was Karin Amaya Ramona Chantal Sibylle da vor sich hat. Wir freuen uns, ihr dies alles ermöglichen zu können. Es ist doch ungemein beruhigend, einen Nachkommen zu haben, der es weit bringen wird, so dass wir keine Sorge vor unserer Schlafphase haben müssen, aber das ist ja glücklicher Weise noch eine paar Jahre hin.
Dann muss ich aber auch wieder ins Büro, in der Firma arbeite ich seit fünf Jahren, was wirklich schon fast eine Ewigkeit und sehr ungewöhnlich ist, deshalb bekomme ich bald einen Treuebonus, der aber leider den Altersminusbetrag nicht auffangen wird. Klar ist, dass man mit steigendem Alter nicht mehr so leistungsfähig ist und deshalb bekommt jeder ein bis zwei Prozent weniger Gehalt pro Jahr. Das waren noch Zeiten als ich, nach dem Studium, mit zehntausend Euro Grundlohn am Bankschalter anfing, genug, um bald eine Wohnung, Auto und Sonstiges, was ich zum Lebensstart benötigte anschaffen zu können. Inzwischen arbeitet fast jeder direkt von zu Hause aus. Meinen Arbeitsplatz besuche ich nur noch einmal in der Woche, was eigentlich auch nicht mehr nötig wäre. Unser Chef ist nämlich von der alten Garde und somit tun wir ihm den Gefallen.
Aber jetzt muss ich mich beeilen, wenn sie noch Fragen haben, können sie ja später wiederkommen oder besser, besuchen sie uns doch in ein paar Jahren am Wochenende in der Schlafstadt Brandenburg zu unserem Familientreffen. Das wird eine schöne Sache werden, dann können sie mal Leute sehen, die so viel Zeit haben, dass sie meist den ganzen Tag schlafen können.
"Hallo Liebling, kommst du? Wir müssen los!"
 
B

bluefin

Gast
mein lieber @chrisch,

deine geschichte schildert eine zukunft, die's bereits in der gegenwart gibt. du bemühst dabei keine reißerischen phantasmagorien, wie das fantasielose stümper im sci-fi-genre gerne tun, erzeugst also nicht schrecken, sondern leise daherkommende beklemmung.

eine der wirkungsvollsten übertreibungen ist die untertreibung. die amerikaner nennen sowas "understatement". du zeigst uns, dass es sowas - "schrecklich gut" gemacht - auch auf literarischem gebiet gibt.

prima!

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Chrisch

Mitglied
@Ralf
Danke, aber was hat deiner Meinung nach gefehlt oder was nicht gestimmt oder waren es die Worte?
Jedenfalls freue ich mich sehr über deine 8 Punkte :)
 
S

suzah

Gast
hallo chrisch,
sehr gern gelesen, eine der besten geschichten, die z.zt. in der lupe stehen.
liebe grüße suzah
 



 
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