Ansichtssache

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"Wenn das mein Mann wäre, würde ich ihn rausschmeißen!" Lucie sieht mich missbilligend an. Sie sitzt mir im Café gegenüber und hat einen ihrer zweijährigen Zwillinge, Oliver, auf dem Schoß. Der andere, Ronald, sitzt brav in seinem Buggy und gibt ab und zu ein vergnügtes Jauchzen von sich.
"Was für süße Kinder!" denke ich und fahre Ronald sanft mit der Hand über den Kopf. Lucie lächelt stolz, als sie das sieht, aber dann verfinstert sich ihre Miene wieder.
"Du willst deinem Mann das doch wohl nicht durchgehen lassen!"
"Ansichtssache. Es ist ein kalkuliertes Risiko bei einer offenen Beziehung", antworte ich freundlich. Wie erwartet, kommt dieser Satz bei Lucie gar nicht gut an.
"Kalkuliert? Dieter weiß wohl nicht, was ein Kondom ist oder was? Und überhaupt - offene Beziehung! Du weißt ja, was ich davon halte", empört sie sich. Das weiß ich in der Tat. Und deswegen versuche ich auch nicht noch ein zweites Mal, Lucie zu erklären, dass Dieter und ich mit dieser offenen Beziehung glücklich sind und dass ich genau so "fremdgehen" darf wie er, wenn ich will. Ich habe nur keine Lust dazu. Aber ich will Lucie erklären, dass die nun entstandene Situation nicht Dieters Schuld ist.
"Sie hat ihn doch reingelegt, hat ihm erzählt, sie nimmt die Pille." Diese Erklärung habe ich mir für unseren Freundeskreis zurechtgelegt.
"Und das hat er mal einfach so geglaubt? In seinem Alter sollte er das besser wissen!"
Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Dieter ist 32, also mal gerade sieben Jahre älter als Lucie und für sie wohl schon ein Urgreis. Aber sie ist ja auch die Jüngste in unserer Freundesclique.

Lucie nippt an ihrem Kaffee und wehrt gleichzeitig Oliver ab, der nach ihrer Tasse greifen will. "Ich kann dich nicht verstehen", seufzt sie dann. "Dass du dabei so ruhig bleibst! Du weißt ja wohl, dass sich alle das Maul über euch zerreißen? Sogar meine Mutter hat mich gefragt, ob das wahr ist. Eine andere kriegt ein Kind von deinem Mann und dir ist es egal!"
"Das Kind ist mir nicht egal. Was die Leute sagen, schon." Ich werfe einen Blick auf Ronald, der in seinem Buggy allmählich unruhig wird. "Sollen wir nicht noch auf den Spielplatz gehen?"
Ganz offensichtlich überlegt Lucie, ob sie noch etwas zu meinem "Problem" sagen soll, doch dann lässt sie das Thema fallen und wir machen uns auf den Weg zum Spielplatz. Während wir die Zwillinge dort auf die Schaukel setzen und sie anstoßen, was von ihnen mit Begeisterung quittiert wird, denke ich an das Gespräch mit dem Arzt vor einem Jahr zurück.
"Es tut mir sehr leid, Frau Hoffmann, aber Sie können keine eigenen Kinder bekommen", hatte er gesagt. Dann folgte irgendeine Erklärung über meine Unfruchtbarkeit, die ich vergessen habe. Es ist auch nicht weiter wichtig.

Wichtig ist, dass Dieter bald ein Kind haben wird und es öfters bei uns sein wird.
Wie gut, dass ich Dieter zu der offenen Beziehung überredet habe. Und seiner Freundin erzählt habe, dass er zeugungsunfähig sei.

Nein, mir ist das alles nicht egal. Ich freue mich wahnsinnig.
 

MicM

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

gefällt mir gut! Kontroverse Lebenseinstellungen und eine kleine Pointe auf engstem Raum einer gelungenen Kurzprosa stimmig eingefangen!

Und Recht hat die, die das Leben bejaht.

Auf bald,
MicM
 



 
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