Anthropomorphismus

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Mahaleb

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Es war ein ganz normaler Montag, an dem der Hund Henry gehen lernte. Nicht, dass er nicht schon vorher laufen konnte, aber eben nicht auf zwei Beinen. Mutter Kauer beäugte die Gehversuche des Hundes kritisch, „Gehen gehört sich nicht für einen Hund“ pflegte sie immer zu sagen, und Vater Kauer stimmte ihr da gerne zu. Vater war meistens nicht Willens, seine Meinung der Öffentlichkeit zur Diskussion zu überlassen, und nutzte daher gerne Mutters Meinung.

Der Hund Henry fiel anfangs noch häufig hin, so ein Hundekörper ist nun mal nicht dazu gemacht, auf zwei Beinen zu gehen. Aber mit der Zeit schienen sich seine Hinterbeine zu strecken und seine Zehen größer zu werden.

Die Kinder der Kauers spielten ausgesprochen gerne mit dem zweibeinigen Hund. Er durfte dann Aliens mimen, die den Planeten Erde einzunehmen drohten, oder die Mongolen, die China angriffen.
„Henry, du musst jetzt in diese Ecke, und dann mit lauten Gekläffe dort rüber laufen, und versuch an Felix vorbeizulaufen, um an den Schatz der Chinesen zu kommen (der Schatz der Chinesen war übrigens ein Stein, den die Kinder aus dem Vorgarten ausgegraben hatten und mit allerlei Glitter und Goldfolie beklebt hatten), aber du darfst ihn natürlich nicht kriegen, denn vorher kämpfen wir gegen dich und siegen natürlich!“
Der Hund Henry wurde so zum besten Freund der Kinder. Sie hatten endlich jemanden, der zuverlässig und ohne zu Murren die Rolle des Verlierers spielte.

Als Felix und Nils Kauer eines sonnigen Dienstags von der Schule nach Hause kamen, wartete der Hund Henry bereits auf sie.
„Wuff wuff“ sagte der Hund und rannte auf die Kinder zu. Er hat eine Augenklappe an und wollte offensichtlich Seeräuber spielen.
„Henry, Mutter wartet schon mit dem Essen auf uns. Wir müssen später spielen.“, sagte Felix.
„Wuff“, sagte der Hund und schaute dabei ganz besonders traurig.
Die Kinder gingen ins Haus, der Hund Henry folgte ihnen, und setzte sich auf Nils Platz am Tisch.
„Hunde haben am Tisch nichts zu suchen!“ schrie Mutter natürlich direkt, um den Konventionen zu entsprechen.
„Aber Maamaa, bitte lass Henry mit uns essen! Er ist doch mein bester Freund“. Nils hatte heute Geburtstag, und außerdem konnte er noch viel herzerweichender gucken als der Hund Henry, und deswegen blieb es so: Henry saß mit den Kauers am Tisch, auf Nils Platz, Nils setzte sich auf den freien Stuhl am Ende des Tisches und dann tischte Mutter Klöße und Sauerkraut mit Speck auf. Nils hasste Speck.
Es wurde gebetet und dann gegessen. Der Hund Henry aß mit seinen Pfoten. Mutter sagte, dass der Hund doch wenigstens Besteck verwenden könnte. Henry nahm den Löffel. Mutter nickte zufrieden. Felix nahm noch einen Kloß. Nils fragte sich, ob der Speck wohl in seine Nasenlöcher passen könnte.
„Wenn Henry das Besteck benutzt, dann finde ich, dass er dann auch Nachtisch verdient hat, findest du nicht auch, Manfred?“. Mutter schaute Vater auffordernd an. Vater nickte und fragte sich, ob er es wagen sollte, an seinen Achsel zu riechen. Er hatte den Verdacht, heute mehr zu stinken als sonst. Mutter nickte zufrieden und stand auf, um den Nachtisch zu holen. Vater roch an seinen Achseln. Nils steckte sich den Speck in die Nasenlöcher.
Es gab Vanilleeis mit heißen Himbeeren zum Nachtisch. Extra für Nils, weil er Geburtstag hatte.
„Das hab ich extra für dich gemacht, mein kleiner Schatz, weil du doch heute Geburtstag hast!“ flötete Mutter und wartete auf ein Dankeschön von Nils. Der Speck in Nils Nase kitzelte und Nils war sehr damit beschäftigt, nicht niesen zu müssen. Vater überlegte, ob er vielleicht ein anderes Deodorant benutzen sollte.
„Henry, kannst du mir bitte helfen, die Teller zu verteilen?“ Henry stand auf und verteilte die Teller mit dem Eis. Er gab sich selbst die größte Portion. Alle setzten sich wieder, und dann musste Nils niesen. Der Speck spritzte aus seiner Nase und flog in einem hohen Bogen auf den Fußboden. Der Hund Henry sprang auf und lief auf allen Vieren über den Tisch und trat dabei in Vaters Eis hinein und stürzte sich auf den Speck.
Vater schaute sich den Tatzenabdruck auf seinem Eis an und beobachtete, wie die Himbeersoße gravimetrisch dorthin lief, wo sich der Fußballen des Hundes abzeichnete. Mutter schrie.
„Nun, ein Hund bleibt nun mal doch immer ein Hund“ dachte Vater.
 



 
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