Apfelstrudel

Apfelstrudel


„Robert, noch ein Stück Apfelstrudel?“
Tina Vilsberg kann nicht stillsitzen. Sie inspiziert die Tassen, huscht in die Küche, räumt dann schon die ersten Teller ab.
Robert hat sich drei Bissen Mohnkuchen aufgezwungen. Mareike füttert den Neffen auf dem Schoss mit Schokoladentorte, sie hat für den heutigen Anlass gebacken.
Frank Vilsberg sitzt am Ende des Tisches, die gewienerten Scheiben der Erkerfenster im Rücken und mit noch dünnerem Haar, als Robert es in Erinnerung hatte.
Die fünfzig Kerzen haben nicht auf die Torte gepasst. Stattdessen hat Mareike „Herzlichen Glückwunsch“ mit roter Zuckerschrift geschrieben.
Frank Vilsberg kaut den Bogen des Hs, als sich alle Augen auf Robert richten, bisher nur anwesend, mit der öffentlichen Frage seiner Mutter, nun im ängstlich erwarteten Mittelpunkt.
Er schüttelt den Kopf.
Sein Vater kaut, dann lässt er die Gabel wie eine Fahne im Tortenrand stecken und spült aus der Tasse die braunen Flecken von seinen Zähnen.
„Ja, Robert, was gibt es eigentlich Neues bei Dir?“
Der Sohn räuspert sich, blickt zu Mareike. Er klemmt seine Handflächen zwischen die Oberschenkel.
„Nicht viel.“
Neffe Dennis patscht nach dem Teller und verschafft dem Gefragten einige Freiminuten.
„Nicht viel, aha“, murmelt der Vater, wendet sich wieder der Gabel zu und Robert glaubt sich in Sicherheit, bis Frank Vilsberg nachsetzt: „Wie läuft´s bei deiner Umzugsfirma? Und wohnst du immer noch bei diesem Matthias?“
Er kann nicht antworten.
„Warum sitzt du hier die ganze Zeit in Jacke? Hast du vor, gleich wieder zu gehen?“
„Lass ihn doch!“, sagt die Mutter, Kaffee nachgießend.
Klein Dennis quengelt ums Runterdürfen.
„Du hättest bei Jürgen anfangen sollen", sagt der Vater und winkt mit der Gabel zum Schwiegersohn. „Da hättest du Aufstiegschancen und ein gutes Gehalt gehabt. Mareike kann sich glücklich schätzen, so ein ordentlicher, fleißiger Ehemann, wie Jürgen ist. Schade, dass du die Chancen, die sich dir bieten, nie zu nutzen weißt.“
„Nicht heute, Frank“, sagt die Mutter. Sie drückt Roberts Schultern, wie früher, als es noch Taschengeld und Schläge mit dem Hausschuh gegeben hatte.
„Nun erzähl schon, wo wohnst du denn jetzt?“ Der Vater schaltet zu Liebe seiner Frau herunter und fragt das mit einem halbgutmütigen Lächeln, das auf sein Gesicht gepresst ist.
„Bei nem Freund“, sagt Robert.
Er bekommt den ersten Schweißausbruch des Tages. Seine Hände zittern, noch erträglich, zwischen den Nähten seiner Jeans.
Tina Vilsberg sprüht ein Gebilde aus Sahne neben den Mohnkuchen. Es bleibt unberührt, bis es in sich zusammenfällt.
„Und die Arbeit?“
Robert, geübt im Lügen, zuckt die Schultern.
„Läuft gut“, sagt er.
„Schön zu hören!“, antwortet der Vater. „Vielleicht geht's ja doch mal bergauf mit Dir, man soll ja die Hoffnung nie aufgeben.“
Dann klirrt seine Frau mit dem Geschirr und bringt ihm den Kräuter.

Robert quält sich zum Abendessen. Im Kartoffelsalat sieht er Maden bohren und sein Vater wirkt wie ein puterroter Klumpen aus narbigem Fleisch. Er klammert sich an den Fuji, an dem er die Mutter schon beim Kaffee heimlich in der Küche nippen sehen hat, und starrt auf die antike Wanduhr.
Der Sekundenzeiger kracht in seinen Ohren. Den Gesprächen folgt er seit dem Kräuter nicht mehr.
Jetzt ist man bei den Wahlversprechen angekommen. Vater und Schwiegersohn diskutieren. Robert wartet auf die Erlösung, nicht zuletzt sitzt er nur wegen ihr geduldig. Endlich nimmt Mareike den Neffen zum Anlass, die Eltern auf ihr baldiges Gehen vorzubereiten. Im Flur macht sie die Kinder fertig, auch Robert stielt sich vom Tisch. Der Vater und Jürgen sind in bester Schnapslaune angekommen und die Fetzen ihrer politisch angehauchten Zusammenkunft beschwören etwas Grimmiges in Mareikes Haltung.
Sie müht sich mit Dennis ab, der sich die Hose von den Beinen strampelt. Tochter Clarissa bringt die Schuhe ihres Bruders.
„Mareike“, setzt Robert an. Die Peinlichkeit belastet ihn nur halb so sehr, wie das, jetzt ausgeprägte, Zittern seiner Hände.
Seine Schwester sieht auf und angelt nach der Handtasche.
„Dreißig, mehr kann ich nicht“, sagt sie, knüllt zwei Scheine ins Roberts Handfläche und lässt, vom Gewissen getrieben, das Kleingeld folgen.
„Ich geb´s dir zurück!“
Mareike nickt ab. Sieht älter aus, als beim letzten Mal. Ihre Haare haben einen schmutzigen Schleier und die Falten an den Mundwinkeln lassen ihr Kinn hängen.
„Jürgen, die Kinder!“, ruft sie ins Wohnzimmer. Tina Vilsberg beruhigt ihre Enkel mit Schaumzuckertieren.
„Soll´n wir dich mitnehmen?“ Mareike fragt das nur anstandshalber.
Robert muss runter ... raus. Er kann nicht mehr warten, drückt schwammig die Hände, hört seinen Vater mosern, darüber, dass der Trinkkumpan nun ablehnen muss, merkt noch die Spannung zwischen Mareike und dem schwankenden Jürgen, obwohl sein Körper sich ihm brutal aufzwingt.
Im Hausflur erbricht er sich neben den Müllschlucker.

Robert ist dumpf und warm, alles belanglos. Das letzte Mal, ein letztes Mal, jeder Abend endet mit der Hoffnung auf einen neuen Morgen. Aus dem roten Strudel lösen sich Arme und Beine. Sie treten und empfangen ihn zu gleichen Teilen, eine Welle aus Händen, gespickte Münder, oben das Licht und unten die Leere, Kinderlachen und Bohrmaschinen, das vergessene Glück eines Sonntags, schwarzes Schlaraffenland aus pulsierenden Venen. Es will und wird keinen Morgen geben.
 



 
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