Auf Augenhöhe

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Duisburger

Mitglied
Ich tue so, als würde ich ihn nicht wahrnehmen, schaue nach links, meine Schritte werden schneller. Doch ich fühle seinen Blick in meinem Rücken, bin sicher, dass seine Augen mich fixieren. Ich bleibe stehen, augenblicklich und unerwartet für die Passanten hinter mir. Einer flucht unterdrückt und funkelt mich verärgert an, quetscht sich an mir vorbei, nicht ohne mich anzurempeln. Es ist mir egal.
Ich drehe mich langsam um und starre in zwei blassgraue Augen. Doch der Blick bittet nicht, ist nicht verärgert, nicht traurig. Nur offen.
Der Obdachlose sitzt auf einer Wolldecke auf dem Boden, neben ihm ein Rucksack, auf dem Schoß ein kleiner Karton. Ich kann den Inhalt nicht erkennen, da der Deckel halb geschlossen ist. Auf dem Plastikteller vor ihm liegen ein paar Münzen. Sein Alter ist nur schwer einzuschätzen, der mehrtägige Bart lässt von seinem Gesicht nicht viel erkennen und seine Kleidung scheint ein paar Nummern zu groß zu sein. Alles an ihm erscheint grau, da ist nichts, was den Blick verweilen lässt. Bis auf seine Augen, die eine seltsame Ausstrahlung haben.
Langsam gehe ich die paar Schritte zurück und bleibe vor ihm stehen. Ich krame umständlich in meiner Jackentasche nach etwas Kleingeld und werde fündig. Ein paar Münzen nur, ich gehe in die Knie und lege sie vorsichtig auf den Plastikteller, als hätte ich Angst, sie könnten zerbrechen. Ich schaue ihn an, diesmal auf gleicher Höhe. Er nickt kaum merklich, sagt nichts. Nur seine Augen scheinen mir etwas mitteilen zu wollen.
Ich habe längst vergessen, dass ich mich in einer belebten Fußgängerzone befinde, nehme die vorbeihastenden Passanten kaum noch wahr. Auch die Geräusche um mich herum scheint jemand leiser gedreht zu haben.
„Darf ich mich setzen?“, höre ich mich fragen.
Ich wundere mich einen Moment über mich selbst. Er rückt ein wenig nach rechts und gibt ein Stück seiner Decke frei. Unbeholfen versuche ich einen annehmbaren Schneidersitz hinzubekommen, was allerdings kläglich scheitert. Ich strecke also die Beine lang aus, was einige Passanten zwingt, auszuweichen.
Es ist mir egal, doch ihre seltsamen Blicke amüsieren mich.
Der Graue neben mir öffnet seinen Karton. Neugierig schaue ich hinein. Einige Fotos, eine Kette, ein kleiner Stoffelefant und billiges Plastikspielzeug. Er greift in den Karton und hält mir eines der Fotos hin. Eine junge Frau, ca. 23-25 Jahre alt, sehr schlank und hübsch.
„Ihre Frau?“, frage ich und schaue ihn an.
Er nickt.
„Geschieden, schon vor langer Zeit.“
Er muss das Foto oft betrachten, denn die Ecken sind abgestoßen und schmutzig.
„Das tut mir leid.“
Saublöde Antwort, schießt es mir sogleich durch den Kopf. Stereotyp.
„Besser so.“, entgegnet er, ohne sich weiter zu erklären.
„Kinder?“
Er zuckt zusammen und ich glaube, in seinen Augen Trauer zu sehen. Er kramt wieder in seinen Karton und hält mir ein anderes Foto hin. Ein kleiner Junge, vier oder fünf Jahre, kurze Hosen, dunkle Haare. Er lacht.
„Tot, von einem Auto überfahren.“
Scheiße, nun muss ich mich beherrschen, um nicht wieder was Dummes zu sagen. Ich habe selber Kinder und stelle mir vor, wie ich in solch einer Situation empfinden würde. Jetzt ist mir zum heulen zumute, ich kann aus meiner Haut nicht raus. Hoffentlich hat man den Todesfahrer erwischt und nicht zu knapp verurteilt. Ich schaue ihn an und nicke nur. Ihm scheint es ähnlich zu gehen, denn er hat sich noch immer nicht gefangen. Vorsichtig legt er die Bilder wieder in den Karton und zeigt auf den Plüschelefanten und das Plastikspielzeug.
"Das war seins, mehr habe ich nicht mehr.“
Ich dachte es mir und mir kam nicht einmal in den Sinn, nach seinen Namen zu fragen. Wozu auch?
Eine ältere Dame bleibt vor dem Plastikteller stehen und schaut skeptisch auf uns herab. Sie hat ein paar Münzen in der Hand und weiß nicht, was sie von mir halten soll.
„Oh, ich ruhe mich nur aus, gehört alles dem netten Herrn neben mir.“
Sie zögert einen Moment und lässt dann die Münzen auf den Teller fallen. Man kann ihr deutlich ansehen, dass sie mir nicht glaubt. Ich glaube ja nicht mal selber, was ich hier gerade tue.
Er klappt den Deckel des Kartons zu und sichert ihn mit einem roten Gummiband.
„Seitdem bin ich frei.“
„Und leben auf der Straße.“, entgegne ich.
"Es ist besser so für mich.“
Nicht mehr als ein Flüstern. Er starrt nun wieder geradeaus und presst seinen Karton an seinen Bauch. Ich kann ihn verstehen. Ich sitze eine Weile neben ihm und denke nach. Da ist noch etwas, was er mir nicht sagen will oder kann. Ich stemme mich hoch und bleibe vor ihm stehen.
„Leben Sie wohl.“
Er nickt nur und schaut mich an, scheint innerlich zu zögern. Seine Augen sind nun seltsam unstet.
Ich warte, doch es kommt nichts weiter. Langsam gehe ich weiter und spüre wieder seinen Blick in meinen Rücken und drehe mich noch einmal um. Er starrt mich an.
„Ich wollte doch nur rückwärts vom Hof fahren und habe ihn nicht gesehen.“
Scheiße.
 
M

Madita

Gast
Oh lieber Duisburger,

das ist eine sehr, sehr traurig schöne Geschichte und ich muß mich zusammenreissen um meine Tränen im Zaum zu halten. Von mir eine 10, für eine derart gefühlsanstossende Geschichte.

LG
Madita
 
M

Melusine

Gast
Ähm.
Ziemlich rührselig. Würde das nicht unter Tagebuch stehen - ich würd's dir nicht abnehmen. Da es hier steht, muss ich dir wohl glauben. Dennoch... es hat für mich eine falsche Note. Tut mir leid.
Im Übrigen ein paar Flüchtigkeitsfehler - geh doch noch mal drüber, falls dir dran liegt.

LG Mel
 

Duisburger

Mitglied
Hallo Melusine,

danke für deinen freundlichen Kommentar.
Der Text ist in weiten Teilen authentisch und sollte keinesfalls rührseelig daherkommen. Das die Story fast schon wie ein Klischee klingt, sehe ich wohl, doch kann ich es aufgrund der Authentizität inhaltlich nicht anders schreiben.
Hier ist das Leben an sich ein Klischee. Ich wollte lediglich dies Geschichte zu Papier bringen, weil sie mich doch sehr bewegt hat.
Grammatikalisch werde ich den Text noch einmal überarbeiten.

lg
Duisburger
 
M

Melusine

Gast
Hallo Duisburger,
ich meinte ja nicht, dass du's rührselig geschrieben hast. Das eigentlich ganz und gar nicht. Dein Stil gefällt mir gut. Na ja ... das Leben schreibt wohl manchmal die merkwürdigsten Geschichten. Kann ich mir vorstellen, dass dich das bewegt hat.
Oh, übrigens: Was für mich als "falsche Note" rüberkam, war wohl das seltsame Verhalten des Prot. Normalerweise würde man sowas doch nicht tun. Ist wohl ein wenig so wie mit Fotografien von unglaublichen Sonnenuntergängen ...

Weil ich's grad noch mal gelesen hab - hier ein paar Fehlerchen, die mir aufgefallen sind:

Langsam gehe ich die paar Schritte zurück und bleibe vor i[red]h[/red]m stehen. Ich krame umständlich in meiner Jackentasche nach etwas Kleingeld und werde fündig. Ein paar Münzen nur, ich gehe in die Knie und lege[red][strike]n[/strike][/red] sie vorsichtig auf den Plastikteller, als hätte ich Angst, sie könnten zerbrechen.
...
Ich wundere mich einen Moment über mich selbst. Er rückt ein wenig nach recht[red]s[/red] und gibt ein Stück seiner Decke frei.
...
...
„Leben [red]S[/red]ie wohl.“


Oh, noch was: Guter Schluss.

LG Mel
 

Duisburger

Mitglied
Hallo Mel,

danke für die Korrekturen, die ich sofort übrnommen habe.
Aber es stimmt, das Verhalten dieses Obdachlosen war wirklich seltsam, ich war erst ein wenig erschreckt und wollte schon wieder gehen. Doch die Neugierde hilt mich dann doch und das war auch gut so.

lg
Duisburger
 



 
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