Auf der Schwelle

dieidee

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Auf der Schwelle
Es ist Samstag, der 18. Januar. Aicha und ihre zwei Töchter kommen gerade von ihrer Tante und den Cousinen. Sie sind voll von Erlebnissen an diesem bis hierhin unspektakulären Samstag. Die älteren Cousinen haben immer neue Einfälle und viele Geschichten zu erzählen. Die Stunden mit ihnen lässt die Zeit vergessen.
Es ist 17 Uhr, als die drei vor ihrem Haus mehrere Polizisten am Eingang Spalier stehen sehen. Jetzt entdeckt Aicha auch die zwei Streifenwagen, die in der Seitenstraße parken. Aicha kann nicht mehr denken, ihre Gedanken frieren ein. Auch die Kinder haben die Leichtigkeit des Nachmittags soeben verloren. Große Fragezeichen machen sich auf ihren Gesichtern breit. Das Haus wirkt fremd; einmal mehr spürt Aicha den Verlust von Heimat. Die Polizisten fragen sie nach ihrem Namen und auch nach dem Verbleib ihres Mannes. Sie kann nicht sagen, wo er ist. Es ist Samstagnachmittag und er ist häufig nicht zu Hause. Auch die Nacht über bleibt er fern. Erst in den Morgenstunden hört sie manchmal das Geräusch eines nachgebenden Schlosses. Sie fragt nicht mehr. Der Gleichmut hat über die Jahre zermürbender Unruhe gesiegt.
Ein Polizeibeamter bittet scharf um Einlass in die Wohnung. Aicha sitzt nun in der Küche und spürt, wie die Männer ihr Zuhause zu einem Unort machen. Ein Hund mit Maulkorb begleitet die Polizisten und durchsucht die Wohnung. Er schnüffelt an jeder Fußleiste und an jedem Möbelstück immer und immer wieder. Die Männer geben sich untereinander Zeichen, die für Aicha unverständlich bleiben. Sie hat Leila, die jüngere Tochter auf dem Schoß, die Große, Miriam, sitzt mit wachem Blick auf dem Platz, den ihr Vater gewöhnlich beim Essen einnimmt. Ein Wimpernschlag und die Vorzeichen eines friedlichen Familienlebens werden verkehrt. Alles, was heute Morgen noch nach Vertrautem und Selbstverständlichem gerochen hat, wird mit jedem Schritt der Polizeibeamten gewaltsam entfremdet. Leila fängt an zu weinen und dreht ihren Kopf weg von den Männern, die nun vom Kinder- ins Schlafzimmer der Eltern gehen und den Kleiderschrank ausräumen. Die mit Sorgfalt zusammengelegte Wäsche verliert auf dem Bett ihre Form und liegt da wie ein erlegtes Wild, dessen Geruch der Hund begierig aufnimmt. Das Tier schlägt nicht an und die enttäuschten Gesichter der Polizisten sagen, dass das Erhoffte nicht gefunden ist. Sie Suche geht weiter. Die Eindringlinge durchstreifen von neuem die Zimmer, tasten Schrankinnenseiten ab und fahren mit flacher Hand zwischen die Sitzpolster. Langsam platzt die Erstarrung von Aicha ab und wird zu Traurigkeit, die noch lange zu spüren sein wird. Sie weiß, dass die Truppe nach Drogen sucht und vielleicht ahnt sie auch den Hang ihres Mannes zu zwielichtigen Geschäften. Was weiß sie denn schon von ihm? Sie kennt Salim als Familienmenschen, der die Kinder von der Schule abholt, mit ihnen an sonnigen Tagen im Garten herumtobt und bereitwillig die Wochenendeinkäufe erledigt. Aber sie weiß auch von seiner anderen Seite, die jenseits von Frau und Kindern gelebt werden will. So nimmt sie hin, was Generationen von Frauen in ihrem Heimatland taten und noch immer tun, um die Familienehre zu retten. Nestwärme geben versteht sich in ihrer Kultur als ureigen weibliche Aufgabe.

Jetzt sind sie im Kellergeschoss. Mit Taschenlampen schauen sie in jede Ritze, heben Holzkisten hoch. Spinnennetze verraten langes Nicht-berührt-worden-sein. Kein Hinweis auf Drogen und doch – in dieser Wohnung müssen welche sein. Die beiden Mädchen verlieren mit jeder verstreichenden Minute ihre Anspannung. Sie gewöhnen sich an den Anblick der fremden Männer mit den dunkelblauen Uniformen, den Schlagstöcken und ihrem großstädtischen Gehabe. Auf deren Gesichtern ist Unmut zu lesen über die vergehende Zeit langen Suchens und die Frau, die dem Treiben kein Ende macht.
Plötzlich wird das monotone Surren in Aichas Ohr unterbrochen. Ein jäher Aufschrei dringt aus dem Wohnzimmer. Die Tapete an einer Stelle hinter dem Sofa ist unauffällig verdickt, ein Polizist ritzt sie an und trifft auf einen handbreiten Hohlraum. Behutsam schneidet er die Tapete rund um die Öffnung aus und fühlt in ihr Inneres. Er zieht ein Tütchen mit weißem Pulver aus dem Loch und alle Kollegen schauen gespannt auf die Hand, die wieder in der kleinen Mulde verschwindet. Ein Raunen geht durch die Münder – der Schatz wird endlich gehoben.
In diesem Moment fängt Aicha an zu sterben. Die Erleichterung der Beamten, das Anschwellen deren Freude über den Fund lässt sie in eine Blase abtauchen. Das Leben, das ihr endlich ein Zuhause gegeben hatte, ist nun außer Reichweite. Langsam schwebend entfernt sie sich von dem Ort, der ihr seit heute befremdlich, ja bedrohlich wird. Sie sieht die beiden Mädchen am Küchentisch sitzen. Auch eine Fotografie ihres Mannes, die in einen alten Bilderrahmen gezwängt schon Vergangenes verbreitet, meint sie zwischen den Kindern zu erkennen. Er, Salim ist ihr fern und Aicha spürt nichts, was an Lebendigkeit früherer Tage erinnert.
Triumphierend hält ein Polizeibeamter Aicha ein Tütchen Rauschmittel vor die Nase. Das ist also die Beute, nach der die gehetzten Wölfe blutrünstig Ausschau hielten. Nun haben sie ihren Hunger gestillt, jetzt können sie Aicha das in Papierfetzen gerissene Leben zurückgeben. Die Polizisten verabschieden sich ordnungsgemäß und erklären die weitere Vorgehensweise bei Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Dann sieht Aicha nur noch die Rücken der Beamten, die polternd die kleine Treppe zur Haustür hinuntergehen. Zu den Mädchen sagt sie tonlos, sich bettfertig zu machen; sie könnten im Schlafzimmer der Eltern übernachten. Ausnahmsweise.
Später wirft Aicha einen Blick durch den Türspalt auf die kleinen, schlafenden Körper. Ein Bild des Friedens, das vor Aichas Seele irgendwo steckenbleibt. Sie nimmt den Haustürschlüssel, zieht die Tür hinter sich zu und wirft ihn durch den Briefkastenschlitz in den Hausflur.
Draußen taucht sie in die Dunkelheit. Sie schaut weder nach rechts noch nach links und setzt einen Fuß vor den anderen. Sie läuft und läuft in die Nacht ohne Erinnerung an ein Leben, das am diesem Samstag so unvermittelt aufgehört hat - und ohne Hoffnung auf ein zweites.
 

anbas

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Hallo dieidee,

herzlich willkommen in der Leselupe!

Dies ist eine gut erzählte Geschichte, wie ich zumindest finde. Du schaffst es sehr gut, diese angespannte und immer unerträglicher werdende Stimmung rüberzubringen.

Jetzt, beim ersten Lesen, ist mir nur ein kleiner Flüchtigkeitsfehler aufgefallen. Ganz am Ende:
das a[red]n[/red] diesem Samstag
Außerdem würde sich von der Optik her, eine Freizeile zwischen Überschrift und Text gut machen.

Liebe Grüße

Andreas
 

dieidee

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Auf der Schwelle

Es ist Samstag, der 18. Januar. Aicha und ihre zwei Töchter kommen gerade von ihrer Tante und den Cousinen. Sie sind voll von Erlebnissen an diesem bis hierhin unspektakulären Samstag. Die älteren Cousinen haben immer neue Einfälle und viele Geschichten zu erzählen. Die Stunden mit ihnen lässt die Zeit vergessen.
Es ist 17 Uhr, als die drei vor ihrem Haus mehrere Polizisten am Eingang Spalier stehen sehen. Jetzt entdeckt Aicha auch die zwei Streifenwagen, die in der Seitenstraße parken. Aicha kann nicht mehr denken, ihre Gedanken frieren ein. Auch die Kinder haben die Leichtigkeit des Nachmittags soeben verloren. Große Fragezeichen machen sich auf ihren Gesichtern breit. Das Haus wirkt fremd; einmal mehr spürt Aicha den Verlust von Heimat. Die Polizisten fragen sie nach ihrem Namen und auch nach dem Verbleib ihres Mannes. Sie kann nicht sagen, wo er ist. Es ist Samstagnachmittag und er ist häufig nicht zu Hause. Auch die Nacht über bleibt er fern. Erst in den Morgenstunden hört sie manchmal das Geräusch eines nachgebenden Schlosses. Sie fragt nicht mehr. Der Gleichmut hat über die Jahre zermürbender Unruhe gesiegt.
Ein Polizeibeamter bittet scharf um Einlass in die Wohnung. Aicha sitzt nun in der Küche und spürt, wie die Männer ihr Zuhause zu einem Unort machen. Ein Hund mit Maulkorb begleitet die Polizisten und durchsucht die Wohnung. Er schnüffelt an jeder Fußleiste und an jedem Möbelstück immer und immer wieder. Die Männer geben sich untereinander Zeichen, die für Aicha unverständlich bleiben. Sie hat Leila, die jüngere Tochter auf dem Schoß, die Große, Miriam, sitzt mit wachem Blick auf dem Platz, den ihr Vater gewöhnlich beim Essen einnimmt. Ein Wimpernschlag und die Vorzeichen eines friedlichen Familienlebens werden verkehrt. Alles, was heute Morgen noch nach Vertrautem und Selbstverständlichem gerochen hat, wird mit jedem Schritt der Polizeibeamten gewaltsam entfremdet. Leila fängt an zu weinen und dreht ihren Kopf weg von den Männern, die nun vom Kinder- ins Schlafzimmer der Eltern gehen und den Kleiderschrank ausräumen. Die mit Sorgfalt zusammengelegte Wäsche verliert auf dem Bett ihre Form und liegt da wie ein erlegtes Wild, dessen Geruch der Hund begierig aufnimmt. Das Tier schlägt nicht an und die enttäuschten Gesichter der Polizisten sagen, dass das Erhoffte nicht gefunden ist. Sie Suche geht weiter. Die Eindringlinge durchstreifen von neuem die Zimmer, tasten Schrankinnenseiten ab und fahren mit flacher Hand zwischen die Sitzpolster. Langsam platzt die Erstarrung von Aicha ab und wird zu Traurigkeit, die noch lange zu spüren sein wird. Sie weiß, dass die Truppe nach Drogen sucht und vielleicht ahnt sie auch den Hang ihres Mannes zu zwielichtigen Geschäften. Was weiß sie denn schon von ihm? Sie kennt Salim als Familienmenschen, der die Kinder von der Schule abholt, mit ihnen an sonnigen Tagen im Garten herumtobt und bereitwillig die Wochenendeinkäufe erledigt. Aber sie weiß auch von seiner anderen Seite, die jenseits von Frau und Kindern gelebt werden will. So nimmt sie hin, was Generationen von Frauen in ihrem Heimatland taten und noch immer tun, um die Familienehre zu retten. Nestwärme geben versteht sich in ihrer Kultur als ureigen weibliche Aufgabe.

Jetzt sind sie im Kellergeschoss. Mit Taschenlampen schauen sie in jede Ritze, heben Holzkisten hoch. Spinnennetze verraten langes Nicht-berührt-worden-sein. Kein Hinweis auf Drogen und doch – in dieser Wohnung müssen welche sein. Die beiden Mädchen verlieren mit jeder verstreichenden Minute ihre Anspannung. Sie gewöhnen sich an den Anblick der fremden Männer mit den dunkelblauen Uniformen, den Schlagstöcken und ihrem großstädtischen Gehabe. Auf deren Gesichtern ist Unmut zu lesen über die vergehende Zeit langen Suchens und die Frau, die dem Treiben kein Ende macht.
Plötzlich wird das monotone Surren in Aichas Ohr unterbrochen. Ein jäher Aufschrei dringt aus dem Wohnzimmer. Die Tapete an einer Stelle hinter dem Sofa ist unauffällig verdickt, ein Polizist ritzt sie an und trifft auf einen handbreiten Hohlraum. Behutsam schneidet er die Tapete rund um die Öffnung aus und fühlt in ihr Inneres. Er zieht ein Tütchen mit weißem Pulver aus dem Loch und alle Kollegen schauen gespannt auf die Hand, die wieder in der kleinen Mulde verschwindet. Ein Raunen geht durch die Münder – der Schatz wird endlich gehoben.
In diesem Moment fängt Aicha an zu sterben. Die Erleichterung der Beamten, das Anschwellen deren Freude über den Fund lässt sie in eine Blase abtauchen. Das Leben, das ihr endlich ein Zuhause gegeben hatte, ist nun außer Reichweite. Langsam schwebend entfernt sie sich von dem Ort, der ihr seit heute befremdlich, ja bedrohlich wird. Sie sieht die beiden Mädchen am Küchentisch sitzen. Auch eine Fotografie ihres Mannes, die in einen alten Bilderrahmen gezwängt schon Vergangenes verbreitet, meint sie zwischen den Kindern zu erkennen. Er, Salim ist ihr fern und Aicha spürt nichts, was an Lebendigkeit früherer Tage erinnert.
Triumphierend hält ein Polizeibeamter Aicha ein Tütchen Rauschmittel vor die Nase. Das ist also die Beute, nach der die gehetzten Wölfe blutrünstig Ausschau hielten. Nun haben sie ihren Hunger gestillt, jetzt können sie Aicha das in Papierfetzen gerissene Leben zurückgeben. Die Polizisten verabschieden sich ordnungsgemäß und erklären die weitere Vorgehensweise bei Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Dann sieht Aicha nur noch die Rücken der Beamten, die polternd die kleine Treppe zur Haustür hinuntergehen. Zu den Mädchen sagt sie tonlos, sich bettfertig zu machen; sie könnten im Schlafzimmer der Eltern übernachten. Ausnahmsweise.
Später wirft Aicha einen Blick durch den Türspalt auf die kleinen, schlafenden Körper. Ein Bild des Friedens, das vor Aichas Seele irgendwo steckenbleibt. Sie nimmt den Haustürschlüssel, zieht die Tür hinter sich zu und wirft ihn durch den Briefkastenschlitz in den Hausflur.
Draußen taucht sie in die Dunkelheit. Sie schaut weder nach rechts noch nach links und setzt einen Fuß vor den anderen. Sie läuft und läuft in die Nacht ohne Erinnerung an ein Leben, das an diesem Samstag so unvermittelt aufgehört hat - und ohne Hoffnung auf ein zweites.
 



 
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