Aus dem Leben gegriffen

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onhcam

Mitglied
Je länger die Sätze werden, umso mehr verliere ich das Vertrauen in sie.
Der dämmernde Tag beginnt mit der Gewissheit der fehlenden Erinnerung. Die Träume sind ihm entschwunden. Was war es diesmal, das ihm den Schlaf geraubt hat? Stand er auf einem Berg und blickte mit schwitzenden Händen in die Tiefe, oder lag er bereits erdrückt am Boden? Sie sind erloschen, die Bilder, nur ein Ausguss seiner zerrütteten Nerven bleibt in den Leintüchern zurück.

Unsicherheit tritt in den Tag. Die Syntax der morgendlichen Bemühungen ist fragil. Die Banalität der sich wiederholenden Anstrengungen, sie verengt sich unter der Last der Begriffe. Die erste Entscheidung des Tages und schon stockt ihm der Atem. Sensodyne oder Blend-a-Med? Fruchtig oder eine leichte Schärfe. Dichotomische Zustände. Es ist unumgänglich, eine muss es sein, sonst bringen Schmerzen seine Zähne zum Zucken.
Das Wasser aus dem Duschkopf umringt den getrockneten Schweiß und zieht ihn in den Abfluss hinab. Der Tau fällt ab. Die Bewegungen verfeinern das Fleisch. Mit den prasselnden Tropfen dringt wieder ein Fluss von Gedanken unter die Schädeldecke. Klatschnasses Haar klebt ihm im Gesicht und er beeilt sich nicht es zu verhindern. Ein letzter Moment der Einkehr, bevor der Tag über ihm zerbricht.
Als das Wasser aufhört zu fließen, sind seine Muskeln umklammert von Kälte, sie fesseln ihn. Der Stoff aus Frottee verhindert das Schlimmste.
Abgeschrubbt betritt er sein Zimmer. Eine Auswahl muss getroffen werden, das Spiel der Masken beginnt auf ein Neues. Stoffe über Stoffe, trotzdem fühlt er sich darunter nackt. Bleibt es vorerst.

Wenn die Nacht kommt versperren sich die meisten Lider, nur nicht die in seiner Seele, sie öffnen sich erst und kommen so bald nicht mehr zur Ruhe.
Die Wände bekommen Augen, hinter dunklen Fenstern beobachten ihn Unbenannte in unbekannten Posen. Manchmal fackelt ein Licht auf in jenen Augen, wie bei Feuerzeugen die nicht richtig zünden. Wer ist es, der da im Fenster steht?
Er ist unbefriedigt, aber mit ihnen kann er sich nicht gehen lassen, verschließt er sie, ist er selber blind. Die Not lässt sie ihn wieder öffnen. Er braucht sein Publikum.
Ein noch nackter Körper reflektiert sich im Glas, seiner. Es ist Lachen das er hört, als er die Gewichte hebt. Muskelkonvulsionen. Ein neuer Körper erwacht im Licht, das Schlaffe ist beiseite geschoben. Die Illusion von Stärke betrachtet sich im Spiegel. Wen willst du beeindrucken?
Er zieht sich an. Mode und Wein, Kraftnahrung für die Seele. Wir können uns hinter beidem verstecken.

Die Straßen. Schwarz, grau, blau und grelles Gelb. Sie sind da für uns, wenn wir sie brauchen.
Er steht vor Bäumen, sie starren ihn an und als er an ihnen vorbei geht, hört er ein Tuscheln. Oder sind es doch nur die Blätter, die rascheln?
Alle erröten wenn er sie ansieht, sie haben so sehr Angst vor sich selbst. Der Blick schweift zurück in die Seele, gräbt sich dort ein Nest. Die U-Bahn ist ein Ort der Trauer.
Es tauchen Menschen auf aus dem Dunkel und sind wieder weg, er greift nach einer Hand und ist selbst gleich wieder entschwunden. Die Seele darf sich beruhigen.
Das Herz muss schneller schlagen, die weiße Flut bricht aus, spricht seinen Namen. Sie wollen sich zusammen tun.
Im weißen Rausch verfolgt von tausend Paaren und in diesen tausend Paaren alles, nur kein Sinn.
Verfolgt die Maske ihn schon wieder, die er den anderen aufzusetzen pflegt?
Kein Herantreten an den Nächsten, immer bereit zu flüchten. Seine Augen springen umher, sie finden keine Ruhe. Verwandtschaften ergeben sich hier nicht, es fehlt der tiefere Sinn.
Der Vorwurf an sich selbst bleibt bestehen, solange man eben besteht, aber will man denn...?
Bedrückung führt ihn heim in die Stille, wenn die Schatten sich wieder verwerfen im Schein der morgendlichen Sonne.

Lässt er die Nacht im Traum an sich vorüberziehen oder ergreift er sie, schütte ihr sein Herz aus, lässt das Trommeln seines Herzens durch die Dunkelheit donnern, lässt alles hinaus, dass immer schon gesagt werden musste. Sie sollen es ruhig hören. Und wenn es vorbei ist, zieht er sich abgeschlafft in seine Matratzenhöhle zurück, versperrt sich, und erwartet den nächsten, rastlosen Abend.
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo onhcam( wie soll man das aussprechen),

ich glaube das dir hier ein starkes stück kurzprosa gelungen ist. nicht wirklich stringend, eher sehr sprunghaft, verfolgen wir den tag eines desillusionierten.

viele gelungene kopfbilder, wie:

Je länger die Sätze werden, umso mehr verliere ich das Vertrauen in sie.
Der dämmernde Tag beginnt mit der Gewissheit der fehlenden Erinnerung

oder

Die Syntax der morgendlichen Bemühungen ist fragil.

aus deinem text und aus dem prot, liesse sich eine tolle kurzgeschichte entwickeln.
ich rate dir diese person nicht aus den augen zu verlieren.
ihr einen namen, einen beruf und menschen an die seite zu stellen.

da steckt viel mehr drin.

sehr gerne gelesen

ralf
 
K

KaGeb

Gast
Hallo,

mich hat dein Text beeindruckt, und für mich bräuchte es keine Erweiterungen hinsichtlich Namen, Beruf und weiteren Akteuren - wie von Ralf Langer empfunden.
Ist immer wieder interessant, wie unterschiedlich Texte doch empfunden werden können.

Das eine oder andere könnte bei diesem kurzen Text durchaus noch streichen und manche Fremdworte tilgen.
"Fragil" zum Beispiel hat laut Google 7 Bedeutungen und 118 Synonyme. Auch verwirrt "Syntax" im Satzzusammenhang mich mehr als ich bereit bin, mich von der lasziven Lesemelodie der 7 Worte einlullen zu lassen.

Dennoch: Ein starker Text!

LG Karsten
 



 
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