Ausgebrochen

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Sebahoma

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Der Polizist, der mich am kleinen See im Wald entdeckte, hielt kurz inne, glotzte in meine Richtung und kämpfte sich dann einen Weg durch das Gebüsch. Nachdem ich ihn durch das Gehölz gesehen hatte, seufzte ich leise und blickte schnell wieder auf den See, so als wäre der Eindringling nicht da, wenn ich ihn nicht sehe. Doch das Knacken der Hölzer machte mir schonungslos klar, dass diese alte Kindheitsweisheit längst nicht mehr galt. Die raue Wirklichkeit streckte ihre ekligen Tentakel nach mir aus.

Dann stand er direkt neben mir. Er war sehr groß und schlank, trug eine schwarze Hose und ein blaues Hemd, das von seinem Revolvergürtel fest angezogen wurde.
„Hallo! Bist du Richard Müller?“ Seine Stimme klang freundlich, ganz unaufgeregt.
Dumme Frage! Wie viele Jungen sollten denn an diesem Abend weggelaufen sein? Trotzig versuchte ich, seiner Frage auszuweichen.

„Ihr habt genau vier Stunden und achtundzwanzig Minuten gebraucht“, sagte ich kalt.
„Und, findest du das schnell oder langsam?“
„Ich weiß es nicht, es ist das erste Mal, dass ich von der Polizei gesucht werde", sagte ich ehrlich. „Findest du es denn schnell?“, fragte ich zurück.
„Ich weiß es nicht, es ist das erste Mal, dass ich an einer Polizeisuche teilnehme!“, konterte er.

Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, in dem ich nichts sagte und nur dasaß, so wie die Bäume um uns herum, die man mit ihren vielen Wurzeln unmöglich aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen konnte.

Der Polizist sah sich um und atmete tief ein. „Es ist schön hier draußen, findest du nicht auch?“, fragte er schließlich und setzte sich mit einem Seufzer neben mich auf den Waldboden. Ich schielte ihm kurz ins Gesicht. Gar nicht so finster wie erwartet. Und auch gar nicht so alt. Was hatte er vor? Er konnte mich doch einfach mitnehmen. Stattdessen fing er hier einen netten Plausch an. Egal, mir war es Recht, solange ich hier bleiben konnte.

„Ja, gefällt mir!“, sagte ich als würde ich mit einem Freund über etwas Alltägliches plaudern. Dann starrte ich wieder auf den kleinen See. Manchmal stieß etwas an die Oberfläche. Kleine Wellen entstanden, die kreisförmig die Ruhe der Oberfläche störten.

„Weißt du eigentlich, dass wir das alle mal machen?“
„Was?“
„Na weglaufen. Wir sind alle mal soweit, dass wir weglaufen. Wir suchen uns einen Ort, an dem uns niemand so leicht findet und sind dann einfach mal raus für eine Zeit. Glückwunsch, das machst du schon ganz gut.“ Dabei klopfte er mir anerkennend auf die Schulter.

Ich musste ein Schmunzeln unterdrücken. Ich sah ihn wieder an. Er blickte geradeaus auf den See und blinzelte, wenn Sonnenstrahlen seine Augen trafen.

„Wo gehst du hin, wenn du raus musst?“
„Och, da gibt es mehrere Orte, je nach dem, wie sehr ich raus muss. Manchmal hole ich mir nur in der Cafeteria einen Kaffee, manchmal gehe ich mit einem Kumpel in die Kneipe und manchmal – wenn es ganz besonders schlimm ist – packe ich meine Frau und wir fahren irgendwohin.“

Auch wenn es bedeutete, dass ich hier weggeholt wurde, war es irgendwie ein beruhigendes Gefühl, dass mich jemand gesucht und gefunden hatte.

„Das Problem bei diesen Aktionen ist, dass man nicht ewig raus bleiben kann. Irgendwann muss man wieder zurück. Aber meistens ist das gar nicht so schlimm wie man denkt.“

Ja ja, daran hatte ich auch schon gedacht. Er tat mir schon ein bisschen Leid. Da gab sich der Typ so viel Mühe und ich zeigte ihm die kalte Schulter. Aber die Vorstellung, zurück zu meinen Eltern zu gehen hielt mich auf dem feuchten Waldboden.

„Soll ich dich lieber nicht gefunden haben?“
„Das kannst du doch gar nicht. Die werden es dir nicht glauben.“
Wir sahen uns in alle Richtungen um. Nirgends konnten wir Verstärkung entdecken, aber es knackte in der Ferne und manchmal brachte der Wind Stimmen zu uns.
„Also noch sind sie weit genug weg. Dieser Abschnitt ist mein Bereich und kontrollieren werden sie mich bestimmt nicht. Es denken ohnehin alle, dass du bei Freunden untergekommen oder mit einem Fremden weggefahren bist.“
„Bei Freunden untergekommen!“, sagte ich als hätte er mich Kaiser von China genannt.

Ein Windstoß durchfuhr die Bäume und riss sie mal auf die eine und mal auf die andere Seite. Das Rauschen füllte die Stille.

„Du möchtest nicht wieder nach Hause, oder?“
„Ganz bestimmt nicht. Nach dem, was ich gemacht habe, sind die sicher mega sauer auf mich!“
„Da bin ich mir gar nicht so sicher!“
Ruckartig drehte ich meinen Kopf zu ihm um. „Warum denn? Hast du mit meinen Eltern gesprochen?“
Der Polizist sah auf den See und schüttelte leicht seinen Kopf. „Nein, aber du weißt doch wie das ist: wenn man erst einmal etwas vermisst hat, dann lernt man es wieder zu lieben.“
„Quatsch! Die werden mir ganz schön etwas erzählen.“
„Oder sie werden dich in ihre Arme nehmen, weil sie Angst hatten, dass du da im See liegst!“

Ich sah ihn nachdenklich an. Dann wieder auf den See. Die Stimmen im Hintergrund wurden immer lauter und deutlicher. Die Sonne stand schon sehr tief und nur noch wenige Strahlen schafften es durch das Geäst. Es wurde kühler da draußen.

Ob meine Eltern wirklich Angst um mich gehabt hatten? Bestimmt nicht. Andererseits: ausgerissen war ich bisher noch nicht. Ich wollte ihnen doch nur zeigen, dass ich genug hatte. Dass sie denken könnten, mir sei was passiert, daran hatte ich in meiner Wut gar nicht gedacht.

„Na gut, Richard, ich muss dann mal wieder. Da ich dich ja anscheinend nicht zum Mitkommen überreden kann, sage ich meinen Kollegen mal Bescheid, dass hier nichts ist. Außer ein paar Hölzern.“
Er stand auf und das Knacken verriet mir, dass er tatsächlich ein paar Schritte ging.
Hatten sie sich wirklich Sorgen um mich gemacht?
„Warte! Ich komme mit!“, rief ich ihm hinterher.
 

Amarinya

Mitglied
Schöne Geschichte. Glaubwürdige Dialoge. Und richtig schöne Beschreibungen der Natur.
"Manchmal stieß etwas an die Oberfläche. Kleine Wellen entstanden, die kreisförmig die Ruhe der Oberfläche störten."
Das gefällt mir.

Vielleicht - aber nur vielleicht - könnte man am allerletzten Satz noch etwas leicht verändern. Bis "Warte!" ist alles ok, das "Ich komme mit!" kommt dann ein wenig schnell. Vielleicht könnte man das noch ein wenig verändern ... ohne allerdings viele Worte zu machen. Eine konkrete Idee dazu habe ich nicht.

Das ändert aber nichts am sehr positiven Gesamteindruck, den ich von der Geschichte habe. Hab sie gerne gelesen!
 

Maribu

Mitglied
Hallo sebahoma,

die Geschichte ist interessant.
Trotzdem habe ich einige Einwände:
Erfolgt nach 4 Stunden und 28 Minuten schon eine Suche?
Gehen Polizisten nicht immer in Gruppen? - Wieso ist das sein Revier?
Dann ist das auch noch ein Beamter, der viel Verständnis aufbringt und manchmal selbst ausbricht oder ausbrechen möchte.

Wenn man ausreißt von den Eltern, ist es ungewöhnlich, ihnen keine Angst machen zu wollen. Das ist doch der größte Trumpf, den der Ausreisser hat!
Der Polizist hätte nach dem Grund fragen müssen (können).
Weshalb hatte der Junge diese Wut?
Mir geht es als Autor manchmal auch so, dass ich Dinge für selbstverständlich halte, die der Leser aber nicht nachvollziehen kann.

Lieben Gruß
Maribu
 



 
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