Hätte Herr Hartmann seine Frau nach fast vierzig Ehejahren nicht verlassen, wäre Folgendes wohl nicht geschehen:
An einem trübsinnigen Tag, an dem auch das heiter warme Sommerwetter nicht die bleierne Schwermut von Frau Hartmanns Schultern lösen konnte, irrte sie, von Kopfschmerzen und unguten Gedanken geplagt, ziellos durch die Straßen der Stadt, um sich ein wenig abzulenken. Ausgerechnet vor der Kleintierhandlung „Zoofritze“ blieb sie stehen, um aus ihrer Handtasche ein Taschentuch zu zupfen. Sie schnäuzte sich und schwenkte ihren feuchten Blick zum Schaufenster. Wie schwarze Lakritzperlen schauten von dort zwei Äuglein aus einem spitzen, grauen Rattengesicht direkt in Frau Hartmanns tränensackunterhangene Augen.
„Ach, wie goldig!“ war ihr erster positiver Gedanke seit Tagen.
Das Tierchen hockte zwischen anderen goldigen Tierchen mit ebenso possierlichen Augen in einem Käfig: manche huschten, manche putzten sich und wieder andere waren eingeschlafen. Frau Hartmann zögerte kurz. Dann drückte sie, geleitet von der ihr eigenen kindlich Trotzigkeit, die Ladentür auf und trat ein. Ein helles Läuten erklang. Drinnen war es kühler als draußen und der dezente Geruch von Sägemehl, Heu und Tieren schlug ihr entgegen. Es schien niemand da zu sein. Frau Hartmann betrat einen Gang aus beleuchteten Aquarien, in denen bunte Fische gleichgültig ihre Bahnen zogen.
„Wenn ich helfen kann?“ Wie aus dem Nichts tauchte hinter den Aquarien ein zitronengelbes T-Shirt auf. Der Kopf des T-Shirts ragte ein gutes Stück über Frau Hartmanns Scheitel hinaus, so dass sich die Blicke erst trafen als Frau Hartmann, die von kleiner, zarter Statur war, ihren Kopf in den Nacken zurückbog: In einem hageren Gesicht blinzelten wasserblaue Augen.
„Ich wollte mich nur ein wenig umschauen.“
„Ja, schauen Se nur janz in Ruhe. Wenn Se fragen haben.“ und schon bückte sich das gelbe T-Shirt wieder in die Ecke zurück, aus der es gerade aufgetaucht war.
Frau Hartmann peilte die Gitterkäfige mit den Nagern an: Kaninchen, Hamster, Meerschweinchen, Mäuse. Am Käfig der letzteren baumelte ein laminierter Zettel mit der Aufschrift „Lebendfutter“. Direkt daneben stand der Käfig mit den Ratten. Das Tierchen mit den possierlichen Lakritzaugen erkannte sie sofort. Sie rief den Verkäufer:
„Die da, diese Ratte da hinten, die hätte ich gerne.“ Die wasserblauen Augen musterten Frau Hartmann mit zusammengekniffener Miene, wobei ein Hauch von Skepsis über die in Falten gezogene Stirn huschte. Aber schon im nächsten Augenblick bogen sich die Mundwinkel des Verkäufers zu einem wohlwollenden Lächeln und er fädelte seine linke Hand durch ein Törchen in den Rattenkäfig. Flink schnappten die langen Finger zu und zogen die Ratte an der Nackenfalte hervor. Das Tierchen zappelte, erstarrte dann und lies sich widerstandslos in eine gelbe Schachtel packen.
„Solls ein Geschenk sein?“.
„Nein, die soll für mich sein.“
Daheim entkorkte Frau Hartmann gut gelaunt eine Flasche Sekt, um auf ihren neuen Mitbewohner anzustoßen. Als sie die gelbe Schachtel öffnete krabbelte das Tierchen arglos auf sie zu und erklomm über Hand und Arm zutraulich ihre Schulter. Dort verharrte es kurz, schaute sich um, schlang den blanken, langen Schwanz anmutig um Frau Hartmanns Hals und schlüpfte in den Ausschnitt ihres flauschigen Angorapullovers. Die zarten Krallen krabbelten über ihren BH bis zum Bauch. Es kitzelte. Sanft zog Frau Hartmann das Tierchen unter dem Pullover hervor. „Eugen“ flüsterte sie entzückt und wusste gar nicht wieso sie ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war. Dann nahm Frau Hartmann die Tageszeitung, sank ins Sofa und begann zu lesen, was sich in der Welt so tat. Zwischen den Zeilen nippte sie ab und zu am Sekt oder hob ihren Blick und äugte müde zum Käfig hinüber, in dem es emsig raschelte und scharrte. Schon bald fielen ihr die Augen zu und ein rhythmisches Schnarchen entfleuchte ihren zittrigen Lippen, bis ein dröhnender Donnerknall sie aus dem flachen Schlummer riss. Draußen hing ein schwerer, schwarzer Himmel tief über Frau Hartmanns Garten. Schon prasselte es los. Sie leerte die Sektflasche, warf noch einen Blick auf Eugen, der in seiner kleinen Hängematte schlummerte, und begab sich dann selbst ins Bett.
Am nächsten Tag surfte Frau Hartmann eifrig im Internet: Ratten brauchen viel Auslauf und Beschäftigung und sollen wegen ihrer geselligen Veranlagung wenigstens in Paaren gehalten werden. Es war kurz vor vier und Frau Hartmann nippte nachdenklich am Wein – der erste an diesem Tag – dann war sie entschlossen, trank das Glas aus, klemmte ihr Krokotäschchen unter den Arm, steckte ein Pfefferminzbonbon in ihr knittriges Plisseemündchen und machte sich auf den Weg.
Der Verkäufer erkannte sie sofort. Ob alles in Ordnung wäre.
„Ja, ja“ aber sie wolle eine zweite Ratte, erklärte sich Frau Hartmann, wegen der Geselligkeit. Allerdings solle es auch ein Männchen sein, wegen der Fortpflanzung und so.
„Kein Problem. Wir haben seit einer Woche nur noch Männchen.“
Als die Tür mit dem üblichen Ding Dong hinter Frau Hartmann zufiel, meinte sie aus dem Laden ein unterdrücktes Kichern zu hören. Sie schaute kurz zurück und sah noch den grünen Papagei auf der Stange krächzen, da fuhr das Taxi auch schon vor. Über ihr ballten sich erneut düstere Wolken zusammen und verfinsterten den Himmel. Frau Hartmann fröstelte es.
Etwa drei Wochen später freute sich das gleichgeschlechtliche Rattenpaar auf wundersame Weise über Nachwuchs. Sieben winzige Rattenbabys, hatte Eugen, der in kurzer Zeit immer kugeliger geworden war, das Leben geschenkt. In Frau Hartmann zogen Wut und ohnmächtiges Entsetzten ein. Eines der Babys verspeiste Eugen wie eine Nuss, ein anderes lag eine Zeit lang leblos im Käfig, bis Frau Hartmann es beherzt herausfischte und im Garten begrub. Die fünf anderen Babys aber wurden von ihren Eltern so fürsorglich aufgezogen, dass sich Frau Hartmanns anfängliche Fassungslosigkeit in milde Anteilnahme verwandelte.
Es war dann eine handfeste Sommergrippe, und nicht etwa der Wein, wie ihre Bekannten es später besser zu wissen meinten, die Frau Hartmann ausgerechnet in diesen Tagen außer Gefecht setzte. Die Grippe kam zunächst schleichend, dann heftiger, schließlich überwältigte sie Frau Hartmann schlagartig mit hohem Fieber. Und bevor sie ihren Hausarzt Dr. Scheumann herbeirufen konnte, versank sie in dicke Kissen gehüllt, neben ihren Schützlingen auf der Couch im Fieberwahn. Mal wurde Frau Hartmann von heftigem Schüttelfrost hin und her geworfen, mal von hitzigen Schweißausbrüchen attackiert. Dann schlief sie wieder stundenlang. Sie träumte sehr wirr oder gar nicht und wenn sie die Augen aufschlug versuchte sie ihren Blick auf den über ihr kreisenden Kronleuchter zu heften. Nachmittags spürte sie manchmal wie die warme Spätsommersonne durch das Fenster auf ihr Lager schien. Alles kam ihr bunter als sonst vor, alles wippte auf und ab. Nur wenige Male erhob sie sich in diesen Tagen, sah nach den Ratten, versorgte sie mit dem Nötigsten oder trank ein Glas Wasser, bevor sie wieder apathisch auf die Couch zurücksank. Nebulös nahm sie unter schweren Augenliedern das lebendige Gewusel im Käfig wahr. Der Nachwuchs schien lebhafter zu werden, während ein erneuter Fieberanfall den Deckenleuchter heftig und bedrohlich über Frau Hartmann hin und her schwang.
Nach einigen Tagen besserte sich Frau Hartmanns Zustand. Das Fieber wich zurück und sie konnte sich in der Küche eine klare Brühe zubereiten und eine Scheibe Toast toasten. Mit beidem saß sie, immer noch entkräftet und benommen, auf ihrem Sofa vor dem dunklen Fernseher, als im Käfig Unruhe entstand. Ein regelrechter Tumult brach aus, der Plastikboden, die Gitter, der gesamte Käfig bebte und die heiße Brühe schwappte in Frau Hartmanns Schoß. Ihr Herz begann zu rasen, das Blut rauschte durch die Ohren, wich aus den Wangen. Mit schlotternden Beinen sprang sie auf, die ganze Brühe ergoss sich über das seidene Nachthemd. Ihr Kopf pochte. Jetzt tat Frau Hartmann tat, was sie tun musste: Sie öffnete die Türen des Käfigs. Ihre Villa war schließlich groß genug. Es war nicht schwer zu begreifen, dass sich eine siebenköpfige Rattenfamilie früher oder später im Käfig in die Haare kriegen musste. Nach und nach huschten die Tierchen in die Freiheit. Frau Hartmann versuchte sie zu zählen. Es waren mehr als sieben.
Sie schenkte sich einen Whisky ein, hob das Glas und starrte durch die bernsteinfarben funkelnde Flüssigkeit in ihr geräumiges Wohnzimmer. Alles war ruhig. Der Whisky brannte angenehm in Mund und Magen. Draußen schimmerte die Abendsonne. Frau Hartmann erhob sich und ging mit schwankend, schwachen Schritten auf die Treppe zu. Sie musste das versaute Nachthemd wechseln und würde sich wohl ein Stündchen ins Bett legen. Sie fühlte sich noch immer elend, matt und hundemüde. Und da passierte Frau Hartmann etwas, was jedem passieren könnte: Auf dem obersten Treppenabsatz verfehlte sie eine Stufe, trat ins Leere und fiel, bevor sie irgendwo Halt finden konnte, rittlings die alte Holztreppe hinab. Ihr war als teile jemand Hiebe gegen sie aus. Sie spürte noch wie der glänzend weiße Marmorboden des Entrees mit einem dumpfen Schlag gegen ihren Hinterkopf knallte. Ein Knacken durchzuckte den Nacken. Dann wurde alles schwarz, gefühllos und still und eine kleine rote Lache kroch langsam aus Frau Hartmanns linkem Ohr.
Die Leute von der Müllabfuhr hatten die Polizei informiert. Die Tonnen waren seit Wochen nicht mehr auf die Straße gestellt worden. Um die Kübel herum tollten ein paar junge Ratten ausgelassen durch den frischen Pulverschnee.
Die Kammerjäger, durchweg hartgesottene Kerle, wurden, noch während ihrer rohen Berufswitzeleien, beim Betreten der Villa allesamt still und bleich um die Nasen.
Der welke Fleischkörper der alten Dame war verschwunden und unter dem seidenen Nachthemd, das nur noch ein zarter Fetzen war, lugte ein fein abgenagtes Skelett hervor.
Nach getaner Arbeit zählten die Kammerjäger über tausend Ratten.
An einem trübsinnigen Tag, an dem auch das heiter warme Sommerwetter nicht die bleierne Schwermut von Frau Hartmanns Schultern lösen konnte, irrte sie, von Kopfschmerzen und unguten Gedanken geplagt, ziellos durch die Straßen der Stadt, um sich ein wenig abzulenken. Ausgerechnet vor der Kleintierhandlung „Zoofritze“ blieb sie stehen, um aus ihrer Handtasche ein Taschentuch zu zupfen. Sie schnäuzte sich und schwenkte ihren feuchten Blick zum Schaufenster. Wie schwarze Lakritzperlen schauten von dort zwei Äuglein aus einem spitzen, grauen Rattengesicht direkt in Frau Hartmanns tränensackunterhangene Augen.
„Ach, wie goldig!“ war ihr erster positiver Gedanke seit Tagen.
Das Tierchen hockte zwischen anderen goldigen Tierchen mit ebenso possierlichen Augen in einem Käfig: manche huschten, manche putzten sich und wieder andere waren eingeschlafen. Frau Hartmann zögerte kurz. Dann drückte sie, geleitet von der ihr eigenen kindlich Trotzigkeit, die Ladentür auf und trat ein. Ein helles Läuten erklang. Drinnen war es kühler als draußen und der dezente Geruch von Sägemehl, Heu und Tieren schlug ihr entgegen. Es schien niemand da zu sein. Frau Hartmann betrat einen Gang aus beleuchteten Aquarien, in denen bunte Fische gleichgültig ihre Bahnen zogen.
„Wenn ich helfen kann?“ Wie aus dem Nichts tauchte hinter den Aquarien ein zitronengelbes T-Shirt auf. Der Kopf des T-Shirts ragte ein gutes Stück über Frau Hartmanns Scheitel hinaus, so dass sich die Blicke erst trafen als Frau Hartmann, die von kleiner, zarter Statur war, ihren Kopf in den Nacken zurückbog: In einem hageren Gesicht blinzelten wasserblaue Augen.
„Ich wollte mich nur ein wenig umschauen.“
„Ja, schauen Se nur janz in Ruhe. Wenn Se fragen haben.“ und schon bückte sich das gelbe T-Shirt wieder in die Ecke zurück, aus der es gerade aufgetaucht war.
Frau Hartmann peilte die Gitterkäfige mit den Nagern an: Kaninchen, Hamster, Meerschweinchen, Mäuse. Am Käfig der letzteren baumelte ein laminierter Zettel mit der Aufschrift „Lebendfutter“. Direkt daneben stand der Käfig mit den Ratten. Das Tierchen mit den possierlichen Lakritzaugen erkannte sie sofort. Sie rief den Verkäufer:
„Die da, diese Ratte da hinten, die hätte ich gerne.“ Die wasserblauen Augen musterten Frau Hartmann mit zusammengekniffener Miene, wobei ein Hauch von Skepsis über die in Falten gezogene Stirn huschte. Aber schon im nächsten Augenblick bogen sich die Mundwinkel des Verkäufers zu einem wohlwollenden Lächeln und er fädelte seine linke Hand durch ein Törchen in den Rattenkäfig. Flink schnappten die langen Finger zu und zogen die Ratte an der Nackenfalte hervor. Das Tierchen zappelte, erstarrte dann und lies sich widerstandslos in eine gelbe Schachtel packen.
„Solls ein Geschenk sein?“.
„Nein, die soll für mich sein.“
Daheim entkorkte Frau Hartmann gut gelaunt eine Flasche Sekt, um auf ihren neuen Mitbewohner anzustoßen. Als sie die gelbe Schachtel öffnete krabbelte das Tierchen arglos auf sie zu und erklomm über Hand und Arm zutraulich ihre Schulter. Dort verharrte es kurz, schaute sich um, schlang den blanken, langen Schwanz anmutig um Frau Hartmanns Hals und schlüpfte in den Ausschnitt ihres flauschigen Angorapullovers. Die zarten Krallen krabbelten über ihren BH bis zum Bauch. Es kitzelte. Sanft zog Frau Hartmann das Tierchen unter dem Pullover hervor. „Eugen“ flüsterte sie entzückt und wusste gar nicht wieso sie ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war. Dann nahm Frau Hartmann die Tageszeitung, sank ins Sofa und begann zu lesen, was sich in der Welt so tat. Zwischen den Zeilen nippte sie ab und zu am Sekt oder hob ihren Blick und äugte müde zum Käfig hinüber, in dem es emsig raschelte und scharrte. Schon bald fielen ihr die Augen zu und ein rhythmisches Schnarchen entfleuchte ihren zittrigen Lippen, bis ein dröhnender Donnerknall sie aus dem flachen Schlummer riss. Draußen hing ein schwerer, schwarzer Himmel tief über Frau Hartmanns Garten. Schon prasselte es los. Sie leerte die Sektflasche, warf noch einen Blick auf Eugen, der in seiner kleinen Hängematte schlummerte, und begab sich dann selbst ins Bett.
Am nächsten Tag surfte Frau Hartmann eifrig im Internet: Ratten brauchen viel Auslauf und Beschäftigung und sollen wegen ihrer geselligen Veranlagung wenigstens in Paaren gehalten werden. Es war kurz vor vier und Frau Hartmann nippte nachdenklich am Wein – der erste an diesem Tag – dann war sie entschlossen, trank das Glas aus, klemmte ihr Krokotäschchen unter den Arm, steckte ein Pfefferminzbonbon in ihr knittriges Plisseemündchen und machte sich auf den Weg.
Der Verkäufer erkannte sie sofort. Ob alles in Ordnung wäre.
„Ja, ja“ aber sie wolle eine zweite Ratte, erklärte sich Frau Hartmann, wegen der Geselligkeit. Allerdings solle es auch ein Männchen sein, wegen der Fortpflanzung und so.
„Kein Problem. Wir haben seit einer Woche nur noch Männchen.“
Als die Tür mit dem üblichen Ding Dong hinter Frau Hartmann zufiel, meinte sie aus dem Laden ein unterdrücktes Kichern zu hören. Sie schaute kurz zurück und sah noch den grünen Papagei auf der Stange krächzen, da fuhr das Taxi auch schon vor. Über ihr ballten sich erneut düstere Wolken zusammen und verfinsterten den Himmel. Frau Hartmann fröstelte es.
Etwa drei Wochen später freute sich das gleichgeschlechtliche Rattenpaar auf wundersame Weise über Nachwuchs. Sieben winzige Rattenbabys, hatte Eugen, der in kurzer Zeit immer kugeliger geworden war, das Leben geschenkt. In Frau Hartmann zogen Wut und ohnmächtiges Entsetzten ein. Eines der Babys verspeiste Eugen wie eine Nuss, ein anderes lag eine Zeit lang leblos im Käfig, bis Frau Hartmann es beherzt herausfischte und im Garten begrub. Die fünf anderen Babys aber wurden von ihren Eltern so fürsorglich aufgezogen, dass sich Frau Hartmanns anfängliche Fassungslosigkeit in milde Anteilnahme verwandelte.
Es war dann eine handfeste Sommergrippe, und nicht etwa der Wein, wie ihre Bekannten es später besser zu wissen meinten, die Frau Hartmann ausgerechnet in diesen Tagen außer Gefecht setzte. Die Grippe kam zunächst schleichend, dann heftiger, schließlich überwältigte sie Frau Hartmann schlagartig mit hohem Fieber. Und bevor sie ihren Hausarzt Dr. Scheumann herbeirufen konnte, versank sie in dicke Kissen gehüllt, neben ihren Schützlingen auf der Couch im Fieberwahn. Mal wurde Frau Hartmann von heftigem Schüttelfrost hin und her geworfen, mal von hitzigen Schweißausbrüchen attackiert. Dann schlief sie wieder stundenlang. Sie träumte sehr wirr oder gar nicht und wenn sie die Augen aufschlug versuchte sie ihren Blick auf den über ihr kreisenden Kronleuchter zu heften. Nachmittags spürte sie manchmal wie die warme Spätsommersonne durch das Fenster auf ihr Lager schien. Alles kam ihr bunter als sonst vor, alles wippte auf und ab. Nur wenige Male erhob sie sich in diesen Tagen, sah nach den Ratten, versorgte sie mit dem Nötigsten oder trank ein Glas Wasser, bevor sie wieder apathisch auf die Couch zurücksank. Nebulös nahm sie unter schweren Augenliedern das lebendige Gewusel im Käfig wahr. Der Nachwuchs schien lebhafter zu werden, während ein erneuter Fieberanfall den Deckenleuchter heftig und bedrohlich über Frau Hartmann hin und her schwang.
Nach einigen Tagen besserte sich Frau Hartmanns Zustand. Das Fieber wich zurück und sie konnte sich in der Küche eine klare Brühe zubereiten und eine Scheibe Toast toasten. Mit beidem saß sie, immer noch entkräftet und benommen, auf ihrem Sofa vor dem dunklen Fernseher, als im Käfig Unruhe entstand. Ein regelrechter Tumult brach aus, der Plastikboden, die Gitter, der gesamte Käfig bebte und die heiße Brühe schwappte in Frau Hartmanns Schoß. Ihr Herz begann zu rasen, das Blut rauschte durch die Ohren, wich aus den Wangen. Mit schlotternden Beinen sprang sie auf, die ganze Brühe ergoss sich über das seidene Nachthemd. Ihr Kopf pochte. Jetzt tat Frau Hartmann tat, was sie tun musste: Sie öffnete die Türen des Käfigs. Ihre Villa war schließlich groß genug. Es war nicht schwer zu begreifen, dass sich eine siebenköpfige Rattenfamilie früher oder später im Käfig in die Haare kriegen musste. Nach und nach huschten die Tierchen in die Freiheit. Frau Hartmann versuchte sie zu zählen. Es waren mehr als sieben.
Sie schenkte sich einen Whisky ein, hob das Glas und starrte durch die bernsteinfarben funkelnde Flüssigkeit in ihr geräumiges Wohnzimmer. Alles war ruhig. Der Whisky brannte angenehm in Mund und Magen. Draußen schimmerte die Abendsonne. Frau Hartmann erhob sich und ging mit schwankend, schwachen Schritten auf die Treppe zu. Sie musste das versaute Nachthemd wechseln und würde sich wohl ein Stündchen ins Bett legen. Sie fühlte sich noch immer elend, matt und hundemüde. Und da passierte Frau Hartmann etwas, was jedem passieren könnte: Auf dem obersten Treppenabsatz verfehlte sie eine Stufe, trat ins Leere und fiel, bevor sie irgendwo Halt finden konnte, rittlings die alte Holztreppe hinab. Ihr war als teile jemand Hiebe gegen sie aus. Sie spürte noch wie der glänzend weiße Marmorboden des Entrees mit einem dumpfen Schlag gegen ihren Hinterkopf knallte. Ein Knacken durchzuckte den Nacken. Dann wurde alles schwarz, gefühllos und still und eine kleine rote Lache kroch langsam aus Frau Hartmanns linkem Ohr.
Die Leute von der Müllabfuhr hatten die Polizei informiert. Die Tonnen waren seit Wochen nicht mehr auf die Straße gestellt worden. Um die Kübel herum tollten ein paar junge Ratten ausgelassen durch den frischen Pulverschnee.
Die Kammerjäger, durchweg hartgesottene Kerle, wurden, noch während ihrer rohen Berufswitzeleien, beim Betreten der Villa allesamt still und bleich um die Nasen.
Der welke Fleischkörper der alten Dame war verschwunden und unter dem seidenen Nachthemd, das nur noch ein zarter Fetzen war, lugte ein fein abgenagtes Skelett hervor.
Nach getaner Arbeit zählten die Kammerjäger über tausend Ratten.