Auswechselspieler

Sebahoma

Mitglied
Wenn es im Frühling abends länger hell und tagsüber wärmer wird und die Kinder anfangen, draußen auf den Straßen und Spielplätzen Fußball zu spielen, dann steigen tausend Erinnerungen in mir auf, die mich niemals loslassen werden.

Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, ergriff der Fußballgeist Besitz von mir. Es fing damit an, dass mein Vater, mein älterer Bruder Manuel und ich viel gekickt haben. Vor unserer Garage, auf der Straße oder sonntags auch auf dem nahe gelegenen Bolzplatz. Es hat uns immer Spaß gemacht.

Während es mir vor allem um den Spaß ging, war Manuel immer sehr ehrgeizig. Für ihn war es nicht nur ein Spiel, sondern es war eine kleine Meisterschaft. Manchmal haben wir auch mit den Kindern aus der Nachbarschaft Fußball gespielt und die haben Manuel wegen seiner Technik und Schnelligkeit bewundert. Es stimmte auch, er war tatsächlich sehr gut. Oft sagten sie, aus ihm würde mal ein großer Spieler werden. Ich gebe zu, dass es mich damals geärgert hat. Warum nur aus ihm? Warum nicht aus mir? Doch ich sagte niemals etwas, denn er war nicht nur mein großer Bruder, sondern auch mein bester Freund.

Soweit ich weiß, war mein Vater schon immer großer Fußballfan gewesen und auch die Liebe zu seinem Verein musste schon immer da gewesen sein. Anfangs verstand ich nicht, wozu man einen Club braucht, denn man konnte doch auch einfach so spielen. Aber bald weihte uns mein Vater in die faszinierende Welt des Bundesligafußballs ein. Faszinierend vor allem, weil so unglaublich einfach: wir waren die gute Borussia in schwarz-gelb. Alle anderen waren doof und konnten es nicht. Ganz schlimm war vor allem Schalke in blau-weiß. Noch schlimmer waren nur die Bayern. Natürlich wurden wir BVB-Fans und bald ließ uns der Zirkus nicht mehr los.

Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Stadionbesuch. Manuel war älter als ich und bereits eine Saison dabei. Mann, war ich aufgeregt. So viele Leute, es war so laut im Stadion und es sah so riesig aus. Zwar konnte ich die einzelnen Spieler nicht so gut sehen wie zu Hause am Fernseher, aber die Stimmung war unschlagbar.

Die Angst, die ich bei den ersten Besuchen noch hatte, weil es so laut und so voll war, wich bald der Begeisterung für den Verein und die Mannschaft. Ich jubelte mit und das Stadion wurde mein zweites zu Hause. Wir genossen unsere Ausflüge in die Sportwelt. Wenn wir am Samstag zu dritt in den schwarz-gelben Fußballtempel pilgerten, war das unsere heilige Zeit. Die konnte uns niemand nehmen.

Vor allem erinnere ich mich natürlich an dieses eine Spiel. Mein Bruder hatte sich zu einem Schüleraustausch angemeldet. Ganze drei Wochen wollte er weg sein und das, obwohl die Saison sich schon dem Ende neigte und wir gute Chancen auf den Titel hatten. Ganz verstehen konnte ich es nicht. „Da steckt bestimmt ein Mädchen dahinter!“, flüsterte mir mein Vater auf dem Weg zum Stadion zu und Manuel verdrehte die Augen.

Aber abhalten konnten wir ihn nicht mehr. Er war fest entschlossen. „Die schaffen das auch ohne mich. Dann müsst ihr sie eben umso mehr anfeuern!“, sagte er nur. Es ärgerte mich, denn es fühlte sich an, als seien wir ihm nicht mehr wichtig. Wieder sagte ich nichts und ließ ihn machen.

Beim Heimspiel vor seiner Abreise, waren wir nochmal im Stadion. Wir brauchten nur noch ein paar Punkte, ein paar mehr als der Tabellenführer und es waren noch zwei Spieltage. In der Luft hing dieser Geruch des Titels, alle wussten, dass es möglich war. Aber alle wussten auch, dass es schwer werden würde, denn die Gäste brauchten die Punkte mindestens genauso und der Tabellenerste würde ebenfalls kämpfen. Aber der Fußball hat seine eigenen Gesetze und nach einundzwanzig Minuten wurde der Ball nach vorne gespielt, unserem Stürmer direkt vor die Füße und der knallte das Ding geschickt ins gegnerische Tor. Das war die Führung. Das Stadion flippte aus. Alle schrien vor Begeisterung, alle lagen sich in den Armen und stimmten die Vereinshymne an.

Wir spielten weiter gut, aber nach dem Seitenwechsel wendete sich das Blatt und die Gäste erinnerten sich, dass sie gewinnen wollten. So überraschte dann der Ausgleich auch nicht. „Wir können es trotzdem noch schaffen. Wir haben noch einen guten Auswechselspieler auf der Bank. Wenn er den bringt, dann macht der bestimmt noch einen rein!“ Diese Worte meines Bruders höre ich heute noch immer in meinen Ohren, dazu den Lärm von der Tribüne.

Um uns herum herrschte Frust. Ein Punkt würde nicht reichen und es waren nur noch wenige Minuten. Dann ging alles ganz schnell. Das Zeichen für einen Wechsel, Manuels Spieler kam. Ich sah meinen Bruder zu mir rüber grinsen, er zwinkerte mir zu. Keine zwei Minuten war der Spieler auf dem Feld, da kam er plötzlich an den Ball, rannte drauflos und schaffte es irgendwie die Kugel im Netz zu versenken. Jetzt gab es kein Halten mehr. Wir lagen uns in den Armen und sprangen. Die Tribüne schien zu beben. Dann hielten alle ihre Schals hoch und sangen die Hymne so laut sie konnten. Um uns hatten die Leute Tränen in den Augen. War das die Meisterschaft? Auf jeden Fall war sie in greifbarer Nähe. „Was habe ich gesagt? Den musste er bringen, genauso einen brauchten wir!“, lachte Manuel.

Zwei Tage später flog er los. Als ich aus der Schule kam, bemerkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Mein Vater hielt meine Mutter in den Armen. Die nächsten Tage kamen mir wie in einem anderen Leben vor. „So viele Flüge jeden Tag, die völlig problemlos verlaufen. Warum saß er ausgerechnet in diesem? Warum ausgerechnet Manuel?“ fragte ich meinen Vater. „Weil er jetzt eben an einem anderen Ort gebraucht wird!“, sagte er.
 

Vagant

Mitglied
Hallo Sebahoma, eine melancholische Erinnerung an die Tage der Kindheit und den verunglückten Bruder. Der Erzählton ist sehr ruhig und aufgeräumt. Das hat mir im Grunde recht gut gefallen. Ich möchte nur zwei, drei Anmerkungen machen. Es sind halt so Sätze, wie "Manuel war sehr ehrgeizig" die mir immer wieder vor Augen führen, dass am Hinweis "show don't tell" so viel falsches nicht sein kann. Ich möchte so was nicht einfach immer nur erzählt bekommen. Genau das sind die Sachen die man in einer kleinen Szene zeigen kann, ein kleiner wiedergegebener Dialog, ein Spruch des Bruders, irgendwas, etwas was den Text lebendig werden lässt und den Leser nah an die Figur bringt.
Im Laufe des Erzähltextes passt hier und da ein Wort nicht so recht. "Das Stadion flippte aus", also hier passt das 'flippte' so gar nicht in den Erzählton.
Für den letzten Absatz gilt eigentlich das, was ich oben schon erwähnte. Dies sind genau die Stellen, die ich als Leser gern aus erzählt haben möchte. Jede Bewegung, jeden Gedanken, jedes Wort, die Verzweiflung, all das. Ja bitte schön, erzähl mir die Tragik dieses Momentes. Ich will das alles wissen. Ich denke, hier liegt das eigentliche Potential der Geschichte.
LG Vagant.
 

Sebahoma

Mitglied
Wenn es im Frühling abends länger hell und tagsüber wärmer wird und die Kinder anfangen, draußen auf den Straßen und Spielplätzen Fußball zu spielen, dann steigen tausend Erinnerungen in mir auf, die mich niemals loslassen werden.

Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, ergriff der Fußballgeist Besitz von mir. Es fing damit an, dass mein Vater, mein älterer Bruder Manuel und ich viel gekickt haben. Vor unserer Garage, auf der Straße oder sonntags auch auf dem nahe gelegenen Bolzplatz.

Manchmal haben wir auch mit den Kindern aus der Nachbarschaft Fußball gespielt. Dann sind wir alle zusammen zum Bolzplatz gegangen und haben uns in Mannschaften eingeteilt. Ich erinnere mich noch gut an diesen einen Nachmittag. Es war heiß und in der Luft lag Staub von der trockenen Erde. Das halbe Dorf saß am Rande des Platzes und wohnte dem Spektakel bei. Wir hatten schon lange gespielt und waren ganz schön geschafft. Bei der Hitze wollten alle aufhören. Aber Manuels Mannschaft lag hinten. Das war ungewohnt und Manuel konnte es nicht gut sein lassen. Er legte sich mit jedem an, der aufhören wollte und schrie so lange herum bis wir weiterspielten und seine Mannschaft wieder führte. So ein Angeber. Für ihn war es nicht nur ein Spiel, sondern für ihn war jedes Spiel eine kleine Meisterschaft.

Die Menschen bewunderten ihn für seinen Ehrgeiz, seine Technik und seine Schnelligkeit. Sie sagten, aus ihm würde mal ein großer Spieler werden. Ich gebe zu, dass es mich damals geärgert hat. Warum nur aus ihm? Warum nicht aus mir? Ich war doch auch nicht viel schlechter als er und dafür noch jünger.

Ich habe immer versucht, ihm nachzueifern. Ich guckte mir von ihm viele Tricks ab und wenn ich den Ball bekam, lief ich so schnell ich konnte und konzentrierte mich auf die Technik. Aber Manuel war eben immer ein Stück besser. Manchmal habe ich ihn dafür gehasst und wünschte mir, er wäre nicht da, damit alle mich bewundern. Doch ich sagte niemals etwas, denn er war nicht nur mein großer Bruder, sondern auch mein bester Freund.

Weil mein Vater schon immer Fußballfan gewesen war, nahm er uns bald auch ins Stadion mit. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten Stadionbesuch. Mann, war ich aufgeregt. So viele Leute, so ein Lärm im Stadion und es sah so riesig aus. Zwar konnte ich die einzelnen Spieler nicht so gut sehen wie zu Hause am Fernseher, aber die Stimmung war unschlagbar. In mir erwuchs eine große Begeisterung für den Verein und die Mannschaft. Ich jubelte mit und das Stadion wurde mein zweites zu Hause. Wir genossen unsere gemeinsamen Männerausflüge in die Sportwelt. Wenn wir am Samstag zu dritt in den Fußballtempel pilgerten, war das unsere heilige Zeit. Die konnte uns niemand nehmen.

Doch bald verkündete Manuel, dass er sich zu einem Schüleraustausch angemeldet hatte. Ganze drei Wochen wollte er weg sein und das, obwohl die Saison sich schon dem Ende neigte und wir vielleicht sogar Chancen auf den Titel hatten. Das konnte ich gar nicht verstehen. Fußball war doch unsere Welt. Aber für Manuel galten ja ohnehin andere Gesetze.
„Da steckt bestimmt ein Mädchen dahinter!“, flüsterte mir mein Vater auf dem Weg zum Stadion zu und Manuel verdrehte die Augen. Abhalten konnten wir ihn jedenfalls nicht mehr. Er war fest entschlossen.
„Die schaffen das auch ohne mich. Dann müsst ihr sie eben umso mehr anfeuern!“, sagte er nur. Es ärgerte mich. Jetzt waren wir ihm also nicht mehr wichtig genug. Wieder sagte ich nichts und ließ ihn machen.

Beim Heimspiel vor seiner Abreise waren wir nochmal zusammen im Stadion. Wir brauchten nur noch ein paar Punkte, ein paar mehr als der Tabellenführer und es waren noch zwei Spieltage. In der Luft hing dieser Geruch des Titels, alle wussten, dass es möglich war. Aber alle wussten auch, dass es schwer werden würde.
Doch in der einundzwanzigsten Minute wurde der Ball nach vorne gespielt, unserem Stürmer direkt vor die Füße und der knallte das Ding geschickt ins gegnerische Tor. Das war die Führung. Alle sprangen und schrien vor Begeisterung, alle lagen sich in den Armen und grölten laut den Torsong mit.

Nach dem Seitenwechsel wendete sich das Blatt. Die Gäste spielten viel konzentrierter und so überraschte der Ausgleich auch nicht. Um uns herum herrschte Frust. Ein Punkt würde nicht reichen und es waren nur noch wenige Minuten.
„Wir können es trotzdem noch schaffen. Wir haben noch einen guten Auswechselspieler auf der Bank. Wenn er den bringt, dann macht der bestimmt noch einen rein!“, sagte Manuel, aber niemand von uns wollte so recht daran glauben.

Dann ging alles ganz schnell. Das Zeichen für einen Wechsel, Manuels Spieler kam. Ich sah meinen Bruder verdutzt an und der grinste und zwinkerte mir zu. Keine zwei Minuten war der Spieler auf dem Feld, da kam er plötzlich an den Ball, rannte drauflos und schaffte es irgendwie die Kugel im Netz zu versenken. Jetzt gab es kein Halten mehr. Wir lagen uns in den Armen. Wir hüpften und die Tribüne schien zu beben. Alle hielten ihre Schals hoch und sangen die Hymne. Um uns hatten die Leute Tränen in den Augen. War das die Meisterschaft? Auf jeden Fall war sie in greifbarer Nähe.
„Was habe ich gesagt? Den musste er bringen, genauso einen brauchten wir!“, lachte Manuel.

Zwei Tage später flog er los. Als ich aus der Schule kam, standen meine Eltern in der Küche und mein Vater hielt meine Mutter in den Armen, die ihr Gesicht verdeckte und ich hörte, wie sie weinte. Sofort ahnte ich, dass etwas mit Manuel war. Mein Vater drehte sich zu mir, beugte sich zu mir herunter und berichtete, was passiert war. Er sprach mit gefasster und ruhiger Stimme als erzähle er mir etwas völlig Normales und tatsächlich schien mein Leben zunächst nicht viel anders zu sein.

Meine Eltern schickten mich weiter zur Schule. Sie meinten, es wäre besser für mich, wenn nicht plötzlich alles anders war. In der Schule wussten es bald alle. Viele sagten mir, dass es ihnen Leid tue. Komischerweise war ich gar nicht traurig. Es fühlte sich nur seltsam an, dass plötzlich ich im Mittelpunkt stand.

Aber als ich an dem Tag, an dem Manuel hätte zurückkommen sollen, auf dem staubigen Bolzplatz herumkickte, mir die Sonne auf meine Haut brannte, ich mich umsah und weit und breit niemanden sah, da wurde mir ganz plötzlich klar, dass Manuel nicht wieder kommen und ich nie wieder mit ihm spielen würde. Eine eisige Kälte überkam mich in diesem Moment und eine große Traurigkeit ergriff mich. Ich musste weinen und rannte nach Hause.

„Komm doch zurück, Manuel! Ich habe es doch nicht so gemeint, ich war nur so böse auf dich, weil du besser bist. Aber jetzt darfst du auch wieder gewinnen. Du musst zurückkommen, von wem soll ich mir denn sonst die Tricks abgucken?“, flüsterte ich unter Tränen, als ich in meinem Zimmer vor einem gemeinsamen Bild von uns beiden stand. Fast fühlte ich mich schuldig ob der schlechten Gedanken, die ich manchmal gehabt hatte.

Zu meiner Traurigkeit kam bald eine große Wut, weil ich nicht verstand, warum es so sein musste. Was sollte es für einen Sinn machen, dass Manuel nicht mehr da war? Er wollte doch ein großer Fußballspieler werden. Die Sinnlosigkeit machte meine Traurigkeit noch schlimmer.
Mein Vater kam um mich zu trösten. Er nahm mich in seine Arme und drückte mich. Ich befreite mich wieder und sah ihn an.
„Warum ausgerechnet Manuel?“ fragte ich ihn.
„Manuel war doch ein guter Spieler, oder?“, fragte er mich und ich nickte.
„Dort, wo er jetzt ist, kann er den ganzen Tag spielen und trainieren und wird immer besser. Die haben ihn nur geholt, weil er so gut ist. Er wird jetzt eben an einem anderen Ort gebraucht!“, sagte er.

Der Gedanke, dass Manuel an einem Ort war, wo er weiterspielen konnte, beruhigte mich. Irgendwann glaubte ich so fest daran, dass ich mich für ihn freute.
„Also gut, Manuel, dann lass und weiter spielen. Ich hier unten und du dort oben. Irgendwann spielen wir wieder zusammen“, flüsterte ich später, als ich wieder vor unserem gemeinsamen Bild stand.
 



 
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