B52

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Anonym

Gast
B52

Die Sonne scheint in mein Arbeitszimmer. Der erste sommerliche Tag des Jahres! Vor meinen geistigen Augen spielen Kinder Fußball, Frauen und Männer sitzen auf dem Rasen und alle Lachen! Diese Hitze und diese Fröhlichkeit sorgen bei mir für Depressionen. Nein, bei solchem Wetter kann kein Mensch in einem Arbeitszimmer sitzen und etwas schreiben. Ich muss hier raus!
Ein kleiner Spaziergang wird vielleicht helfen, sich an die übertriebene Heiterkeit der Menschen zu gewöhnen. Wie erwartet herrscht in den Strassen eine Art Aufbruchsstimmung. Oh - ihr Einfältigen, ein paar chemische Reaktionen in euren Körpern verhelfen euch zum glücklich sein. Ich fühle Neid. Die Cafes breiten sich bereits auf die Gehwege aus und ohne Überzeugung unterstütze ich diese Okkupation und nehme in einem lächerlichen Bistro Platz.
Ich wünschte, mir ein Haus in Irland leisten zu können. Es wird wohl bei dem Wunsch bleiben. Doch an so heißen Tagen wie diesem, lebt die grüne Insel in meiner Phantasie. Ich stelle mir vor, in einem, von singenden und Guinnesstrinkenden Irenen errichteten grauen Backsteinhaus aus dem Fenster zu starren. In mir lebt die Gewissheit, dass die Arbeiter, welche mein abgeschiednes Domizil erbauten, irgendwo sitzen, Bier literweise in sich rein schütten, Dart spielen und kämpferische Lieder aus alten Zeiten grölen. Diese Vorstellung beruhigt mich. Draußen regnet es in Strömen und Wind peitsch unablässig gegen die (von mir gelockerte) Fensterlade im Obergeschoss. Ja, so muss ein Schriftsteller leben! Eingezwängt in seiner eigenen kleinen Welt aus grauem Backstein und Kaminholz, wird man durch die Naturgewalten daran gehindert in den Pub zu gehen.
In meiner Phantasie setzte ich mich in melancholischer Stimmung an den Schreibtisch und verfasse ein Meisterwerk über Einsamkeit und Sehnsucht.
Durch den Nebel, welcher ständig in Irland herrscht, erkenne ich einen B52 Bomber auf meine kleine Insel zufliegen. Am Steuerknüppel sitzt ein Kellner, der mit einem unmotiviertem Lächeln Atombomben auf meine kleine Welt wirft.
“Was soll es sein?” Bumm! Das kleine grüne verregnete romantische inspirative Idyll verpufft in einem glühenden und doch kalt wirkenden Pils.
“Ein kaltes Pils”, antworte ich ein wenig verärgert und möchte am liebsten dem Kellner hinterher rufen, dass er ein Terrorist sei.
Nun gut. Ich sitze im sonnigen Deutschland und versuche in einem nichtssagenden Bistro einen geistreichen, allen Ansprüchen genügenden Text zu verfassen. Da drängt sich die Fragen auf, was alle Ansprüche seien? Politisch korrekt, niemanden verärgernd, technisch brillant, elegant- mir fällt eine Textzeile ein: “ Und wenn der Weltschmerz sich in seinem eigenen Spiegelbild verdingt, und Rilke Doppelsalti in der Zirkuskuppel springt, dann lädt die Eitelkeit den Ausverkauf zum Stelldichein, der Scharlatan stellt dem Genie ein Bein, wenn Worte tanzen in verschnörkelter leichter Eleganz. -- Stop, was für ein Blödsinn.!”. Jetzt habe ich den Faden verloren.
Also, von vorn: Ich sitze im sonnigen Deutschland und versuche in einem Biergarten einen geistreichen meinen Ansprüchen genügenden Text zu verfassen.
Da der Kellner meine Trauminsel in Schutt und Asche gebombt hat, beschließe ich, ihn fortan die Bedienung zu nennen. Die Bedienung stellt lustlos das Bier auf den Tisch. Zwei Mädchen im Alter zwischen: ich find Kristina Arguilera ja viel viel besser als Spears - und die Moderatorenschlampe von MTV ist doch viel zu alt, nehmen an einem Tisch neben mir Platz. Der lustlose Gesichtsausdruck der terroristischen Bedienung verschwindet schlagartig.
“Einen entzückenden Tag wünsche ich. Was darf ich euch bringen?”
Einen entzückenden Tag! Jetzt zeigt dieser Kriegstreiber das gesamte Spektrum seines schlechten Charakters. Terrorist reicht wohl nicht? Nein, es muss ein triebgesteuerter, die Menschen in Klassen aufteilender Terrorist sein, der auch noch versucht Minderjährige zu verführen. ( Wobei sich die Frage aufdrängt, ob es nicht in der Natur der Sache liegt, dass Terroristen die Menschen in Gruppen und Klassen aufteilen?).Es geht aber noch weiter! Nicht nur, dass er mir keinen entzückenden Tag wünscht, nein, den Pubertierenden darf er etwas bringen, bei mir, soll es etwas sein.

Hinterlistig kichere ich leise und denke: Abgerechnet wird zum Schluss. Du wirst dein Trinkgeld-Waterloo schon bald erleben. Ja ich sehe das riesige Gemälde der Schlacht von Waterloo vor mir. Anstelle von Napoleon, sitzt die Bedienung auf dem weißen Ross. Ein kleiner General, der mir sehr ähnlich sieht, steht unten links am Bildrand und lächelt in weiser Voraussicht, über das nahende Ende der napoleonischen Bedienungsherrschaft.

Maler müsste man sein - und Zeit haben. Die Mädchen drehen sich immer wieder nach vorbeikommenden “Boys” um. Zufällig werde ich dabei von ihren Blicken gestreift, doch mein weißer Teint scheint mir Unsichtbarkeit verliehen zu haben. Oder sitze ich in einem Haus in Irland und denke mir diese Geschichte aus. Ein Schluck von dem gepanschten Bier holt mich sofort aus meinen Gedanken. Ich schätze, dass es in Irland irgendwo einen Felsen gibt, der speziell für bierpanschende Wirte reserviert ist.
Die Mädchen entdecken einen scharfen Boy und kichern. Mein Gott, hier kann doch kein Mensch vernünftig arbeiten.
Ja kichert nur, die Zeit wird euch das Lachen schon nehmen.

Die Zeit.
Von der Sonne und den gepanschten Bier aufgeheizt, rutschen die Gedanken in eine ferne Welt. Ich stehe in einer großen Halle aus Marmor und sehe die Zeit. Sie trägt einen mit Farbe beschmierten Kittel, ein Barett und hält einen großen Pinsel in der Hand.
Die Zeit malt einen Bilderzyklus über Frauen.
Das erste Bild zeigt eine Gruppe niedlicher Mädchen. Das Bild ist normal groß und in kräftigen Farben gezeichnet. Das zweite Bild zeigt junge, hübsche Mädchen, ebenfalls in starken ,nicht ungewöhnlichen Farben. Dann folgt ein großes Bild. Junge Frauen und Frauen in mittleren Alter - schön anzusehen, interessant, verwegen, lustvoll, fragend, irgend etwas wissend. Ein Meisterwerk für Augen und Sinne. Die Farben scheinen zu leuchten, nichts ist eindeutig und doch alles so klar.
Das vierte Bild ist nur noch halb so groß, ältere Damen stehen teils mit dem Rücken zum Betrachter und die Farbe scheinen zu verblassen , ebenso wie ihre Gesichter und Körper.
Oh Zeit, du unbarmherzige Malerin. Das Abschlussbild ist eine Miniatur mit nur einer Frau darauf. Tief gebeugt von der Last der zubodenhängenden Brüste scheint ihr Gesicht schmerzverzehrt. Die alles überschattenden Färbung ist grau - mit einer Ausnahme. Mit dem Versuch Farbe in ihrem Gesicht unterzubringen, die im Gesamtvolumen ausreichend wäre, um ein sechsstöckiges heruntergekommenes Haus in eine Wohnidylle zu verwandeln, wird das Elend deutlich. Ihre Schönheit ist verflogen. Wo ist die jugendliche Unschuld hin? Wo der ästhetische, gutgebaute, schlanke Körper? Die Grazie, Eleganz, Anmut – alles weg. Statt dessen zeigt das letzte Bild einen gebrechlichen Menschen, der versucht, mit Hilfe von, in grausamen Tierversuchen erzeugte Kosmetika, alte Schönheit aufleben zu lassen.
In der marmornen Halle sehe ich die beiden Mädchen vom Nebentisch, wie sie sich den Bilderzyklus über den Mann ansehen.
“Scharfer Boys “ höre ich sie kichern.
Ja kichert nur!. Auch euch wird die Zeit einholen. Und noch so viele Operationen und Farben werden nicht verhindern, dass ihr wie alte Lederlappen aussehen werdet. Dann seid auch ihr unsichtbar!

Der B52 Bomber kommt wieder geflogen. Ich spüre die durch die Sonnenstrahlen ausgelösten chemischen Reaktionen und gebe der Bedienung doch Trinkgeld. Soll sein persönliches Waterloo an einem anderen Zeitpunkt stattfinden.
Beim Verlassen des Biergartens lächelt mir eine der beiden Mädchen zu.
Ich denke: Vorerst kann Irland bleiben, wo es ist und was die Zeit angeht, na ja -- vielleicht habe ich mich ja geirrt!
 

Roni

Mitglied
halla A.



sicher im stil, sicher in den bildern und sicher im treffen eines nervs (oder heisst es nerves) bei mir. ich habe deinen text zweimal jeweils in einem rutsch weggelesen und hatte dabei ein permanentes grinsen im gesicht.
kleinigkeiten wie zubodenhaengende (wohin sonst) oder
seit statt seid (bei: seid ihr auch unsichtbar) ueberles ich, wenn mir das lesen ein solches vergnuegen bereitet.
einzig:
"die im Gesamtvolumen ausreichend wäre, um ein sechsstöckiges heruntergekommenes Haus in eine Wohnidylle zu verwandeln" wuerde ich vielleicht streichen oder zumindest kuerzen.
so, genug textarbeit.

ich habe lange ueberlegt, ob ich den zur bedienung mutierenden kellner zu meiner lieblingsstelle mache ...
oder die zu asche zerbombte trauminsel ...
oder die "gelockerte" fensterlade ...
aber mich dann doch fuer folgenden satz entschieden:
"Oder sitze ich in einem Haus in Irland und denke mir diese Geschichte aus."

also langer rede kurzer sinn: klasse!

lg
roni
 



 
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