Bananen-Hugo

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Hugo war vor der Wende DDR-Bürger und ist nach dieser Mitbewohner der Bundesrepublik Deutschland. Als sich die Wiedervereinigung flächendeckend ausweitete, war auch er von der um sich greifenden Bananenesslust erfasst. Ihn ergriff das gleiche Hochgefühl wie bananensüchtige Affen.
„Endlich frei!“, jauchzte er und warf die Schale der verzehrten Banane hinter sich. Als Bürger eines Rechtsstaates hatte er ein Recht dazu. Das war ihm als DDR-Bürger nicht vergönnt gewesen, weil es in diesem Unrechtsstaat keine Bananen gab.
Als sich Hugo weiteren freiheitlichen Gedanken hingeben wollte, ertönte hinter ihm ein markerschütternder Schrei. Erschrocken schaute er sich um und sah eine ältere Frau am Boden liegen. Zunächst dachte er, sie hätte die gleiche Empfindung wie er und sei beglückt zu Boden gesunken. Weil sie aber liegen blieb, rückte er von seiner Vermutung ab. Irgendjemand musste sie zu Boden gestoßen haben. Weil sich mehrere Personen um sie scharten, konnte Hugo nicht feststellen, wer es getan haben könnte. Das Wimmern der Gestrauchelten veranlasste einen graumelierten Herrn, sich über sie zu neigen und zu fragen, ob sie aus dem Osten komme. Was sie antwortete, konnte er nicht verstehen, weil ihre Lippen zitterten.
Eine junge Frau schloss daraus, dass sie friere. Sie wies auf die ärmliche Bekleidung der Liegenden hin und sagte, dass solche schäbigen Klamotten von Ossis getragen werden.
Eine gut betuchte Dame meinte, dass es höchste Zeit gewesen sei, die geknechteten Brüder und Schwestern der Ostzone in die Freiheit zu führen. Hugo fasste die Dame näher ins Auge und ersah sie als typische Eingeborene des goldenen Westens. Ihr Schmuck am Hals und an den Fingern glänzte gülden. Zu solcher Wohlhabenheit wollte er seine Gattin demnächst auch führen. Momentan war ihm das nicht möglich, weil sie sich im KaDeWe eine Feinstrumpfhose kaufte.
Die am Boden liegende Frau hatte ihr Wimmern eingestellt und die Augen geschlossen.
„Ob sie schon tot ist?“, fragte eine andere Frau bekümmert und drückte den Kopf ihres kleinen Sohnes fest an sich, damit er solche Scheußlichkeit nicht sieht.
Jemand brachte den Mut auf, sich neben die scheinbar Tote zu knien und ihre Halsschlagader zu fühlen.
„Sie lebt noch“, verkündete er und löste damit ein befreites Aufatmen der Umstehenden aus.
„Sie sollte aufgehoben werden“, meinte eine andere Person, „sie könnte sich erkälten und eine Lungenentzündung davontragen.“
„Sie sollte im Ganzen davongetragen werden, am besten in ein Krankenhaus.“
Zustimmendes Gemurmel. Plötzlich teilte sich die Menge. Ein Mann trat in Erscheinung, der sofort als Polizist erkannt wurde. Der würde wissen, was zu tun ist. Hugo wartete gespannt auf dessen Amtshandlung. Die DDR-Volkspolizisten hatten ihm immer Furcht eingeflößt, weil sie streng und unnahbar waren. Dieser Uniformierte gab sich freundlich und fragte lächelnd, ob man hier in kleinem Kreise die Wiedervereinigung preise. Man verneinte. Der Ordnungshüter entdeckte die am Boden liegende Frau und bat sie, sich zu erheben. Ein Bürgersteig sei kein öffentlicher Schlafplatz.
Weil jemand erwähnte, sie sei aus dem Osten und deshalb entkräftet zu Boden gesunken, ergänzte der Polizist seinen Hinweis mit den Worten, sie dürfe auf einer Parkbank schlafen; das sei auch Obdachlosen gestattet.
Die Liegende rührte sich nicht. Hugo trat in den Kreis, der sich um die Gefallene gebildet hatte und sagte, dass auch er von drüben sei. Er schätze sich glücklich, endlich freien Boden unter den Füßen zu haben und Bananen nach Herzenslust essen zu können. Die Umstehenden nahmen innerlich bewegt an seiner Glückseligkeit teil. Die Dame mit den goldenen Klunkern gab ihm einen Kuss und ein Fünfmarkstück, mit dem er sich einen lang gehegten Kaufwunsch erfüllen könne. Die Leute klatschten Beifall. Davon wurde die am Boden befindliche Frau wach. Ihre Rückkehr ins Bewusstsein machte sie mit einem Stöhnen hörbar.
„Sie ist aufgewacht“, freuten sich die anwesenden Altbundesbürger und gingen zufrieden mit sich und ihrem Dasein des Weges. Der Polizist wünschte Hugo und der Liegenden noch einen schönen Tag in der Bundesrepublik Deutschland und ging ebenfalls davon.
 



 
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