Barry Stotter, Folge 4: Wolki und andere Überraschungen

Anonym

Gast
Barry hatte ein Meer von Zeit durchmessen, spazierend durch die Vorortstraßen von London. Geschwommen war er, in einer grenzenlosen Glückseligkeit. Sämtliche Probleme der Welt waren seit dem Vormittag aus derselben geräumt worden. Wildfremden Menschen hatte er Guten Tag gesagt, hatte sich mit indischen Gemüsehändlern unterhalten und sie dabei mitleidig angesehen - denn Barry sprach nun feinstes Oxford-Englisch. Er war ein neuer Mensch und zum ersten Mal frei.

Als er sich ein wenig daran gewöhnt hatte und anfing, sich unter seinen Mitmenschen, die von Zielen getrieben durch die Stadt wuselten, wie ein Tagedieb vorzukommen - beschloss er, zum Gebäude W des Ministry of Magic zu gehen und sich zum Dienst zu melden. Barry Stotter war kein Drückeberger und das sollte Johnson Johnson noch heute erfahren. Die Zwiebeln und die frischen Karotten konnte er ja mitnehmen.

Wie er sich jedoch dem Gebäude W näherte, das sich derzeit als ausländische Bank tarnte, braute sich neues Unheil über ihm zusammen: Regen, ein ganz normaler Regen eigentlich, nicht besonders stark, aber auch kein Nieseln. Das Verblüffende war, dass es ausschließlich über Barry regnete. Während am Himmel einer jener seltenen Sonnentage lachte, wurde Barry von einer kleinen dunklen Wolke beschirmt und verfolgt. Er lief zunächst eine Ehrenrunde um die Bank und versuchte einen schnellen Slalom um Laternenmasten und Parkuhren. Aber die Wolke war stets genau so schnell wie er, und scheute auch die Drehtür nicht, durch die sie Barry in das Gebäude folgte.

Zwei Sicherheitsleute schauten grimmig, da Barry mit seiner Wolke die Teppiche nass machte. Doch Barry tat, als gehöre die Wolke gar nicht zu ihm, wenngleich er nicht sicher war, ob das funktionierte. Dies war ein gemeiner Fluch, den er so leicht nicht los werden würde. Im Stillen zählte er die Leute, die über seinen Hass auf Regen Bescheid wussten. Er kam auf genau einen.

Ronaldo meinte seine Scherze nicht böse. Es machte ihm nur großen Spaß, Menschen zu ärgern. Das dafür nur Schwächere in Frage kamen und er es nicht bei Johnon Johnson oder Hermann-Aphrodite tun konnte, lag in der Natur der Sache. Denn wenn sich das Opfer wehrte, wurde aus Spaß ganz schnell Ernst.

Ronaldo hatte stets nur Spaß im Sinn und war sein Freund. Barry machte sich das immer wieder bewusst. Indessen versuchte er zu fassen, was im Büro geschehen war. Patsy, seine Eule, saß nicht wie erwartet auf ihrer Stange am Fenster. Stattdessen lag ein gebratener Vogel in Alufolie gebettet auf dem Schreibtisch.

«Er sieht schlecht aus, amigo.» Barry vernahm die Stimme von Ronaldo, eine blecherne, immerzu ins Falsett kippende Stimme. Hohe und tiefere Töne wechselten sich ab wie bei einem Esel oder einer Sirene. Ronaldo ging an ihm vorbei zum Schreibtisch und setzte sich, um ganz unverfroren in einen von Patsys Flügeln zu beißen. «Was ist? ¿Cómo estás? Johnson sagt er ist krank, amigo. Aber Ronaldo nicht geglaubt. Ich hab Auftrag für dich organisiert. Magst du Parties? ¿Te gusto?» Ronaldo wieherte.

Barry konnte es immer noch nicht fassen. Dieser Ausländer hatte seine Eule gegrillt und verspeiste sie nun in aller Seelenruhe vor seinen Augen. Ihm war, als hörte er noch ihre erstickten Hilfeschreie. Entsprechend beklemmt fragte er: «Ronaldo, warum hast du meine Eule umgebracht und mir diese Regenwolke auf den Hals gehetzt?»

«Johnson wollte Strafe für dich wissen. Ich ihm gesagt. Machen nur seinen Job, Ronaldo. Und Eule ich nicht getötet, nur gerupft. Hier, siehst du?» Ronaldo zog die Schreibtischschublade auf und eine nackte Patsy sprang schimpfend heraus. Patsy flatterte, konnte jedoch nicht fliegen. So verkroch sie sich in eine Ecke. «Blöde Sau hat mich angemacht. Blöde Sau!!», schrie Ronaldo ihr nach.

Barry war heilfroh, dass es Patsy gut ging. Die Krankenschwester würde ihr neue Federn angedeihen lassen, und Patsy würde noch eine Weile den Dienst verweigern. Im Grunde aber war sie ok.

«Übrigens, du gehst zum Harry Potter Imitación Wettbewerb, amigo.», sagte Ronaldo schmatzend, während sie Patsy beobachteten, die sich in ihrer Ecke mit Makulaturpapier bedeckte.

«Ich?» fragte Barry ungläubig.

«Sí! Ronaldo hat Gedicht geschrieben für dich. Für Tarnung.» Ronaldo wischte sich die Finger mit einem karierten Taschentuch ab und gab Barry grinsend einen Zettel. Barry überflog ihn.

Hi, my name is Harry!
On my forehead I carry
A scar, and my dear parents
Ly on the cemetary.

'Cause He-who-must-not be-named
Killed them and was not ashamed
To try and kill me, too.
But I survived and grew

To become what - I - am
A fearless magic man.
Now look, this fist I clench
While longing for revenge.


«Lo-lo-longing-ing-ing for re-re-revenge. Ist das nicht zum Totlachen? ¡Caramba!» Ronaldo amüsierte sich köstlich. Dann beugte er sich über den Tisch und nahm Barry den Zettel wieder weg. «Ich pack dir in Folie. Wegen Wolke.»

Barry hatte die Wolke, die dafür sorgte, dass Wasser an ihm herunter rann, ganz vergessen. Er hatte sich auch schon mit ihr abgefunden, hatte sie liebevoll «Wolki» getauft. Das war seine Art, mit persönlichen Schwächen und Fehlern fertig zu werden. Sein Stottern hatte Stan geheißen. Das war kurz und ging leicht von der Zunge. Dass er nicht mehr stotterte, war darum fast wie der Tod eines nahen Verwandten - nur dass man da keine Luftsprünge machte. Beim Harry Potter Imitacíon Wettbewerb würde Barry entgegen den Erwartungen einfach nicht stottern. Die "bestimmten Situationen", die Sir Andrew angedeutet hatte, beunruhigten ihn nicht mehr. Nur von diesem Regenfluch müsste er sich eventuell noch befreien.

«Wa-was soll ich eigentlich bei dem We-we-wettbewerb? Was ist mein A-a-auftrag?», stotterte Barry künstlich. Ihm war natürlich klar, dass der «Auftrag» reine Schikane war.

«Du hältst offen die Augen, amigo.», erwiderte Ronaldo wie selbstverständlich und fügte flüsternd hinzu: «Du-weißt-schon-wer soll in Stadt sein.»

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G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Meer von Zeit...

Hallo A.,

war mir wieder ein Genuß, die neueste Folge von Barry Stotter zu lesen. Wirklich gekonnt geschrieben. Herrmann-Aphrodite! Lange nicht mehr so gelacht...
Schade nur, daß die Serie nicht von mehr Lesern entdeckt wird. (Bin allerdings nach wie vor der Meinung, daß kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen Qualität und Zugriffszahl - bzw. Resonanz beim Publikum - besteht. Ein wirklich guter Schreiber weiß um seine Qualitäten, kann auch seine Schwächen objektiv einschätzen, und ist mit seinem Selbstbewußtsein in "relativ stabiler Seitenlage"...)

Ein Hinweis: Das Bild vom "Meer an Zeit" ist okay, aber im Zusammenhang mit ver- oder zubringen? Ein Meer, egal welches, wäre besser zu durchmessen, auszupumpen, auszutrinken usw., Du bringst im darauffolgenden Satz selbst den Begriff in Zusammenhang mit einem entspr. Verb.

LG

P.
 

Anonym

Gast
Hallo P.,

vielen Dank für die positive Kritik. Ich habe deinen Rat beherzigt: Ein Meer von Zeit ist ein Meer und keine Zeit. Darum war "zugebracht" falsch". Das Meer wird nun "durchmessen" (passt am besten zur Erhabenheit der Situation).

Über mangelnde Resonanz kann ich nicht klagen. Eine Leserin hab ich ja. (Andererseits habe ich, um den Zugriff auf Folge 1 bis 3 zu erleichtern, unten Links angefügt ...)

Ein Autor weiß um seine Schwächen. Darum kann er an ihnen arbeiten, z.B. anonym in der Leselupe.

Hermann-Aphrodite hat in der nächsten Folge (wahrscheinlich) einen ersten kleinen Auftritt

Grüße,
A.
 



 
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