Begegnung

MIO

Mitglied
Mila´s Gedanken finden keinen Halt … nirgends. Die Uhr verlor die Zeit, die Waage ihr Gewicht. Jede Nacht verlor sich schlaflos in Nebelwänden, hinter denen ein Grauen lauert, welches sich nicht in Worte fassen lässt. Ihr Gehirn ist ein Labyrinth, das in sich selbst kreiselt. Dunkelbunte Farben fließen ineinander, Vergangenheit versinkt im Augenblick und reißt jedes Morgen mit in den Abgrund. Mila setzt zäh einen Schritt vor den anderen, um möglichst kein Geräusch zu machen.
Ihr Blick bleibt an der Überweisung hängen. Der Arzt hatte es eilig. Sie weiß nicht mehr was sie gesagt hatte und welche Antworten er gab. Er sprach von einer anderen Patientin mit drei verschiedenen Krebsarten. Eine Frau, die höchstens noch ein halbes Jahr zu leben hatte und keine Rente bekam. Er habe beherzt zum Telefonhörer gegriffen und wem auch immer, sie hatte es vergessen, gedroht die Bildzeitung anzurufen. Dann bekam die Frau ihre Rente. Warum hatte er ihr das erzählt?
Akute depressive Störung liest sie auf der Überweisung. Neben dem rosafarbenen Schein liegt ein Häufchen Schlaftabletten, ebenfalls rosafarben. Ene mene Muh und raus bist du …

Mila reicht der Dame hinter dem Tresen die Überweisung.
„Sie wollen bleiben?“, fragt sie ohne aufzuschauen. Mila denkt „nein“ und sagt „ja“. Verloren wartet sie auf dem Gang, wartet eine Stunde, beobachtet die weißen Kittel mit Akten unter dem Arm, die geschäftigen Blicke die hin und her laufen, beobachtet eine Frau mit dünnem weißen Haar, die unsicher ihren Körper über den Linoleumboden schiebt und in deren trüben Augen der Irrsinn sein Unwesen treibt.

Nach einer weiteren halben Stunde bekommt Mila ein Zimmer auf der Akkutstation. Ein Privatzimmer. „Sollen wir Ihre Angehörigen benachrichtigen?“, fragt die Schwester, die sich als Martina vorgestellt.
„Ja“, denkt Mila, sucht nach Namen und sagt „Nein“, ich habe keine Angehörigen.“

Im Zimmer legt sie sich auf das Bett und ist froh, dass sie mit niemandem sprechen muss. Es dauert nicht lange und die Außenwelt klopft an die Tür. Schwester Martina schiebt ein Bett herein:
„Wir haben einen Anruf bekommen. Es kommt gleich jemand zu Ihnen.“

„Jemand“, kommt zwanzig Minuten später, reicht Mila eine verschwitzte, dickfleischige Hand und presst abgekämpft zwei Worte hervor: „Cindy Joy“.
Mila rätselt noch, ob Joy zum Vornamen gehört, oder der Nachname ist, will fragen, lieber schweigen, aber darauf kommt es jetzt nicht an. Die Lippen der vollschlanken Cindy Joy prasseln pausenlos wie scharfe Säbel aufeinander. Ursprünglich hatte sie Magenschmerzen. Ihr Hausarzt überwies sie ins Kreiskrankenhaus. Dort untersuchten die Ärzte, Galle, Magen und Leber, fanden organisch nichts. „Kerngesund“, lachte sie hysterisch. So wurde sie in die Psychiatrie überwiesen. Cindy Joy kannte sich hier aus und war sich sicher; diesmal würde sie mehrere Wochen bleiben. Gehetzt sagt sie: „Das ist die Schuld von unseren Nachbarn. Die haben uns zum dritten Mal angezeigt, wegen Jacky, unserem Bordercollie. Der würde angeblich die ganze Nacht jaulen.“
Sie nahm ein Taschentuch, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und fuhr fort: „Einen Scheiß tut der Hund. Die wollen uns aus dem Haus haben, aber wir gehen nicht. Da können sie lange warten. Meine Anwältin…“

Sie hält inne, sortiert sich kurz. Zwei Gedanken scheinen sich in ihrem Gehirn zu überschneiden. Wichtiger als die Nachbarn ist nun die Sorge darüber, dass niemand weiß, wo sie sich aufhält. Sie will ihren Mann verständigen, der bestimmt schon die Polizei alarmiert hat. Hektisch kramt sie in ihrer Tasche, schlägt sich die flache Hand auf die Stirn und sagt:
„So ein Mist. Jetzt habe ich in der Eile mein Handy zuhause vergessen.“
Mila nimmt ihr Handy vom Nachttisch und reicht es Cindy Joy.
Diese zwinkert dankbar, wählt sich ein und plärrend in einem sich selbst überschlagendem Tonfall erklärt sie ihrem Mann, wie elend es ihr ginge. Dass sie wieder einen Brief vom Anwalt der Nachbarn im Briefkasten hatte und nun sicher ein paar Wochen in der Klinik bleiben müsse. Dann wird sie still. Als sie wieder zu sprechen beginnt, wird ihre Stimme mit jedem Satz dünner und weinerlicher.
Am Ende schluchzt sie laut auf. Tränen laufen die fülligen Wangen herunter:
„Nein, der arme Kleine, kannst du ihn nicht aufmuntern. Gib ihm ein Leckerli. Oder geh ein bisschen mit ihm an die frische Luft. Sag ihm, Mama kommt bald nach Hause. Ja, ich werde die Ärztin fragen. Küsschen. Küsschen. Sie schmatzte drei Mal in die Luft flüsterte „Ja, ich dich auch.“,
Sie reichte Mila das Handy und jammerte aufgelöst:
„Jacky … Es … es … geht ihm beschissen. Er vermisst mich.“
Die Tür geht auf und Schwester Martina nimmt Cindy Joy mit zur Ärztin.

Mila schiebt sich einen Kaugummi in den Mund. Die Luft ist aufgeheizt und stickig. Das Fenster hat keinen Griff. Mila geht auf den antiseptischen Gang, steuert auf die breite Glastür zu. Fest drückt sie auf die Klinke und ein ohrenbetäubendes Piepen, welches sie an die Alarmanlage im Supermarkt erinnert schallt in ihren Ohren. Eine Schwester kommt gerannt und schimpft aufgeregt:
„Hier ist kein Ausgang!“

Als Mila auf einer der verwitterten Bänke im Park sitzt, fühlt sie sich wie ein Zug, der ausrangiert auf dem Abstellgleis steht. Sie schließt die Augen. Ein Vogel krächzt heiser, mehrere antworten. Leise Schritte nähern sich. Ein mageres, hohlwangiges Mädchen mit verträumt abwesendem Blick fragt mit gebrochener Stimme:
„Hast du vielleicht eine Zigarette für mich?“
Bedauernd schüttelt Mila den Kopf, schreibt ihrer Schwester eine Mail und geht zurück ins Zimmer.

Cindy Joy sitzt auf ihrem Bett. Ihre Stimmung ist um geschwungen in aggressiv, bockig. Sie will heute die Klinik verlassen und morgen den Arzt verklagen, der sie irrtümlich hierher überwiesen hat. Verheißungsvoll funkeln ihre Augen. Sie wirft ihre Sachen in die Tasche und zischt giftig:
„Da bekommt unsere Anwältin wieder einiges zu tun.“
 



 
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