Berlin Schrott

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He de Be

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An diesem Tag war ich zum letzten Mal in Berlin und spazierte mit Ingrid von den Hackeschen Höfen zur Friedrichstraße, von wo aus wir dann einen Abstecher in die Passagen machten, wo ein fescher, fast noch junger Mann ein Klavier quälte, das wiederum unsere Ohren quälte, und überhaupt, dachte ich: Ooh! So schön, diese Passage! Gediegen, edel und kostbar, im vorderen Teil in Richtung Unter den Linden der wunderschöne schwarz-weiße Fußboden und ein prächtiges Glasdach, geschwungene Treppen – mir aber war zum Gähnen langweilig. So strahlte all die Pracht für mich nur Ödnis aus, wie leere Herrenhäuser, die von depressiven Damen gehütet werden. Am anderen Ende verließen wir dann die Passagen, vorbei an einer großen, mindestens sieben Meter hoch ragenden kubischen Säule, die rundherum mit buntem Blech bespickt ist. „Ach Schrott ach Schrott, dass Du da hangest!“ seufzte ich, und: „Ach Toni, Mensch, das Du da gangest“ stöhnte es laut zurück. Aber ich konnte ja wenigstens gehen, und weg, weit weg gehen, und so warf ich dann noch einen letzten Blick auf den herrlichen Kunstkörper und verschwand bald darauf in der U-Bahn, Richtung Potsdamer Platz.

Aber immer noch denke ich an Berlin, wenn auch nicht mehr in ihm. Nicht nur, dass da noch etliche Koffer von mir stehen, nein, es hängt da auch mein Herz und all der Schrott .. der Schrott!

Der Schrott, aus dem die Träume sind.

Jetzt bin ich hier in Nizza, Adresse: 13, rue Shakespeare. Über dem Eingang des Hauses ist sein Name eingraviert: "Palais Ophelia".
Darin wohne ich seit einiger Zeit, und dort habe ich die Bekanntschaft von Helma gemacht, einer Frau aus Berlin, die früher Schauspielerin war. In einem früheren Leben, wie sie sagt. Helma erzählte mir neulich, wie sie damals ihre Karriere beendet hatte, in einem Anfall von Wahnsinn, wie sie sagte, und dann: "Was sollte das? Was soll das alles? Es hat doch gar nichts gebracht." "Was?" fragte ich. "Mein Ausbruch damals, dieser Anfall. Aber ich hatte nichts machen können. Es war über mich gekommen, in mich gefahren. Und ich aus der Haut. Wie eine Irre!"
Ich schwieg. Schaute sie an und lächelte.

"Kennen Sie noch den Friedrich Luft?" fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. "Das war ein sehr berühmter Kritiker in Berlin. Jeden Sonntag hörte man im Radio seine markante Stimme mit einer Theaterkritik. In einer davon erwähnte er mal diese Frau, die bei jeder Aufführung eine Trillerpfeife dabei hatte, und die, wenn ihr etwas nicht gefiel, drauf los pfiff, was das Zeug hielt, manchmal so lange, dass man sie sogar mit Gewalt aus ihrer Loge schaffen musste." Ich lachte. "Diese Frau kannten wir alle und fürchteten sie", fuhr Helma fort, "sie saß immer in einer der Logen und man konnte sie gut an ihren silbergrauen hoch toupierten Haaren erkennen."

Helma stand auf, um sich eine weitere Tasse Tee zu holen, fragte, ob ich auch eine möchte. Ich lehnte dankend ab.
"Auf mich hatte sie es anscheinend besonders abgesehen", fuhr sie fort. "Egal, was und wen ich spielte, früher oder später trillerte die Pfeife." Sie lachte. "Damals hat mich das mächtig aufgeregt, klar, aber im Lauf der Jahre habe ich sie immer besser verstanden."

"Haben sie die Schauspielerei etwa deswegen an den Nagel gehängt?" fragte ich.

"Nein, Gott bewahre! Ich hatte einen Anfall, einen Nervenzusammenbruch, burnout oder wie immer man heute sagen würde. Aber nicht wegen dieser Frau und ihrer Trillerpfeife, nein! Die war an jenem Abend auch da, das schon. Sie hatte auch gepfiffen. Gleich im ersten Aufzug schon. Wir führten Kleists zerbrochenen Krug auf, wissen sie .." Sie hielt inne und wandte mir das Gesicht zu. "Kennen Sie das Stück?" "Ja", sagte ich.

"Ah, die Schauspielerei!" rief sie laut, während sie aus ihrem Sessel aufsprang und anfing, im Zimmer hin und her zu laufen. "Ich war das Stück damals so leid! So leid! Verstehen Sie?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Aber verstehen Sie mich nicht falsch! Ich liebe Kleist, seine feine herrliche Sprache, ich liebte es auch, dieses Stück von ihm zu spielen, einerseits - und doch brachte es mich zusehends auf die Palme! Andererseits." Sie stockte.
"Anscheinend auch die Trillerpfeife, denn kaum hatte ich den Mund aufgemacht und 'Ruprecht!' gesagt, tönte sie los - ttrrrtt ! Wenn er dann – in dem Stück - sagte: 'Fort du!', blieb die Pfeife still. Ich wieder hatte zu antworten: 'Liebster Ruprecht!' - Tttrrrrttt ! - So ging es die ganze Zeit, bis die Frau dann zur Ruhe aufgefordert wurde und eine Weile ruhig blieb."

„Schon lustig, wenn ich heute daran denke" fügte Helma nach einer Pause hinzu und setzte sich wieder hin. Sie seufzte.
Dann aber fuhr sie plötzlich wieder hoch und lief weiter in dem kleinen Zimmer hin und her, wobei sie zunehmend lauter wurde.

"Es war dieses Stück, diese bescheuerte Symbolik - Licht an, Licht aus, ach ja, und zuletzt geht sogar dem Licht ein Licht auf, was?! Krug zerdeppert und ach ja, macht ja nichts, ist ja nur der Krug und nicht das Mädchen, oder gar dessen Jungfernhäutchen, um das es in dem Stück ja eigentlich geht, ohne dass es genannt werden darf, denn ohne dieses – Jungfernhäutchen – wird’s Mädchen ja nicht mehr von einem ordentlichen Mann geheiratet - all dieser Mist, der uns sogar heute noch aufregt, und wenn nicht uns, dann immer noch Millionen anderer Menschen in der Welt, glaub mir! Und dann dieser elende Kleist, der seiner Schwester auch andauernd nur Mores beibringen will oder ihr helfen, diesmal lustig eben, a la: Mach’ dir nichts draus, ist doch nicht weiter schlimm, kannst immer noch heiraten! - sie aber tut es nicht, wird es ihr ganzes Leben lang nicht tun! - Pah!" brach es nach einer weiteren Pause aus ihr heraus.

Ich fürchtete, dass sie jetzt einen neuen Ausbruch oder Anfall hätte und drückte mich immer tiefer in den Sessel, in dem ich saß, bis Helma sich dann endlich auch wieder setzte und ausrief: "Ach lass man! Ist ja alles schon so lange her, und hin, was?! Ich jedenfalls hab' damals andauernd Zustände gekriegt bei diesem Stück, und deshalb war mir dann irgendwann wohl der Kragen geplatzt." "Mmh", machte ich, mehr fiel mir dazu auch nicht ein. "Und so kam es dann so weit", sinnierte Helma weiter, "in der letzten Vorstellung, meiner letzten Vorstellung, an der Stelle, an der die Marthe sagt: 'Du weißt noch nicht, wo mir die Haare wachsen! Du sollst’s erfahren!' fing ich dann an, das Evchen seinen eigenen Text vortragen zu lassen und sagte laut: 'Na dann man zu! Dann zeig es mir doch mal!'"

Ich schaute Helma nun neugierig an. "Und was passierte?" frage ich.

"Tttrrrrttt!!! Trillerpfeife, klaro!" gab sie zurück. "Und natürlich die Souffleuse, die mit hochrotem Kopf so laut wie möglich flüsterte: 'Geht, Mutter, mag es werden, wie es will -' Bei mir aber ging natürlich gar nichts mehr. Die andern haben dann weiter gespielt, als ob nichts wäre, und den kleinen Satz, den Eve in diesem Aufzug noch zu sagen hat, schaffte ich auch: ..’Er ist nicht wert, der Bösewicht'."

Helma stand auf und setzte sich gleich wieder hin, dann fuhr sie fort. "Aber im Achten Aufzug rief ich dann. 'Oh blödste Mutter!' anstatt 'liebste', woraufhin die dann drohend sagte: 'Du –! Ich rate dir!' und kurz zu fragen hatte : 'Wer wars?' Ich aber, anstatt wie in dem Stück geschrieben steht, zu sagen: 'O Jesus', platzte los, dass es der Jesus auch nicht gewesen sei, genauso wenig wie die Lerche, und dass sie sich das ganze verlogene Geschreibsel doch mal genau durchlesen solle, genauso wie das blöde Publikum auch und gefälligst merken, was da wirklich gesagt wird und wie geschrieben steht: Adam und Eva, dass ich nicht lache! Und nix passiert! Haha! Außer mal wieder Männerträume wahr geworden, feuchte, was?! Und dann im Dorfkrug Witze darüber gerissen, was?! Und dann die Mutter, die auch noch über ihre Tochter her fällt!' - und am Ende sowieso nichts gewesen, nur lustig, was?! - So ungefähr schrie ich herum, spuckte ihnen meinen Text vor die Füße und hätte noch den längsten Sermon aller Zeiten gehalten, wenn man mich nicht von der Bühne gezerrt hätte, na klar, und den Vorhang herunter gelassen."

"Eieiei!" stieß ich hervor und fragte dann: "Und das Publikum?" "Das Publikum", sagte sie mit einem lang gezogenen Seufzer, "das Publikum hatte angefangen, zu buhen, einige pfiffen, einige riefen so was wie: ‚Halt die Klappe, blöde Kuh!’ oder: ‚Ist ja unerhört! Schluss jetzt!’, ‚Runter von der Bühne!’ und so weiter. Viele sagten gar nichts. Und weißt du was?"

Sie sah mich an, ich sie. "Was?" fragte ich.

"Die Trillerpfeife sagte gar nichts mehr, das heißt, trillerte nicht. Nichts. Rührte sich nicht mal. Sie saß die ganze Zeit nur da und schaute zu."
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo He de Be, schade, dass Du nach vielversprechendem Anfang über Berlin und seinen Schrott, über die Gefühle des Prot in eine ganz andere Szene umschwenkst, die in eine Theaterkritik Kleists mündet -
aus der Anfangssequenz hättest Du viel mehr machen können und sie besser weitergeführt. Wieso hat der Prot so viele Koffer in Berlin? Woran hängt sein Herz? Oder woran hat er es gehängt?

Leicht enttäuscht grüßt

Doc
 

Charybdis

Mitglied
Ich liebe intellektuelle Wortspielereien, und so war ich wirklich angetan, als ich gleich am Anfang Wortspielereien von der Gänsemagd vorfand und sofort danach einen Verweis auf Friedrich Luft. Friedrich Luft ist mir wohl noch ein Begriff, und ich war zu klein gewesen, um seine Theaterrezensionen im Radio wirklich genießen oder verstehen zu können. Um ehrlich zu sein, ich fand es langweilig, und ich hätte gerne einen anderen Sender gesucht, wenn meine Eltern es sich nicht gerne angehört hätten. Aber es war eine Institution, etwas, was immer da gewesen war. Und heute? Heute würde ich mich vermutlich über einen Friedrich Luft freuen.

Aber ich schweife ab. He de Be, Du hast wirklich Erwartungshaltungen geweckt, so dass ich sogar den seltsamen Schwenk nach Nizza mitmachte. Immerhin, jene Helma dort war die Klammer zurück nach Berlin, und ich musste schmunzeln, als die Trillerpfeife eingeführt wurde. Ja, dachte ich, das wird amüsant und intellektuell.

Dann aber, muss ich gestehen, wird mir die Geschichte zu wüst und durcheinander. Du zerpflückst den Zerbrochenen Krug über die Ex-Schauspielerin Helma, und man fragt sich: Ist diese Frau geisteskrank? Was will sie eigentlich? Findet sie Kleist nun toll, oder empfindet sie seine Symbolik ätzend? Ganz ehrlich: Für mich war das nur noch ein Durcheinander von Theaterzitaten, auch noch mit Einflüssen Shakespeares angereichert. Nur die Handlung an sich, die hatte ich verloren. Helma jedenfalls, nun, es ist besser, dass sie mit der Schauspielerei aufgehört hat. Und was die Trillerpfeife angeht: Sie bleibt seltsam im Dunklen. Ich dachte, wir würden mehr über sie erfahren.

Insofern bin ich nicht so ganz glücklich über diese Geschichte, wiewohl ich, wie ich schon sagte, solche intellektuellen Spielchen wirklich mag.
 



 
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