Berta

Nuferoni

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Berta

Gerhard schreckte aus dem Schlaf. Es war vier Uhr morgens. Seit Tagen fand er nachts keine Ruhe. Mit zittrigen Beinen stand er auf und schlurfte ins Badezimmer. Im Spiegel erblickte er seine hagere Gestalt und erschrak. Gehörte dieses blasse, eingefallene Gesicht wirklich ihm? Die tiefen Falten, die weissen Haare, seit wann war er so alt? Es kam ihm vor, als wäre er gestern noch zur Schule gegangen und jetzt, urplötzlich, war er 94 Jahre alt. 94 Jahre. Gerhard seufzte. War es das wirklich gewesen? Nein, das durfte, das konnte doch nicht alles gewesen sein! Viel zu kurz. Tage, Wochen, Jahre, Jahrzehnte. Jetzt war er ein alter Mann. Voller Bedauern. Allein. Auf den Tod wartend. Seine geliebte Berta war schon lange gestorben oder wie er zu sagen pflegte: „Sie schlief schon.“ Gerhard konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das war doch gerade erst gestern? Damals hätte er noch gesagt, er sei der glücklichste Mensch der Welt. Aber jetzt… Er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Zu viel. Zu wenig. Zu kurz. Genug. Sein Leben war bald vorbei. Heute würde er von der Sterbehilfe Bescheid bekommen. Mühselig schleppte er sich zurück in sein Bett.

Das schrille Klirren des Telefons riss ihn aus dem Schlaf. Als er endlich auf den Beinen war, hatte der Anrufer schon längst aufgelegt. Das war wahrscheinlich der lang ersehnte Anruf der Sterbehilfe gewesen. Sie würden es sicher später noch einmal versuchen. Gedankenverloren setzte sich Gerhard an den Küchentisch. Er hatte Angst vor dem Tod. Er wollte nicht sterben. Er wollte so aber auch nicht weiterleben. Er wollte wieder jung sein. Er wollte weg von hier.

Das vergilbte Fotoalbum mit den Bildern seiner Hochzeitsreise lag auf dem Küchentisch. Damals waren die beiden noch jung gewesen. Er schloss die Augen. Der Alte konnte sich noch genau erinnern, wie aufregend die Reise durch Südamerika gewesen war. Unvergesslich. Er hörte Bertas Stimme in seinem Kopf. Sie sagte immer, das Leben sei ein Kampf, den man nur gewinnen könne, wenn man niemals aufgebe.

Was tat er da? Hatte er tatsächlich einen Antrag auf Sterbehilfe gestellt? Wollte er das wirklich? Konnte er jetzt, nach 94 Jahren, einfach aufgeben – und verlieren? Durfte er Berta enttäuschen? Nein, das war nicht verantwortbar. Er liebte sie noch immer und er würde auch jetzt alles tun, was sie sagte. Alles. Er musste kämpfen, er durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Gerhard wollte seine Berta unbedingt wiedersehen, doch sie schlief schon. Wenn auch er tot wäre, wären sie wieder vereint. Dann hätte er wirklich alles gegeben, um sie wieder zu sehen und er hätte gekämpft – für Berta. Ein vorsichtiges Lächeln huschte über das gezeichnete Gesicht des Alten.

Ruhig wartete er auf den Rückruf. Mit jedem Atemzug wurde er sich sicherer. Der Regen peitschte unerbittlich gegen die Fensterscheiben. Gerhard hatte seine Entscheidung getroffen. Er wusste, was er ihnen sagen würde.
Aber das Telefon blieb stumm.
 



 
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