Besuchszeit

Nelinett

Mitglied
Ich habe an der Tür meiner Schwester gehorcht. Eigentlich sogar noch schlimmer. Ich habe die Türklinke heruntergedrückt, ganz langsam, und dann habe ich die Tür einen Spaltbreit aufgleiten lassen. Dann habe ich die Ohren gespitzt und in die Dunkelheit gehorcht mit angehaltenem Atem, damit ich jedes noch so kleine Geräusch vernehmen könnte.
Ich hörte ein leises, rhytmisches Klatschen, als würde jemand einer Person wieder und wieder eine Ohrfeige geben, als wenn nackte Haut auf nackte Haut trifft. Ich hörte ein leises Murmeln, mal mehr und mal weniger im Spiel mit dem dumpfen Gehaue.
Ich lauschte noch ein wenig mehr und versuchte, die Worte zu verstehen, eigentlich waren sie sogar recht laut, dafür, dass sie wahrscheinlich geheim bleiben sollten, versteckt hinter einer unsichtbaren Maske aus Lachen.
„Hör auf, du hast keine Probleme!“, verstand ich als erstes.
Immer wieder sagte meine Schwester das. Immer wieder und wieder. Wie ein einer Endlosschleife. Als wollte sie selbst es so oft sagen, bis es in ihrem Kopf war, ganz tief drinnen, verankert durch das Aussprechen, verwurzelt.
„Hör auf, du bildest dir das alles nur ein! Hör auf! Hör auf!“
Ich fragte mich, was sie meinte.
Ich fragte mich, wie sie wohl gerade aussah. Lag sie wirklich auf dem Bett und murmelte vor sich hin und schlug dabei auf irgendetwas ein? Auf was oder wen? Wie konnte man sich so etwas bitte vorstellen? Wie in den Videoclips? Wo die Leute weinten und mit einem kleinen Schnitt einen ganzen Schwall Blut aus sich herausfließen lassen konnten und dabei aussahen wie gestorbene Engel, die aber immer noch wunderschön waren, gerade weil sie so zart und zerbrechlich aussahen? Oder sah es einfach nur erbärmlich aus? Ich hatte keine Vorstellung. Irgendwann hörte meine Schwester auf. Keine Stimme mehr, kein Schlagen. Es war still, als wäre nichts gewesen.
Die Dunkelheit kam mir auf einmal bedrohlich vor, als wäre sie näher an mich herangerückt und würde mir den Atem abschnüren, sie war viel zu nah.
Ich schloss die Zimmertür wieder und ging schlafen. Doch durch meine Träume geisterte ihr Gesicht.

Ich sah auf den Fleck auf ihrem Oberschenkel, er war nur ganz blass blau. Sie setzte sich wieder an den Küchentisch und aß ihr Brötchen weiter. Ich tat es ihr gleich, doch es kam mir vor, als hätte ich in diesem Moment aufgehört zu atmen. Die Vorstellung, meine eigene Schwester, wie sie im Bett lag, nachts, im Dunkel, allein, wie sie vor sich hinsagte, dass sie aufhören solle, sich das alles einzubilden und dass sie keine Probleme habe und sich dabei schlug, um es sich selber einzutrichtern, raubte mir schier den Atem.
Meine Schwester war krank.
Ich sah sie auf einmal mit ganz anderen Augen und bewunderte, wie normal Verrückte doch aussehen konnten. Und ich fing erst wieder an zu atmen, als ich selber im Dunkeln lag, nachts, allein, und mir immer wieder sagend: „Atme! Atme endlich, verdammt noch mal!“ und dabei schlug ich mich, damit ich es nicht vergaß. „Atme! Atme! Atme!“
Ich atmete erleichtert auf und übersah dabei ganz, dass ich dem nicht vertrauen konnte, der mir die Luftröhre geöffnet hatte.
Es war das erste Mal, dass mich der Wahnsinn besuchte. Und er sollte noch viele Male wiederkommen...
 



 
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