Trübsinnig schob Christian sein Fahrrad durch die Unterführung. Als er aus der S-Bahn stieg spürte er den feinen, kalten Nieselregen im Gesicht. Eine unangenehme Heimfahrt stand ihm bevor.
Es war nicht Christians Traum, immer noch in diesem Nest wohnen zu müssen. Von Jahr zu Jahr hasste er mehr der vielen Dinge um sich herum. Zuerst, noch als Schüler, das winzige Zimmer im genau so winzigen und alten Siedlungshaus seiner Eltern. Später dann als Student die Erkenntnis, dass sein Bafög nicht für ein eigenständiges Leben in der großen Stadt reichen würde. Er hasste die Tatsache, dass seine Eltern ihn finanziell nicht unterstützen konnten. Er hasste die spießigen Nachbarn und er hasste seine ehemaligen Schulkameraden.
Voller Frust radelte er jeden morgen zum Bahnhof um mit dem Zug zur Uni zu fahren. Und bei der Heimkehr war sein Frust nicht geringer.
An diesem Abend war es noch schlimmer als sonst. Der leichte Regen ließ ihn frösteln. Verbissen trat er in die Pedalen. So klein sein Zimmer auch war und so wenig er es mochte, es versprach Wärme und Trockenheit. Und so nahm er trotz der Dunkelheit den kürzeren Weg durch den Park und die angrenzende Flussaue.
Der Scheinwerfer seines Rades flackerte im Takt des quitschenden Dynamos. Der setzte bei jeder Umdrehung des abgenutzten Rädchens für einen Moment aus. Christian störte das nicht, er kannte den Weg.
Fauliger Geruch schlug ihm entgegen. Man war damit beschäftigt, den Bach, der diese Landschaft prägte in einen Kanal zu verwandeln. Tagsüber füllte ein gelber Bagger den stinkenden Schlamm vom Bachgrund in ein künstlich angelegtes Becken. Irgendwann später sollte diese Masse dann abtransportiert werden. Bis dahin wehte der Gestank über die Wiesen.
Regen und Gestank ließen ihn immer schneller in die Pedalen treten und jegliche Vorsicht vergessen.
Es war durchaus logisch, bei diesem Wetter in der dunklen, weil nicht von Straßenlaternen beleuchteten Aue nicht mit weiteren Passanten zu rechnen. Doch Christian wohnte zwar noch in dieser kleinen Stadt aber er kannte sie nicht mehr. Vielleicht hatte er sie noch nie richtig gekannt. Sein Wesen verweigerte sich von jeher der spießigen Trägheit und der selbstgefälligen Beschränktheit seiner Umwelt. Und so entzog es sich auch seiner Kenntnis, dass in den letzten Jahren im Schutze der Dunkelheit und der verwilderten Natur die eine oder andere nicht wirklich Tageslicht taugliche Transaktion abgewickelt wurde. In der einzigen scharfen Kurve auf seiner Strecke wurde ihm dieses mangelnde Wissen zum Verhängnis.
Mitten in der Kurve lief ihm eine dunkle Gestalt vors Rad. Er versuchte zu bremsen, aber an seinem Rad funktionierte die Bremse genau so gut oder genauer genau so schlecht wie die Beleuchtung. Der Zusammenprall war nicht besonders heftig, für die dunkle Gestalt aber trotzdem schmerzhaft.
"Du Arsch!" fuhr der Getroffene Christian an. Der stieg ab und legte sein Rad ins Gras.
"Sorry, hat es sehr weh getan? Ich habe Dich in der Dunkelheit nicht gesehen."
In diesem Moment erkannten sich die beiden. Vor Jahren waren besuchten sie die selbe Schule. Zwar nicht die selbe Klasse, aber man kannte sich.
"Lass mich in Ruhe und verschwinde!" Falk war nicht der freundlichste Zeitgenosse. Christian erinnerte sich an ihn als hinterlistig und gewalttätig. Auf Frieden bedacht überhörte er den barschen Ton.
"Ich sagte doch, es tut mir leid."
"Und ich sagte: verschwinde!"
Falk trat einen Schritt auf Christian zu. Der hob beschwichtigend die Hände, wich zurück und stolperte über sein Rad. Falk setzte nach und stieß seinen Gegenüber vor die Brust.
"Na los jetzt!"
Christian war ein friedlicher und etwas träger Mensch. Aufregung lag ihm fern. Gewalt erst recht. Andererseits war er größer als Falk. Als angehender Bauingenieur verdiente er sich gelegentlich ein paar Euro dazu. Auf dem Bau natürlich. Was seinem Körper durchaus gut getan hatte. Und er besaß natürlich seinen Stolz. Also stieß er zurück.
Mit dem Ergebnis hatten weder er noch Falk gerechnet. Letzterer ließ erstaunt seine Arme sinken und sah Christian entgeistert an.
"Sag mal spinnst Du? Erst fährst Du mich über den Haufen und dann wirst Du auch noch frech?"
Sofort drang er wieder auf Christian ein. Stieß ihn, nun mit den Fäusten, weiter zurück in Richtung Gebüsch.
Christian spürte die Äste im Rücken. Weiter zurück ging nicht. Als Falk immer weiter auf ihn ein boxte verließ er die Defensive.
Sein Schlag traf Falk direkt am Kinn. Der hatte sich wohl auf seinen schlechten Ruf verlassen und nicht mit echter Gegenwehr gerechnet. Verwirrt taumelte er zurück. Dann nahm er die Fäuste wieder hoch und stürzte sich erneut auf Christian.
Schlechte Entscheidung. Christian war eine halben Kopf größer. Er besaß Muskeln, die von Aushilfsarbeiten auf dem Bau geformt waren und nicht von Pülverchen aus dem Fitnessstudio.
Etwas schuldbewusst wehrte er Falks erste Schläge ab. Schließlich war er die Ursache für dessen Aggression. Glaubte er zumindest. Und versuchte es mit besänftigenden Worten. Natürlich erfolglos.
Falk prügelte nun blindlings auf seinen Gegenüber ein. Der, was ihn selbst verwunderte, kein Problem damit hatte, die Schläge abzuwehren. Was Falk zu immer heftigeren Schlägen animierte. Und dann auch zu Beschimpfungen.
Irgendwann wurde es Christian zu viel. Ihm mangelte Erfahrung in körperlichen Auseinandersetzungen, aber er war nicht zimperlich, hinreichend kräftig und besaß eine gute Koordination. Er nahm einige Treffer in Kauf, umfasste Falk und warf ihn mit einem kurzen Schwung zu Boden. Falk kam auf dem Bauch zu liegen. Christian drehte ihm einen Arm nach hinten und kniete sich dann auf Falks Rücken.
"Beruhige Dich endlich!"
"Du Arsch. Lass mich endlich los oder es passiert ein Unglück!" Falk wand sich hin und her aber es gelang ihm nicht sich zu befreien.
"Beruhige Dich und hör auf mich zu schlagen. Dann lasse ich dich los."
Christian fühlte sich nicht wohl. Er hielt sich für einen friedlichen Menschen. Aber in diesem Moment gefiel es ihm, dass Falk wehrlos unter ihm lag. Die Ordnung der Welt, die er so oft vermisste, war für einen Moment wieder hergestellt. Der Abschaum unten, er als wertvolles weil intelligentes und arbeitsames Mitglied der Gesellschaft oben. Ohne wirklich zu wissen warum drehte er Falks Arm noch etwas weiter nach oben.
Falk kreischte auf.
"Ich bring dich um!"
Angesichts der Machtlosigkeit dieser Drohung verspürte Christian ein überraschendes Hochgefühl. Jetzt war er nicht mehr der Außenseiter, der Getriebene, der nur auf seine Umwelt reagieren konnte. Jetzt bestimmte er das Geschehen.
"Da bin ich ja gespannt wie du das tun willst."
"Du kannst mich nicht ewig festhalten. Irgendwann musst Du mich loslassen. Und ich habe hier Freunde, Du nicht."
Ob es einfach nur das Abflauen des Adrenalinstoßes war oder wirklich Falks Worte, wen interessiert das jetzt noch. Jedenfalls sah Christian plötzlich wieder klarer. Sein Griff lockerte sich.
Es stimmte, was Falk sagt. Damals in der Schule war Falk nie allein. Selbst wenn er mal Prügel bezog, was manchmal vorkam, irgendwann revanchierte er sich. Zusammen mit seinen Freunden. Unterm Strich gewann er immer.
Falk spürte wie der Zweifel von Christian Besitz ergriff. "Wir machen Dich sowas von fertig, das vergisst du garantiert nicht. Also lass endlich los!"
Doch was Falk noch nie begriffen hatte, Menschen denken unterschiedlich. Christian war ein Mann der Logik. Er wusste, das Falk recht hatte. Ließ er ihn los dann wäre das nur eine Lösung für diesen Moment. Falk würde sich revanchieren. So wie er das immer getan hatte. Und in diesem Fall hätte er gegen Falks Freunde keine Chance. Der gesunde Menschenverstand verbot ihm eine solche Lösung. Doch was sollte er tun. Gab es denn eine Alternative zu der Entscheidung, Falk gehen zu lassen?
"Na was ist nun. Du machst es nur noch schlimmer. Wie viele Wochen willst du denn im Krankenhaus liegen? Wenn du hier heil rauskommen willst musst du mich schon umbringen!"
Umbringen. Ein abstraktes Wort über dessen wahre Bedeutung Christian noch nie nachgedacht hatte. Aber jetzt, in diesem Moment, setzte sich diese Lösung in seinem Kopf fest. Ließe er Falk los so würde er das bereuen. Früher oder später. Aber deswegen jemanden töten? Andererseits, was ging ihn Falk an. Sollte er für ihn seine Gesundheit riskieren? Jeder Mensch ist zu Hilfeleistung verpflichtet, aber doch nur, wenn er sich dabei nicht selbst gefährdet.
Nachdenken behindert die Reaktion. Falk nutzte Christians Denkpause um sich aus dessen Klammergriff zu befreien. Seine freie Hand griff ins Gesträuch neben sich. Es gelang ihm, sich ein wenig aus Christians Klammer zu lösen. Mit einem kräftigen Ruck drehte er seinen Oberkörper herum und warf Christian ab.
Ob ihm seine Flucht wirklich gelungen wäre, wer weiß. Aber er rutsche schon beim Aufspringen auf dem feuchten Gras aus und verlor ein oder zwei wertvolle Sekunden.
Sein Fluchtversuch versetzte Christian in Panik. Wie ein Tiger sprang er Falk hinterher und warf ihn rückwärts ins Gebüsch. Krachend stürzten beide zu Boden. Falk schlug wild um sich, aber Christian gelang es wieder ihn zu bändigen. Irgendwie schaffte er es, Falks linken Arm mit seinem Brein einzuklemmen und den anderen mit seiner linken Hand fest zu halten. Mit der Rechten schlug er immer wieder in das Gesicht seines Gegners.
Irgendwann hörte er auf. Für einen Moment vernahm er nur das Rauschen des Regens auf den Blättern und das leise Stöhnen des Körpers unter ihm.
"Du bist tot. Tot. Tot."
In diesem Moment wurde Christian endgültig bewusst, was er getan hatte. Die Panik wandelte sich in eiskalte Erkenntnis. Sein Geist schaltete jedwedes Gefühl ab. Er war jetzt nur noch reine, klare Logik. Sollte er sich von diesem Abschaum sein Leben versauen lassen?
Er kannte das Gefühl, das sich jetzt in ihm breit machte. Es ging von seinem Kopf aus. Intelligenz beherrscht Panik. Bisher war ihm das aber nur in harmloseren Situationen passiert. Einer Prüfung, einer Auseinandersetzung mit einem Chef.
Hastig blickte er sich um. Natürlich war niemand zu entdecken. Das nächste Haus war mindestens 300 meter entfernt. Es regnete inzwischen in Strömen und es war stockdunkel.
Unter seiner linken Hand spürte er einen weichen Druck. Irgend jemand hatte hier seinen Müll in einer großen Supermarkt-Tüte entsorgt. Er erstickte Falks wieder aufflammenden Widerstand mit zwei weiteren Schlägen. Dann setzte er sich so auf dessen Oberarme dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Jetzt hatte er beide Hände frei um die Mülltüte auszuleeren. Ein Moment des Zögerns, dann drückte er die Tüte auf Falks Gesicht.
Benommen von Christians Schlägen begriff nicht was ihm widerfuhr. Seine Gegenwehr war schwach. Auch als ihm die Luft knapp wurde und er seinen Kopf panisch hin- und her warf hatte Christian keine Mühe, die Folie fest an Falks Gesicht zu pressen.
Zeitgefühl besaß Christian keines mehr. Irgendwann erstarben Falks Bewegungen. Christian nutzte die Gelegenheit, die Tüte über den Kopf seines Opfers zu ziehen und mit einem Stück Schnur aus dem ausgeschütteten Abfall um den Hals zu verknoten.
Während der ganzen Zeit brachte er es nicht fertig, Falk anzusehen. Sein Blick ging krampfhaft ins Leere, er agierte nur nach Gefühl. Erst als Falks Gesicht verhüllt war konnte er den Körper unter sich wieder betrachten.
Falk war nicht mehr. Sein Körper lag reglos da. Christians Atem wurde ruhiger. Falk war ein Problem, das er gelöst hatte. Sein Verstand öffnete sich den neuen Aufgaben.
Falk würde niemand vermissen. Er musste den Körper verschwinden lassen. Einige Tage oder Wochen würden reichen. Der Regen war stark genug, alle Spuren zu verwischen.
Christian ging den Weg auf und ab. Niemand war zu sehen. Auf der anderen Seite erhob sich der Erdwall des aufgeschütteten Beckens. Einige provisorische, schlammbedeckte Stufen aus Holzbalken führten an den oberen Rand. Vorsichtig erklomm er sie. Oben angekommen verschlug ihm der Gestank der Schlammbrühe den Atem. Unten hatte er nichts gespürt, der Regen schlug den penetranten Geruch zu Boden. Aber hier oben sprang er ihn förmlich an. Vor ihm platschte der Regen in den dickflüssigen Schlamm. Für Sekunden erschienen kleine Krater die dann sofort wieder von der schwarzen Masse aufgesogen wurden. Das ideale Versteck.
Zuerst versuchte er, den toten Körper an den Beinen über den Weg zu ziehen. Auf dem nassen, rutschigen Gras schaffte er das noch. Aber der steinige, raue Boden des Fußwegs zwang ihn, Falks Oberkörper zu umfassen. Die wenigen Meter bis zum oberen Rand des Beckens nahmen ihm seine letzten Kraftreserven. Er ließ den Toten auf den breiten Rand des Beckens liegen.
An der Biegung des Wegs sperrte ein Absperrband ein Stück Wiese und den dahinter liegenden Bach ab. Vergessenes Werkzeuge lag herum.
Christian griff sich eine verrostete Spitzhacke und riss das rot-weiße Absperrband von den Stahlstäben ab. Nach kurzem überlegen zog er auch noch die drei Stahlpfosten aus der Erde. Sich immer wieder umblickend schleppte er seine Beute zur Leiche. Er hatte immer noch Probleme, den toten Körper zu berühren. Mit spitzen Fingern fädelte er die langen Pfosten unter Falks Sweatshirt und dessen Hosenbund. Sie rechten bis zu den Knien. Der Stiel der Spitzhacke fand seien Platz unter dem Gürtel. Das Plastikband, mehrfach um den Leib gewickelt und verknotet, fixierte alles an seinem Platz.
Ganz zum Schluss versuchte er, den Körper mit den Füßen in das Becken zu rollen. Aber der schlaffen Körper hatte sich an dem feuchte Boden fest gesaugt. Mit letzter Überwindung griff Christian unter den Toten und rollte ihn die kurze Böschung hinab in die dunkle Brühe.
Für einen Moment schwamm das dunkle Bündel noch oben auf. Die Jacke blähte sich auf und es schien, als würde der Tote auf dem Schlamm treiben wollen. Aber dann fand die eingesperrte Luft blubbernd einen Weg nach draußen. Die Stahlgewichte taten ein ihres und der Körper verschwand. Für einen Moment zogen Wellen über das Wasser, bevor sie von den vielen kleinen Schwingungen der Regentropfen ausgelöscht wurden.
Kaum war Falk versunken öffnete der Himmel seine letzten Schleusen. Der Regen prasselte wie aus einer Dusche. Als ob er dafür sorgen wollte, Falks letzte Spuren von dieser Welt zu tilgen.
Christian hielt seine verschmutzten Hände in den Himmel. Dreck tropfte herab und verschmierte seine Sachen noch mehr. Aber es war ihm egal. Er spürte die Kälte nicht. Der Regen wusch die letzten Spuren von Schuld aus seinen Gedanken. Ruhig, beinahe erleichtert, ging er die wenigen Schritte zu seinem Fahrrad.
Es war nicht Christians Traum, immer noch in diesem Nest wohnen zu müssen. Von Jahr zu Jahr hasste er mehr der vielen Dinge um sich herum. Zuerst, noch als Schüler, das winzige Zimmer im genau so winzigen und alten Siedlungshaus seiner Eltern. Später dann als Student die Erkenntnis, dass sein Bafög nicht für ein eigenständiges Leben in der großen Stadt reichen würde. Er hasste die Tatsache, dass seine Eltern ihn finanziell nicht unterstützen konnten. Er hasste die spießigen Nachbarn und er hasste seine ehemaligen Schulkameraden.
Voller Frust radelte er jeden morgen zum Bahnhof um mit dem Zug zur Uni zu fahren. Und bei der Heimkehr war sein Frust nicht geringer.
An diesem Abend war es noch schlimmer als sonst. Der leichte Regen ließ ihn frösteln. Verbissen trat er in die Pedalen. So klein sein Zimmer auch war und so wenig er es mochte, es versprach Wärme und Trockenheit. Und so nahm er trotz der Dunkelheit den kürzeren Weg durch den Park und die angrenzende Flussaue.
Der Scheinwerfer seines Rades flackerte im Takt des quitschenden Dynamos. Der setzte bei jeder Umdrehung des abgenutzten Rädchens für einen Moment aus. Christian störte das nicht, er kannte den Weg.
Fauliger Geruch schlug ihm entgegen. Man war damit beschäftigt, den Bach, der diese Landschaft prägte in einen Kanal zu verwandeln. Tagsüber füllte ein gelber Bagger den stinkenden Schlamm vom Bachgrund in ein künstlich angelegtes Becken. Irgendwann später sollte diese Masse dann abtransportiert werden. Bis dahin wehte der Gestank über die Wiesen.
Regen und Gestank ließen ihn immer schneller in die Pedalen treten und jegliche Vorsicht vergessen.
Es war durchaus logisch, bei diesem Wetter in der dunklen, weil nicht von Straßenlaternen beleuchteten Aue nicht mit weiteren Passanten zu rechnen. Doch Christian wohnte zwar noch in dieser kleinen Stadt aber er kannte sie nicht mehr. Vielleicht hatte er sie noch nie richtig gekannt. Sein Wesen verweigerte sich von jeher der spießigen Trägheit und der selbstgefälligen Beschränktheit seiner Umwelt. Und so entzog es sich auch seiner Kenntnis, dass in den letzten Jahren im Schutze der Dunkelheit und der verwilderten Natur die eine oder andere nicht wirklich Tageslicht taugliche Transaktion abgewickelt wurde. In der einzigen scharfen Kurve auf seiner Strecke wurde ihm dieses mangelnde Wissen zum Verhängnis.
Mitten in der Kurve lief ihm eine dunkle Gestalt vors Rad. Er versuchte zu bremsen, aber an seinem Rad funktionierte die Bremse genau so gut oder genauer genau so schlecht wie die Beleuchtung. Der Zusammenprall war nicht besonders heftig, für die dunkle Gestalt aber trotzdem schmerzhaft.
"Du Arsch!" fuhr der Getroffene Christian an. Der stieg ab und legte sein Rad ins Gras.
"Sorry, hat es sehr weh getan? Ich habe Dich in der Dunkelheit nicht gesehen."
In diesem Moment erkannten sich die beiden. Vor Jahren waren besuchten sie die selbe Schule. Zwar nicht die selbe Klasse, aber man kannte sich.
"Lass mich in Ruhe und verschwinde!" Falk war nicht der freundlichste Zeitgenosse. Christian erinnerte sich an ihn als hinterlistig und gewalttätig. Auf Frieden bedacht überhörte er den barschen Ton.
"Ich sagte doch, es tut mir leid."
"Und ich sagte: verschwinde!"
Falk trat einen Schritt auf Christian zu. Der hob beschwichtigend die Hände, wich zurück und stolperte über sein Rad. Falk setzte nach und stieß seinen Gegenüber vor die Brust.
"Na los jetzt!"
Christian war ein friedlicher und etwas träger Mensch. Aufregung lag ihm fern. Gewalt erst recht. Andererseits war er größer als Falk. Als angehender Bauingenieur verdiente er sich gelegentlich ein paar Euro dazu. Auf dem Bau natürlich. Was seinem Körper durchaus gut getan hatte. Und er besaß natürlich seinen Stolz. Also stieß er zurück.
Mit dem Ergebnis hatten weder er noch Falk gerechnet. Letzterer ließ erstaunt seine Arme sinken und sah Christian entgeistert an.
"Sag mal spinnst Du? Erst fährst Du mich über den Haufen und dann wirst Du auch noch frech?"
Sofort drang er wieder auf Christian ein. Stieß ihn, nun mit den Fäusten, weiter zurück in Richtung Gebüsch.
Christian spürte die Äste im Rücken. Weiter zurück ging nicht. Als Falk immer weiter auf ihn ein boxte verließ er die Defensive.
Sein Schlag traf Falk direkt am Kinn. Der hatte sich wohl auf seinen schlechten Ruf verlassen und nicht mit echter Gegenwehr gerechnet. Verwirrt taumelte er zurück. Dann nahm er die Fäuste wieder hoch und stürzte sich erneut auf Christian.
Schlechte Entscheidung. Christian war eine halben Kopf größer. Er besaß Muskeln, die von Aushilfsarbeiten auf dem Bau geformt waren und nicht von Pülverchen aus dem Fitnessstudio.
Etwas schuldbewusst wehrte er Falks erste Schläge ab. Schließlich war er die Ursache für dessen Aggression. Glaubte er zumindest. Und versuchte es mit besänftigenden Worten. Natürlich erfolglos.
Falk prügelte nun blindlings auf seinen Gegenüber ein. Der, was ihn selbst verwunderte, kein Problem damit hatte, die Schläge abzuwehren. Was Falk zu immer heftigeren Schlägen animierte. Und dann auch zu Beschimpfungen.
Irgendwann wurde es Christian zu viel. Ihm mangelte Erfahrung in körperlichen Auseinandersetzungen, aber er war nicht zimperlich, hinreichend kräftig und besaß eine gute Koordination. Er nahm einige Treffer in Kauf, umfasste Falk und warf ihn mit einem kurzen Schwung zu Boden. Falk kam auf dem Bauch zu liegen. Christian drehte ihm einen Arm nach hinten und kniete sich dann auf Falks Rücken.
"Beruhige Dich endlich!"
"Du Arsch. Lass mich endlich los oder es passiert ein Unglück!" Falk wand sich hin und her aber es gelang ihm nicht sich zu befreien.
"Beruhige Dich und hör auf mich zu schlagen. Dann lasse ich dich los."
Christian fühlte sich nicht wohl. Er hielt sich für einen friedlichen Menschen. Aber in diesem Moment gefiel es ihm, dass Falk wehrlos unter ihm lag. Die Ordnung der Welt, die er so oft vermisste, war für einen Moment wieder hergestellt. Der Abschaum unten, er als wertvolles weil intelligentes und arbeitsames Mitglied der Gesellschaft oben. Ohne wirklich zu wissen warum drehte er Falks Arm noch etwas weiter nach oben.
Falk kreischte auf.
"Ich bring dich um!"
Angesichts der Machtlosigkeit dieser Drohung verspürte Christian ein überraschendes Hochgefühl. Jetzt war er nicht mehr der Außenseiter, der Getriebene, der nur auf seine Umwelt reagieren konnte. Jetzt bestimmte er das Geschehen.
"Da bin ich ja gespannt wie du das tun willst."
"Du kannst mich nicht ewig festhalten. Irgendwann musst Du mich loslassen. Und ich habe hier Freunde, Du nicht."
Ob es einfach nur das Abflauen des Adrenalinstoßes war oder wirklich Falks Worte, wen interessiert das jetzt noch. Jedenfalls sah Christian plötzlich wieder klarer. Sein Griff lockerte sich.
Es stimmte, was Falk sagt. Damals in der Schule war Falk nie allein. Selbst wenn er mal Prügel bezog, was manchmal vorkam, irgendwann revanchierte er sich. Zusammen mit seinen Freunden. Unterm Strich gewann er immer.
Falk spürte wie der Zweifel von Christian Besitz ergriff. "Wir machen Dich sowas von fertig, das vergisst du garantiert nicht. Also lass endlich los!"
Doch was Falk noch nie begriffen hatte, Menschen denken unterschiedlich. Christian war ein Mann der Logik. Er wusste, das Falk recht hatte. Ließ er ihn los dann wäre das nur eine Lösung für diesen Moment. Falk würde sich revanchieren. So wie er das immer getan hatte. Und in diesem Fall hätte er gegen Falks Freunde keine Chance. Der gesunde Menschenverstand verbot ihm eine solche Lösung. Doch was sollte er tun. Gab es denn eine Alternative zu der Entscheidung, Falk gehen zu lassen?
"Na was ist nun. Du machst es nur noch schlimmer. Wie viele Wochen willst du denn im Krankenhaus liegen? Wenn du hier heil rauskommen willst musst du mich schon umbringen!"
Umbringen. Ein abstraktes Wort über dessen wahre Bedeutung Christian noch nie nachgedacht hatte. Aber jetzt, in diesem Moment, setzte sich diese Lösung in seinem Kopf fest. Ließe er Falk los so würde er das bereuen. Früher oder später. Aber deswegen jemanden töten? Andererseits, was ging ihn Falk an. Sollte er für ihn seine Gesundheit riskieren? Jeder Mensch ist zu Hilfeleistung verpflichtet, aber doch nur, wenn er sich dabei nicht selbst gefährdet.
Nachdenken behindert die Reaktion. Falk nutzte Christians Denkpause um sich aus dessen Klammergriff zu befreien. Seine freie Hand griff ins Gesträuch neben sich. Es gelang ihm, sich ein wenig aus Christians Klammer zu lösen. Mit einem kräftigen Ruck drehte er seinen Oberkörper herum und warf Christian ab.
Ob ihm seine Flucht wirklich gelungen wäre, wer weiß. Aber er rutsche schon beim Aufspringen auf dem feuchten Gras aus und verlor ein oder zwei wertvolle Sekunden.
Sein Fluchtversuch versetzte Christian in Panik. Wie ein Tiger sprang er Falk hinterher und warf ihn rückwärts ins Gebüsch. Krachend stürzten beide zu Boden. Falk schlug wild um sich, aber Christian gelang es wieder ihn zu bändigen. Irgendwie schaffte er es, Falks linken Arm mit seinem Brein einzuklemmen und den anderen mit seiner linken Hand fest zu halten. Mit der Rechten schlug er immer wieder in das Gesicht seines Gegners.
Irgendwann hörte er auf. Für einen Moment vernahm er nur das Rauschen des Regens auf den Blättern und das leise Stöhnen des Körpers unter ihm.
"Du bist tot. Tot. Tot."
In diesem Moment wurde Christian endgültig bewusst, was er getan hatte. Die Panik wandelte sich in eiskalte Erkenntnis. Sein Geist schaltete jedwedes Gefühl ab. Er war jetzt nur noch reine, klare Logik. Sollte er sich von diesem Abschaum sein Leben versauen lassen?
Er kannte das Gefühl, das sich jetzt in ihm breit machte. Es ging von seinem Kopf aus. Intelligenz beherrscht Panik. Bisher war ihm das aber nur in harmloseren Situationen passiert. Einer Prüfung, einer Auseinandersetzung mit einem Chef.
Hastig blickte er sich um. Natürlich war niemand zu entdecken. Das nächste Haus war mindestens 300 meter entfernt. Es regnete inzwischen in Strömen und es war stockdunkel.
Unter seiner linken Hand spürte er einen weichen Druck. Irgend jemand hatte hier seinen Müll in einer großen Supermarkt-Tüte entsorgt. Er erstickte Falks wieder aufflammenden Widerstand mit zwei weiteren Schlägen. Dann setzte er sich so auf dessen Oberarme dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Jetzt hatte er beide Hände frei um die Mülltüte auszuleeren. Ein Moment des Zögerns, dann drückte er die Tüte auf Falks Gesicht.
Benommen von Christians Schlägen begriff nicht was ihm widerfuhr. Seine Gegenwehr war schwach. Auch als ihm die Luft knapp wurde und er seinen Kopf panisch hin- und her warf hatte Christian keine Mühe, die Folie fest an Falks Gesicht zu pressen.
Zeitgefühl besaß Christian keines mehr. Irgendwann erstarben Falks Bewegungen. Christian nutzte die Gelegenheit, die Tüte über den Kopf seines Opfers zu ziehen und mit einem Stück Schnur aus dem ausgeschütteten Abfall um den Hals zu verknoten.
Während der ganzen Zeit brachte er es nicht fertig, Falk anzusehen. Sein Blick ging krampfhaft ins Leere, er agierte nur nach Gefühl. Erst als Falks Gesicht verhüllt war konnte er den Körper unter sich wieder betrachten.
Falk war nicht mehr. Sein Körper lag reglos da. Christians Atem wurde ruhiger. Falk war ein Problem, das er gelöst hatte. Sein Verstand öffnete sich den neuen Aufgaben.
Falk würde niemand vermissen. Er musste den Körper verschwinden lassen. Einige Tage oder Wochen würden reichen. Der Regen war stark genug, alle Spuren zu verwischen.
Christian ging den Weg auf und ab. Niemand war zu sehen. Auf der anderen Seite erhob sich der Erdwall des aufgeschütteten Beckens. Einige provisorische, schlammbedeckte Stufen aus Holzbalken führten an den oberen Rand. Vorsichtig erklomm er sie. Oben angekommen verschlug ihm der Gestank der Schlammbrühe den Atem. Unten hatte er nichts gespürt, der Regen schlug den penetranten Geruch zu Boden. Aber hier oben sprang er ihn förmlich an. Vor ihm platschte der Regen in den dickflüssigen Schlamm. Für Sekunden erschienen kleine Krater die dann sofort wieder von der schwarzen Masse aufgesogen wurden. Das ideale Versteck.
Zuerst versuchte er, den toten Körper an den Beinen über den Weg zu ziehen. Auf dem nassen, rutschigen Gras schaffte er das noch. Aber der steinige, raue Boden des Fußwegs zwang ihn, Falks Oberkörper zu umfassen. Die wenigen Meter bis zum oberen Rand des Beckens nahmen ihm seine letzten Kraftreserven. Er ließ den Toten auf den breiten Rand des Beckens liegen.
An der Biegung des Wegs sperrte ein Absperrband ein Stück Wiese und den dahinter liegenden Bach ab. Vergessenes Werkzeuge lag herum.
Christian griff sich eine verrostete Spitzhacke und riss das rot-weiße Absperrband von den Stahlstäben ab. Nach kurzem überlegen zog er auch noch die drei Stahlpfosten aus der Erde. Sich immer wieder umblickend schleppte er seine Beute zur Leiche. Er hatte immer noch Probleme, den toten Körper zu berühren. Mit spitzen Fingern fädelte er die langen Pfosten unter Falks Sweatshirt und dessen Hosenbund. Sie rechten bis zu den Knien. Der Stiel der Spitzhacke fand seien Platz unter dem Gürtel. Das Plastikband, mehrfach um den Leib gewickelt und verknotet, fixierte alles an seinem Platz.
Ganz zum Schluss versuchte er, den Körper mit den Füßen in das Becken zu rollen. Aber der schlaffen Körper hatte sich an dem feuchte Boden fest gesaugt. Mit letzter Überwindung griff Christian unter den Toten und rollte ihn die kurze Böschung hinab in die dunkle Brühe.
Für einen Moment schwamm das dunkle Bündel noch oben auf. Die Jacke blähte sich auf und es schien, als würde der Tote auf dem Schlamm treiben wollen. Aber dann fand die eingesperrte Luft blubbernd einen Weg nach draußen. Die Stahlgewichte taten ein ihres und der Körper verschwand. Für einen Moment zogen Wellen über das Wasser, bevor sie von den vielen kleinen Schwingungen der Regentropfen ausgelöscht wurden.
Kaum war Falk versunken öffnete der Himmel seine letzten Schleusen. Der Regen prasselte wie aus einer Dusche. Als ob er dafür sorgen wollte, Falks letzte Spuren von dieser Welt zu tilgen.
Christian hielt seine verschmutzten Hände in den Himmel. Dreck tropfte herab und verschmierte seine Sachen noch mehr. Aber es war ihm egal. Er spürte die Kälte nicht. Der Regen wusch die letzten Spuren von Schuld aus seinen Gedanken. Ruhig, beinahe erleichtert, ging er die wenigen Schritte zu seinem Fahrrad.