DEE JAY

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KaWe

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DEE JAY​


„Jetzt hör auf mit dem ständigen Rumgehopse, Fliegentatze!“
Die ärgerliche Stimme gehörte Brauner, einem älteren Bären, der gemütlich auf dem Rücken in der Sonne lag und sich das Fell von seinem Nachbarn kraulen ließ.
Fliegentatze, so genannt, weil er mit seinen Bärenpranken so beeindruckend schnell war, dass er sogar Fliegen in der Luft fangen konnte, ließ sich von der verärgerten Stimme nicht beeindrucken. Bären können bekanntlich gut tanzen, und er war, wie man zugeben musste, besonders begabt, und so setzte er behände einen Fuß – pardon – eine Pranke vor die andere, wiegte rhythmisch seinen schweren Oberkörper, ging zwischendurch in die Hocke, ließ die Arme baumelnd schwingen.
Genau so nämlich hatte er es oft am Waldsee gesehen, wenn er heimlich die Jugendlichen beobachtet hatte, die an den Wochenenden mit ihren Motorrollern eingefallen waren, ihre lauten Musikmaschinen ausgepackt und dazu getanzt hatten – so wie er es jetzt versuchte. Sie trugen dabei mit bunten Bildern oder großen Buchstaben bedruckte weite Kleidungsstücke – ganz andere, als er es sonst bei den älteren Menschen gesehen hatte.
Besonders angetan hatten es ihm die bunten Käppis, die sie meistens mit dem Schirm auf die Seite oder nach hinten gedreht trugen.
Vor kurzem hatte Fliegentatze Glück gehabt: eine dieser Schirmmützen war liegengeblieben und er hatte sich die Beute geholt. Die trug er ab da ständig, den Schirm auf die Seite gedreht. Und er begann, immer häufiger „cool“ zu sagen. Er wusste nicht, was dieses Wort genau bedeutete, aber es war das Wort, das diese Jungs, die er bewunderte, am häufigsten sagten; und so wie sie es sagten, musste es etwas Gutes und auch Wichtiges bedeuten.
Und noch etwas war in seinen Besitz übergegangen, eine dieser lauten Musikmaschinen, sogar mit einer kleinen silbernen Scheibe drin, die Musik spielte. In einem günstigen Augenblick, als keiner aufgepasst hatte, hatte er sie geklaut. Das war eigentlich nicht seine Art, aber bei der silberglänzenden Kiste hatte er einfach nicht anders gekonnt – und sie war nun zum eigentlichen Stein des Anstoßes vor der heimischen Höhle geworden.
Hielten ihn seine Brüder sowie seine Freunde nur für einen etwas abgedrehten Spinner, so reagierten seine Eltern auf den abartigen Lärm deutlich heftiger. Am Morgen war ihm ein Ultimatum gestellt worden: DU ODER DIESE MUSIK!
Zuerst hatte der junge Bär für sich so getan, als wenn er gar nicht gemeint wäre, hatte die Musikkiste ein paar Meter weiter geschleppt und trotzig begonnen, einige neue Tanzschritte auszuprobieren.
Doch der Entscheidung konnte er nicht ausweichen. Und sie hatte sich nun in Form von zwei großen zotteligen Gestalten genähert, seinen Eltern. Im Fell über den Augen seines Vaters erkannte der junge Bär zwei steile Falten.
„Nun Sohn, hast du es dir überlegt?“, sagte sein Vater.
Fliegentatze wusste, dass es jetzt besser war, die Musik auszumachen und für einen Moment mit Tanzen aufzuhören.
„Bring die Silberkiste weg und setz die alberne Mütze ab“, sagte die Mutter und wischte sich mit dem weichen Armpelz über die Augen. „Du weißt, Vater macht Ernst, und wir möchten dich doch nicht verlieren.“
Auch der junge Bär wusste, dass es sein Vater ernst meinte, und auch er bemerkte, wie seine Augen feucht wurden, doch in seinem Inneren war Auflehnung, begleitet von dieser seltsamen, schon länger gespürten Sehnsucht.
Ohne noch weiter zu überlegen nahm er die Musikmaschine unter den Arm.
„Es tut mir leid“, sagte er, „aber es ist wohl besser so.“ Und ohne sich noch einmal umzudrehen verließ er die vertraute Lichtung.

Der Bär war jetzt schon eine ganze Zeit gegangen und die Füße taten ihm weh. Eigentlich war er wie alle Bären ziemlich gut zu Fuß, doch diese liefen dann auf allen Vieren, während er sich von Anfang an entschieden hatte, ab jetzt auf zwei Beinen zu gehen.
Sein Ziel war ihm von Anfang an klar: Die Gegend, wo die Menschen wohnten, wo man tanzte und diese Musik spielte. Die Stadt.
Das Gebiet, in dem er sich jetzt bewegte, war immer noch ländlich, aber schon lange kein Bärengebiet mehr. Weiter entfernt erblickte er viele Häuser, dort musste die Stadt sein. Es wurde Zeit für eine Rast. Die Gegend war nicht übel: ein größerer Platz mit einigen Bänken, ein kleiner Bach plätscherte am Weg entlang, ein mächtiger frisch gefällter Baum erschien ihm als idealer Sitz.
Der Bär stillte seinen Durst am Bach, dann setzte er sich auf den dicken Baumstamm und dehnte seine Glieder.
Sein Blick fiel auf den silbernen Kasten neben ihm, und er begann wieder das Zucken in seinen Beinen zu spüren. Er drückte den Knopf, rückte seine Mütze zurecht und sofort hatte er den Beat in den Beinen. Ohne sein Zutun ruckelte und zappelte es in ihm, schwangen seine Arme vor und zurück, bog sich sein ganzer Körper im Takt der Musik.
Ein lautes Knattern ließ ihn aufblicken. Vier oder fünf zweirädrige Fahrzeuge kamen auf ihn zu, bremsten hart neben ihm im Staub.
„Ey“, sagte einer von ihnen, „ich glaub es nicht...ein Bär, der tanzt.“
„Der hat es voll drauf, Marc“, antwortete einer, der hinter ihm saß, „und was für eine Mucke der da in seinem Ghettoblaster hat, voll abgefahren!“
Der Bär hatte die Ankömmlinge bemerkt, unterbrach sein Tanzen und schaute sich die Menschen an. Er erkannte sechs Jungen und drei Mädchen. Die Jungen waren so gekleidet wie er es immer für sich gewünscht hatte, wenn er die Jugendlichen am Waldsee beobachtet hatte, und sie redeten auch so.
„Cool“, entfuhr es ihm.
„Ich glaub es nicht!“ wiederholte der Junge, den sie Marc nannten. „Dieser schräge Typ hier auf unserem Platz. Stellt die Roller ab. Den gucken wir uns mal an.“
Die Jugendlichen bildeten einen Kreis um den Bären.
Marc schaute auf den CD-Player. „Von wem ist denn die Scheibe? Kenn ich nicht, ist aber saugut. Darf ich mal?“
Ohne eine Antwort abzuwarten stoppte er den Apparat und nahm vorsichtig die Silberscheibe raus. Er bemerkte, dass sie kein Label hatte und offensichtlich gebrannt war.
Marc legte die CD wieder hinein und drückte „play“.
„Ey, das ist voll abgefahren! Ist das Hip Hop, oder Rap, oder Techno? Tommy, du bist doch unser CD- Papst, von welcher Gruppe ist das?“
Tommy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, kenne ich überhaupt nicht, nie so was gehört. Aber echt genial!“
Nachdenklich spielte er am Gasgriff seines Rollers. Dann schaute er den Bären an. „Oder er hat die selbst gemixt. Vielleicht ist er auch ein DJ!“
Marc ging einen Schritt auf den Bären zu. „Hat er recht? Ist die CD selbst gemixt? Bist du ein DJ? Wie heißt du?“
Der Bär starrte die Gruppe andächtig an. Es war für ihn wie in einem Traum, dass sie mit ihm wie mit ihresgleichen sprachen.
„Cool“, entfuhr es ihm wieder, „cool“.
„Du heißt Cool?, fragte Marc.
„Das ist sicher sein Künstlername“, meinte ein blondes großäugiges Mädchen. „Er heißt DJ Cool. Wir sollten ihn fragen, ob er heute Abend zu unserer Party kommt. Wär echt ’ne Granate. Und die Scheibe könnte er mitbringen.“
„Du hast gehört, was Ricci vorgeschlagen hat, Dee-Jay, sagte Marc zum Bären, der ihn mit großen Augen anschaute. „Wenn du Lust hast, kannst du solange zu mir mitkommen. Ich hab noch einen Platz auf meinem Roller frei, du kannst bei mir hintendrauf mitfahren.“
„Cool“, sagte der Bär und schwang sich hinter Marc, den silbernen Kasten fest an sich gedrückt. Bedenklich in den Federn hängend quälte sich der schwer belastete Motorroller auf Touren, dicht gefolgt von den Anderen.

Marc wohnte bei seinen Eltern, er besaß ein großes Zimmer im ausgebauten Keller. Direkt daneben war der Party-Raum, in dem es am Abend „abgehen“ sollte. Stolz zeigte Marc dem Bären seine Anlage.
„Hier, Dee-Jay, die beiden Subwoofer, in die Bar integriert, mit den beiden anderen Boxen zusammen satte vierhundert Watt. Dann dort hinter der Theke der Platz für den DJ, zwei CD- Player, zwei Turntables, Mixer mit Crossfader...alles was man braucht. Kannste dir ja mal nachher in Ruhe angucken.“
Der Bär nickte andächtig. Er hatte nicht viel verstanden, außer dass es mit Musik zu tun haben musste, und ziemlich cool war.
„Cool!“, sagte er und schlug sich vor Freude mit den Pranken auf die Beine. Dabei fiel sein Blick auf seinen pelzigen Körper und auf seine Füße. Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen, schaute begehrlich auf die Turnschuhe und das lange Shirt von Marc.
Marc begriff sofort. „Du brauchst Turnschuhe und ein Shirt. Komm mit!“
Im geräumigen Kleiderschrank herrschte eine heillose Unordnung, doch mit sicherem Griff zog Marc ein paar modische Schuhe heraus und ein schwarzes Shirt mit bunter Schrift.
Kurze Zeit später drehte sich der Bär in seinen neuen Sachen selbstgefällig vor dem Spiegel.
Auch Marc war zufrieden. „Echt spacy, passt zu deinem Typ, Dee-Jay.“
Der Bär ließ ein zufriedenes Knurren hören, das verdächtig nach „cool“ klang.

Die Zeit bis zum Beginn der Party war schnell vergangen. Ein stürmisches Klingeln ertönte aus dem Flur. Marc blickte auf die Uhr.
„Oh, schon Acht. Die Ersten kommen schon.“
Während sein Freund eine Gruppe von fünf herumalbernden Jugendlichen in den Partykeller führte, verschwand der Bär auf der Toilette. Er war sehr aufgeregt.
Marc hatte das Verschwinden des Bären nicht sofort bemerkt, doch bald vermisste er ihn. Nach einigem Suchen fand er ihn hinter der Tür zu dem kleinen Raum.
„Was ist los, Dee-Jay, wir warten auf dich. Ich will dich den anderen vorstellen. Du bist heute der Star des Abends.“
Der Bär gab sich einen Ruck und öffnete die Tür. Gemeinsam ging er mit Marc Richtung Partyraum. Wummernde Bässe und gedämpftes Lachen drang durch die Wand.
Plötzlich wurde eine Tür geöffnet, ein Junge und ein Mädchen kamen heraus, und mit ihnen ein Sturm von buntem Licht und ein Orkan von Musik, der dem Bären die Bauchdecke massierte.
„Cool!“, rief er, aber das hörte niemand bei dem Lärm. Ja, das war die Welt, die er sich erträumt hatte, das würde seine Heimat werden.

Die Party wurde dann auch für ihn ein voller Erfolg. Zuerst bot man ihm einige Getränke an und er trank sie gierig, er hatte Durst und er war aufgeregt. Die Getränke schmeckten ziemlich eklig, aber er würde sich daran gewöhnen, außerdem wurde ihm so herrlich warm danach.
Marc nahm das Mikrofon, seine Stimme klang süß wie Honig in des Bären Ohren.
„Und jetzt zu unserem Ehrengast des Abends. Er ist ein Bär, er ist ein großer DJ, und er hat seinen neuesten Silberling mitgebracht: Applaus für DJ Cool! Gib uns deine Scheibe.“
Der Beifall der Gäste ließ den Bären noch um einige Zentimeter wachsen.
Die Musik auf „seiner“ Scheibe zeigte den erwarteten Erfolg: alle tanzten begeistert auf die hämmernden Beats. Schließlich bildete man einen Kreis, der Bär wurde in die Mitte geholt und gab eine Probe seines Könnens, tanzte sich mit wirbelnden Tatzen in einen Rausch.
Als er schließlich erschöpft in der Ecke saß, kümmerten sich sofort zwei Mädchen um ihn. Die eine, es war die blonde Ricci, brachte ihm ein großes Glas mit einer roten Flüssigkeit, die er ohne Zögern in sich hineinschüttete, die andere, eine Schwarzhaarige, steckte ihm einen weißen brennenden Stab in sein Bärenmaul. Der Qualm kitzelte seine empfindliche Nase und er musste fürchterlich husten. Die beiden Mädchen lachten laut und er schämte sich.
Marc war neben den Bären getreten. „Wie ich sehe, amüsierst du dich gut, Dee-Jay. Wenn du Lust hast, kannst du dir jetzt mal die Anlage hinter der Bar ansehen.“
Auffordernd hielt er dem Bären die erhobene Hand hin. Dieser klatschte ihn ab, wie er es jetzt einige Male gesehen hatte, dann ließ er sich von seinem Freund hochziehen – um ehrlich zu sein, er tat nur so, bei seinem Gewicht.
Die vielen schwarzen und silbernen Geräte zogen ihn sofort in ihren Bann, aber eigentlich wusste er mit ihnen überhaupt nichts anzufangen.
„Amüsier dich“, sagte Marc, „du kennst dich ja aus.“ Dann wandte er sich wieder anderen Gästen zu.
„Musik läuft auf jeden Fall“, dachte der Bär, „da muss ich erst mal nichts machen.“ Zwei flache Apparate zogen sein Interesse auf sich, auf ihren Oberseiten waren kreisrunde Teller befestig. Auf jedem Teller lag eine flache gerillte schwarze Scheibe. Rechts neben der Scheibe war eine dünne silberne Stange angebracht. Das mussten die Turntables sein, dachte er.
Der Bär sah sich um, niemand schien ihn zu beachten. Vorsichtig betastete er die Scheiben, sie ließen sich in beide Richtungen drehen. Nach einigem Gefummel hatte er den Schalter gefunden, der sie in Bewegung versetzte. Zufrieden brummte er, dann machte er sich an den silbernen Stangen zu schaffen.
„Setz den Kopfhörer auf, Dee-Jay!“, rief ihm jemand zu und schob ihm eine Klammer auf den Kopf. Jetzt konnte der Bär Musik hören, der Beat klang allerdings ziemlich langweilig, anders als die aufrüttelnde Musik aus den Lautsprechern, die seine Beine zum Zappeln und seinen Körper zum Schwingen brachte.
Im Rhythmus der Musik begann er mit den Turntables zu spielen, das Leder seiner weichen Tatzen legte sich sanft auf die schwarzen Scheiben, bremste die eine ab, beschleunigte die andere, rüttelte sie hin und her, immer mit dem Beat im Bauch.
„Leg sie auf die Anlage!“, schrie ihm Marc ins Ohr, der neben ihn getreten war und wies mit dem Finger auf einen großen Schalter.
Der Bär drückte ihn und guckte seinen Freund an.
„Jetzt weiter scratchen, geh an die Turntables“, rief dieser begeistert, „du bist echt geil!“

Irgendwann in den frühen Morgenstunden waren die meisten Gäste gegangen, bis auf einige wenige, die mit Marc ausgemacht hatten, im Partyraum zu übernachten.
„Wo schläfst du eigentlich, Dee-Jay?“, fragte er den Bären, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Bist du auf Tournee? – Weißt du was, du kannst bei mir schlafen. Das Zimmer nebenan ist frei, es gehört meiner Schwester, aber die ist nie da, studiert im Moment in England.“
Der Bär hatte nichts dagegen einzuwenden, legte sich auf den Teppich neben dem Bett und war sofort eingeschlafen.


Die Zeit verging. Dee-Jay lebte sein erträumtes Leben. Mit seiner CD wurde er von einer Party zur nächsten durchgereicht, bekam immer neue, moderne Anziehsachen geschenkt, wohnte mal bei Diesem, mal bei Jenem. Er dachte sich immer verrücktere Tanzschritte aus, die von Vielen nachgeahmt wurden; eine Schrittfolge wurde sogar ins offizielle Programm einer örtlichen Tanzschule aufgenommen.
Schließlich machte der lokale Radiosender ein Feature über den neuen Star der städtischen Partyszene. Bunt angemalte, aufdringlich kreischende Menschenmädchen wollten mit ihm fotografiert werden, von ihm eingeladen werden, mit ihm essen gehen.


Monate waren vergangen. Dee-Jay lag lustlos neben dem Bett im Zimmer von Marcs Schwester. Seit einigen Tagen wohnte er wieder bei seinem Freund.
Die Parties fingen an, ihm auf die Nerven zu gehen, er wollte seine Ruhe haben. Und er begann zu spüren, dass ihm irgendetwas Wichtiges zu fehlen schien.
Duftende Träume, die wie bunte Seifenblasen vor seinen Augen schwebten, ergriffen immer mehr Besitz von seinem Inneren. Er träumte davon, aus einem Bienenstock Honig zu klauen, immer die prickelnde Gefahr der schwirrenden Insekten im Nacken, er träumte vom Fischen im Wildbach mit schnellem Prankenschlag, er glaubte den süßen Duft der verschiedenartigen Bäume und Waldblumen zu schnuppern, die Wildrose, deren Aroma seine empfindliche Nase verwöhnte, er träumte vom Traben auf allen Vieren über den weichen Waldboden, von den Schmetterlingen, die vor seiner Nase Kapriolen schlugen. Die Ruhe in einem stillen Waldwinkel trat vor seine Augen, wo man wirklich nichts hörte, höchstens das leise Summen von Insekten und das Rauschen der Blätter im Wind.
„Was ist los mit dir, Alter?“ Marc war in das Zimmer gekommen. „Du hängst ziemlich oft durch in den letzten Tagen. Du brauchst was zum Aufbauen. Gurke hat angerufen, wir fahren gleich zum Waldsee, lassen da ’ne Party steigen. Harry besorgt alles zum Grillen, Holgi bringt genug Alk mit und Freddy seine Mega- Anlage. Übrigens, Britta kommt auch, die Rote, die dich so geil findet.“
Der Bär wusste nicht, was er davon halten sollte. Er quetschte sich wie in Trance in den geräumigen Jeep von Freddy. Das Rütteln der harten Reifen nervte ihn. Am See angekommen ergossen sich fünfzehn Jugendliche an das bis dahin ruhige Ufer. Enten flatterten schimpfend auf. Die Anlage wurde aufgebaut und an eine Autobatterie angeklemmt; wattstark bliesen die Boxen ihre bombastische Botschaft über das Wasser.
Der Bär schaute sich um. Ein halbes Leben war er nicht mehr an diesem See gewesen, so kam es ihm vor. Er erkannte ihn kaum wieder. Ein alter Autoreifen ragte in Ufernähe aus dem Wasser, Getränkedosen schwammen zwischen dem Schilf, und die rostige, verbogene Gabel eines alten Fahrrades reckte sich wie eine verkrüppelte Hand empor.
Einige seiner Bekannten waren sofort ins Wasser gesprungen und begannen nun dort herumzutoben, zwei oder drei luden die Sachen aus und bauten den Grill auf, der Rest setzte sich mit Getränkedosen in der Hand an den Rand des Sees und schaute den anderen zu und warfen sich lachend Bemerkungen zu.
Der Bär schüttelte den Kopf und legte sich abseits in den Schatten. Er schloss die Augen und wartete einfach, was kommen würde.
Lange war nur Dunkelheit um ihn, und die tat ihm gut.
Plötzlich löste sich ein Wesen aus dem Nebel seiner Gedanken und kam auf ihn zu. Es war ein junger Bär, er ging langsam, und in seinen Bewegungen hatte er etwas Besonderes, das Fliegentatze sich nicht erklären konnte. Gleichzeitig traf ein süßer, unbekannter Geruch seine Nase, ein Duft, der neu für ihn war und doch sehr alt, und sehr real.
Der Bär öffnete die Augen. Angestrengt spähte er zum Waldrand hin. Er konnte nichts Genaues erkennen, oder doch?
Langsam stand er auf, ging zielstrebig in Richtung des Waldes, folgte einem uralt bekannten Geruch.
„Wo willst du denn hin, Dee-Jay?“, hörte er von Weitem Marcs Rufen, doch die Worte hatten ihre Bedeutung verloren. Der Bär ließ sich auf alle Viere nieder, versuchte, in den wiegenden Bärengang zu fallen, doch es gelang nicht so ganz.
Das Bärenmädchen, dass plötzlich neben einer dichten Buschgruppe stand, musste etwa in seinem Alter sein. In einiger Entfernung vor ihr blieb er stehen, schnuppernd, ihr zarter Fliederduft umfloss seine Nase. Das Bärenmädchen näherte sich langsam, lief um ihn herum, beschnupperte ihn gründlich. Plötzlich fing sie an zu lachen, was bei Bären ziemlich komisch aussieht, aber es war ein Lachen, nicht laut, eher ein leichtes Knurren – und es ließ Fliegentatze das Blut vor Verlegenheit bis in die Spitzen seiner Ohren steigen.
„Was hast du?“ fragte er völlig irritiert.
„Guck dich doch mal an!“, lachte die junge Bärin.
Fliegentatze sah an sich herab, bemerkte die Turnschuhe, wie sie plötzlich noch schlimmer drückten und scheuerten, spürte das Schlabber- Shirt, das auf seinem Pelz juckte, zog es sich vom Fell, schleuderte die Schuhe weg.
Das Bärenmädchen kam näher, schnüffelte wieder. „Aber du riechst gut, wirklich gut.“


Der Bär lag vor seiner Höhle in der Wärme. Sonnenstrahlen brachen durch die Wipfel der Bäume und malten schmetterlingsgleiche bunte Flecken auf den Waldboden. Eine freche Fliege suchte immer wieder seine Nase als Landeplatz, brachte seine Tatze zum Zucken. Für einen Moment tauchten Fragmente von zappelnder, hämmernder Musik vor seinen Ohren auf, grelle Gerüche trafen die Erinnerung seiner Nase, bedruckte T-Shirts, bunte Turnschuhe und schlabbrige Hosen zuckten vor seinen Augen.
Der Bär schüttelte sich. Er atmete tief durch, mehrmals, spürte langsam wieder die würzige Waldluft, das Kitzeln eines Sonnenstrahls. Leichter Fliederduft umwehte ihn, und kribbelnde Freude begann sich in seinem Bauch auszubreiten. Dann knuffte ihn eine weiche Tatze in die Seite.
„Hast du wieder geträumt, Dee-Jay?“ flüsterte die liebevolle Stimme seiner Bärin dicht an seinem Ohr.
 

Rafi

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Hm, na ja – was soll man davon halten? Ich bin mir nicht sicher, ob es sich bei dieser Geschichte um eine Fabel, eine Parabel, ein Märchen oder um etwas ganz Anderes handelt …
Der Bär in der Welt jugendlicher Party-Löwen – hat das nun was oder nicht? Vielleicht – aber nur vielleicht! – wäre die Grundidee ein Stück wirklicher Literatur geworden, wäre der Bär tatsächlich ein tappsiger, großer, behaarter, brummender Mensch, dem niemand ein solches Geschick in Sachen Musik zugetraut hätte. Endlich wird dieser Kerl, dem es sonst aufgrund seines Äußeren und des Inneren an Kontakten und an menschlichem Miteinander fehlte, akzeptiert und sogar bewundert. Dann jedoch spürt er in all dem Trubel, der um ihn herum veranstaltet wird, dass sein wahres Lebensziel ganz woanders liegt, in der Einsamkeit eines Waldes womöglich …
Vielleicht wäre dann daraus … aber eben nur „vielleicht“ und „wäre“.
So weiß ich wirklich nicht recht, was ich von dieser Geschichte halten soll, die mir – und das ist es wahrscheinlich, was bleibt – zu stark an Klischees jugendlicher Sprache und Verhaltensmuster aufgehängt ist. Was mir persönlich fehlt, ist ein klischeefreier Kontrast, aber das mögen andere anders sehen …

Gruß
Rafi
 

KaWe

Mitglied
Danke erst einmal dafür, Rafi, dass du dich mit meinem Text inhaltlich recht tiefgreifend beschäftigt hast. So etwas empfinde ich als durchaus interessant.
Dennoch kann ich deine globale Kritik daran (um was für eine Textsorte handelt es sich eigentlich dabei...? - ...zu klischeehaft... - ...keine wirkliche Literatur...) nicht teilen.
Ich denke schon, dass es mir gelungen ist, in diesem kurzen, satirischen Text auf humorvolle Art die (menschliche) Problematik dieses Bären deutlich und fühlbar werden zu lassen: Ein Jugendlicher, der (noch) nicht mit sich im Einklang ist, Anerkennung (von falscher Seite) sucht, der eine innere Rebellion spürt und diesem Gefühl nachgibt. Das Abenteuer suchen – bis zur Über-Sättigung. Und wider Willen armseliger Clown wird, ohne es zu merken.
Dies stellt ja auch mit seinem Lachen das weibliche Wesen fest, dass ihm schließlich über den Weg läuft und ihn dazu bringt, mehr mit sich in Einklang zu kommen.
Und außerdem:
„Wirkliche Literatur“ wollte ich mit der Story nicht schaffen. Wenn der Leser sich gut unterhalten fühlt und ein bisschen Nachdenklichkeit erzeugt wird, wäre ich schon mehr als zufrieden.

Max
 



 
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