Das Duell (3)

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Wolf-Wolle

Mitglied
Die Herde befand sich seit Tagen auf dem Marsch und hatte ein gutes Stück zurückgelegt. Der steinige Weg fiel nicht besonders schwer. Achtgeben musste man freilich. Unter dem frischen Schnee ließen sich die knotigen Wurzeln der Bergkiefer, die kleinen Löcher der Murmeltiere und alle anderen Hindernisse nicht erkennen. Ein Fehltritt konnte böse Folgen haben.
Es ging zügig voran. Bis zum Dorf brauchten sie keine sieben Tage mehr.

Am Rand einer weiten Ebene, die Berge im Rücken, schlugen die Hirten das Lager auf. Ganz in der Nähe floss ein Bach. An seinen Rändern hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet.
Ehrfurchtsvolle Stille lag über dem Land. Die Luft war klar. Am wolkenlosen Himmel funkelten die ewigen Sterne und mahnten zur Demut.

Schweigend saßen die Hirten am Feuer. Wenn sie morgen das vor ihnen liegende Plateau überquert hatten, begann der letzte Abstieg. Dann waren die Ausläufer des Gebirges erreicht und der Weg wurde leichter. Die Menschen hingen ihren Gedanken nach, rauchten und sahen dem Flammenspiel zu.

Boris lag neben dem Alten, hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Knacken der Äste im Feuer. Nahe wagte er sich nicht an den heißen Ring. Dort wurde es ihm zu ungemütlich. Mit dem Hirten verband ihn eine stille Freundschaft. Er kannte diesen Menschen seit seiner Geburt. Von Anfang an hatte er sich zu ihm hingezogen gefühlt.
Wann immer es die Arbeit erlaubte, hielt er sich in seiner Nähe auf und wurde oft mit einem Blick, einem Wort, einer Liebkosung bedacht.

Boris war ein aufmerksamer Beobachter. Schon nach kurzer Zeit verstand er die Worte und Gesten des Alten. Es erfüllte ihn mehr und mehr mit Freude, wenn dieser ihn zufrieden lobte. Gern lag er, so wie jetzt, neben ihm am Feuer und lauschte auf seine Gedanken.

Plötzlich hob er den Kopf. Was war das?

Der Hund kam hoch, ging ein paar Schritte vom Feuer weg und schaute sich aufmerksam um.
Jemand sah ihn an. Jemand, der nicht zur Herde gehörte, der sein Feind war. Boris spürte den brennenden Blick. Es war unangenehm, fast bedrohlich. Er entfernte sich weiter von dem schützenden Lichtkreis und lauschte in die Nacht. Außer dem Knistern der unberührten Schneedecke war nichts zu hören.

Obwohl er die Runde heute schon gemacht hatte, lief der Owtscharka noch einmal das Lager ab. Er kontrollierte jeden Posten, lauschte, schnupperte, spähte. Nichts!
Vor ihm türmten sich die Berge in den Himmel. Weit darüber leuchteten die Sterne. Hatte er sich getäuscht? Nein! Sie wurden beobachtet, er spürte es ganz deutlich. Etwas geschah.

Die aufgehende Sonne fand die Herde wach. Jede Stunde des knappen Tageslichtes musste genutzt werden. Kasim gab das Signal zum Aufbruch. Die Herde lief los.

Zwei Stunden später kamen die Wölfe!

Sie verzichteten auf Scheinangriff und Ablenkung. Ihr Rudel war stark genug, es mit Hirten und Hunden aufzunehmen.
Boris hatte nie geglaubt, dass es so viele Wölfe auf einmal geben könnte. Sie waren überall.
Die Angreifer fielen gleichzeitig von beiden Seiten in die Herde ein und drängten im Handumdrehen einen Teil der Tiere ab. Bevor sich die Hirten von ihrem Schreck erholen konnten, sahen sie zwei Herden vor sich. Die größere von beiden rannte in panischer Angst den eingeschlagenen Weg weiter. Igor und die beiden Hündinnen konnten sich gerade noch rechtzeitig vor den Rinderhufen in Sicherheit bringen.
Zum Glück führte der Weg nur noch leicht bergab, keine Schluchten, keine Spalten, nur Wald und dichtes Unterholz.
Die Tiere waren nicht aufzuhalten. Sollten sie rennen! Irgendwann würden sie von selbst stehen bleiben. Jedoch durften sie die fliehenden Rinder nicht völlig ihrem Schicksal überlassen. Wer weiß, wohin sie dann schließlich laufen würden. Einige der Hirten und alle Hütehunde galoppierten den Flüchtenden hinterdrein. Die anderen stellten sich dem Feind zum Kampf. Einem Kampf auf Leben und Tod.

Das war nicht übertrieben. Die Wölfe waren weit in der Überzahl. Sie waren stark und sie waren ausgehungert. Das machte sie doppelt gefährlich. Sie brauchten Nahrung und zwar schnell. Ein vor Hunger fast wahnsinniger Wolf kämpft bis zum Tod um die Beute. Wenn er die nicht bekommt, muss er sowieso sterben. Darum kann er nicht aufgeben.

Die Grauen ließen sich nicht sofort auf einen Kampf ein und rissen auch trotz ihres fürchterlichen Hungers keines der Tiere. Sie mussten einen sehr klugen Führer haben.
Mit der Masse ihrer Leiber rannten sie die vierbeinigen Wachtposten kurzerhand um, spalteten die Herde und zwangen den hinteren Teil zur Umkehr.
Zwanzig, fünfundzwanzig Tiere drängten sie ab und jagten diese auf der eigenen Spur zurück in die Berge. Drei, vier Wölfe genügten, die Rinder am Laufen zu halten. Die restlichen Angreifer blieben stehen, bereit zum Kampf.

Die Pferde waren nicht zu beruhigen und somit das Schießen unmöglich. Wie leicht wäre ein Rind oder einer der Hunde getroffen.

Wo blieben nur Tschubuk und die anderen drei der Nachhut? Boris konnte sie nirgends entdecken. Vor sich sah er nur graue Wolfsleiber. Aus den Augenwinkeln erspähte er Igor mit Tschaika und Ina. Auch die beiden Paare, die rechts und links die Herde begleitet hatten, kamen heran. Die Wölfe bildeten eine dichte Mauer. Eine Mauer aus Krallen und Zähnen, aus Hass und Tod. Auf jeden Owtscharka kamen mindestens fünf Graue.

Boris rannte los.
Gleichzeitig mit ihm griffen die anderen Hunde an. Der Kampf begann.
Wie ein Rammsporn drang Boris tief in das Rudel der Angreifer ein und brachte die Mauer ins Wanken. Zwei Wölfe schleuderte er kurzerhand beiseite, zerriss einem dritten im Sprung die Kehle und rammte den vierten, dass dieser sich dreimal überschlug und betäubt liegen blieb. Boris schnappte nach rechts und links, war überall und nirgends, riss einen Wolf nach dem anderen zu Boden.

Er sah Tschaika und Igor kämpfen, hörte die Rufe der Hirten, das Wiehern der verängstigten Pferde. Es war ein Knurren, Bellen, Beißen und Sterben.

Plötzlich versank alles um ihn herum im Nichts. Er stand dem Anführer der Räuber gegenüber.

Es war der Wolf aller Wölfe.
Ein riesiges Tier, schwarz wie die Nacht, mit nur einem Auge und Mordlust in seinem Blick. Diesen Blick hatte er während der letzten Tage gespürt.
In seiner Erinnerung tauchte der einäugige Wolf auf, der seinen Vater tötete. Er musste auferstanden sein. Boris war sich sicher, dem Mörder damals die Kehle durchgebissen zu haben.

Er sah und hörte nichts mehr. Er spürte nicht, wie ihm die Flanke aufgerissen wurde und sein heißes Blut in den Schnee floss, nahm nicht wahr, dass Tschaika den hinterlistigen Angreifer niedermachte, hatte keinen Blick für Ina, die mit aufgerissenem Bauch liegen blieb.

Der Schwarze stand vor ihm. Boris wusste, in dieser Welt war kein Platz für sie beide.
Dumpfes Grollen drang aus seiner Kehle. Er spannte die Muskeln an und machte sich bereit für seinen größten Kampf.

Plötzlich fielen Schüsse. Der Schwarze Wolf sah hoch und erkannte sofort die veränderte Situation.

Der Kampf war verloren!

Er wandte sich zur Flucht.

Bevor er sich umdrehte und davonstürmte, senkte er seinen Blick in die Augen des Hundes. Boris spürte eine Nadel aus Eis in seinen Körper dringen.
Einauge jagte davon, und sein Rudel mit ihm.

Überall waren plötzlich Hunde und Menschen, die gnadenlos töteten, was nicht rechtzeitig das Heil in der Flucht suchte. Mit Äxten und langen Messern hieben die Hirten auf die Grauen ein. Die Hunde rissen sie zu Boden und brachten die Sache zu Ende.

Die Rettung kam in letzter Minute.

Das Dorf besaß zwei fast gleichgroße Rinderherden, die sich während des Sommers auf weit voneinander liegenden Hochweiden ihren Winterspeck anfraßen. Die zweite Herde hatte den Abstieg ins Tal früher begonnen und war schon einige Tage im Dorf. Die Hirten hatten alle Tiere untergebracht und sich, den Hunden und Pferden etwas Ruhe gegönnt. Als dann die Zeichen des nahenden Winters immer deutlicher wurden, beschloss man, der anderen Herde entgegenzueilen, um die Arbeit leichter zu machen und das letzte Stück Weg schneller zu bewältigen.

Unterwegs trafen die Männer auf die talwärts stürmenden Tiere. Sofort war allen klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie überließen die Rinder ihrem Schicksal. Die würden sich schon müde laufen.

Der Weg war nicht zu verfehlen. Die in Todesangst galoppierende Herde hatte eine breite Schneise durch das Unterholz getrampelt. Die Hirten trieben ihre Pferde an und schickten die Hunde voraus.

Viel später hätten sie nicht kommen dürfen.

Der Platz war übersät mit toten Tieren. Zwanzig, fünfundzwanzig Wölfe lagen in ihrem Blut, aber auch sieben Hunde waren dabei. Zwei fremde und fünf aus dem eigenen Rudel. Ein hoher Preis. Traurig leckte einer Inas Schnauze. Sie würde nie wieder aufstehen. Auch Tschubuk und die drei anderen der Nachhut waren tot. Alle Hunde des Rudels hatten mehr oder weniger schwere Wunden davongetragen und konnten nicht an der Verfolgung der Räuber teilnehmen, zu der jetzt die Hirten aufbrachen. Mit ihnen liefen die Wächter der zweiten Herde.
 



 
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