Das Duell (9 und Schluss)

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Wolf-Wolle

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Mitten auf der Lichtung saß der Schwarze Wolf. Er wartete.
Das Rudel hatte sich in alle Winde zerstreut. Viele waren den Hirten und Hunden entkommen. Zufrieden leckte sich Einauge die Schnauze. Sollte es notwendig sein, fanden sie sich wieder zusammen. Sobald das hier erledigt war, folgte er seiner Wölfin zum Bau.

Die Szene wirkte wie aus einem Film.
Der aufgehende Mond überschüttete den fast kreisrunden Fleck inmitten des Waldes mit seinem fahlen, unwirklichen Licht.
Stille umgab diesen Ort.
Von irgendwoher trug der sanfte Wind eine zarte Melodie heran. Sie klang wie das Flüstern des Elfenreigens in einer Sommernacht und schien so zerbrechlich, dass schon ein tiefer Atemzug sie zu zerstören vermochte.
Einauge erinnerte an eine Statue. Reglos saß er da, ließ kleine Wölkchen aus dem Maul aufsteigen und schaute unverwandt in eine Richtung. In dem bernsteingelben Auge des Wolfes spiegelten sich die Sterne.
Eine Bewegung zwischen den Bäumen ließ ihn aufmerksam werden. Sein Blick erfasste die dort aufgetauchte Gestalt. Ein großer, kräftiger Hund kam aus dem Wald, zögerte kurz und näherte sich dann schnell.

Boris trat aus dem Wald und sah den Wolf. Keine zwanzig Meter von ihm entfernt saß er im Schnee und rührte sich nicht. Boris blieb stehen. Der Owtscharka war in bester körperlicher Verfassung.

Weder hungrig noch durstig und auch nicht müde vom Laufen. Im Gegenteil. Die Verfolgung hatte seine Kraft noch gestärkt. Er brannte darauf, sich auf den Schwarzen zu stürzen, die Zähne in seine Kehle zu graben, ihn zu töten.
Sein Feind stand auf. Er schien auf ihn gewartet zu haben.
Irgendetwas war falsch.
Boris dachte nicht darüber nach. Er lief los.

Es war wie das Zusammentreffen zweier Welten, wie das Aufeinanderprallen zweier ewig alter, unbesiegbarer Mächte.

Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen.

Dann begann der Kampf. Ohne viel Zeit mit Knurren, Zähnefletschen oder sonstigen Drohgebärden zu verschwenden, stürzten sich die beiden Rudelführer aufeinander. Sie waren gleich groß, gleich stark, gleich mutig. Beide zielten auf die Kehle des anderen und wichen gleichzeitig dem Gegner aus. Sie bekamen sich am Halsansatz, nahe der Schulter zu fassen. Ihre Zähne drangen durch das dichte Fell bis ins Fleisch. Keiner spürte den Schmerz, keiner ließ los. Sie knurrten sich an, zerwühlten den Schnee, stemmten sich gegeneinander. Jeder wartete auf eine Gelegenheit, den Biss höher zu setzen, um die Lebensader des anderen zu erreichen. Doch dazu müsste der Gegner kurz losgelassen werden und hätte seinerseits die Möglichkeit, fester und höher zuzubeißen. Sie drehten sich im Kreis und Hass funkelte in ihren Augen.
Plötzlich knickte der Wolf mit den Hinterbeinen ein. Seine Kiefer öffneten sich. Im gleichen Moment sackte der schwere Körper zusammen und fiel in den Schnee.
Damit er nicht umgerissen wurde, ließ Boris ebenfalls los.

Siegessicher stürzte er sich auf den am Boden Liegenden, um ihm ein für allemal den Garaus zu machen, als ihm der Wolf mit den langen, messerscharfen Krallen seiner Hinterpfoten den Bauch aufriss. Im gleichen Moment schlossen sich Einauges Kiefer um die Kehle des Hundes. Der Wolf biss zu und durchtrennte ihm die Schlagader. Zwei, drei Sekunden hielt sich Boris noch auf den Beinen, dann sank er auf die Seite. Der Wolf beugte sich über ihn und trank gierig das hervorsprudelnde Blut, bis der Lebensquell versiegte.

Der Owtscharka war tot.

Einauge wandte sich um. Er lief nicht in Richtung der Hügel, wo seine Gefährtin wartete. Für sie hatte er keinen Gedanken. Ebenso wenig kam ihm in den Sinn, ein neues Rudel zusammenzurufen. Fast schien es, als folge er einem fremden Willen, der ihn nun gehen hieß. Was getan werden musste, hatte er getan. Nun rief es ihn wieder zurück, wo immer das auch war.

Der Nachtwanderer stand hoch am Himmel und schickte sein silbernes Licht auf den Schnee. Es war Vollmond und taghell. Der leichte Wind wurde stärker und fuhr schließlich wütend durch die Tannen, die den Rand der Lichtung säumten. Die ließen vor Schreck ihre weiße Last von den Zweigen fallen. Der Wind griff den Schnee auf, wirbelte ihn über den Platz und deckte damit den toten Owtscharka zu. Fast schien es, als habe er Mitleid mit diesem geschundenen, zerrissenen Körper und wollte ihm den letzten Rest seiner schwindenden Wärme noch etwas länger erhalten. Die zarte Melodie war verklungen.

Es wurde kälter.
Der Wind floh zurück in sein Versteck und ließ auf der Lichtung mitten im Wald, am Rande der wilden Berge einen kleinen, weißen Hügel zurück.


*****


Die Wölfin hatte sich zurückgezogen. Ihre Höhle lag am Südhang, gut versteckt zwischen Zirbelkiefern und zahlreichen, großen Felsbrocken. Es war der gleiche Unterschlupf, der sie und Einauge aufgenommen hatte. Hier konnte sie ungestört auf die Geburt ihrer Jungen warten.
Einauge fehlte ihr sehr. Wo mochte er jetzt wohl sein?

Hat sich ein Wolfspaar erst einmal gefunden, dann bleiben sie in den meisten Fällen auch bis an ihr Lebensende zusammen. Der Rüde umsorgt seine Wölfin insbesondere während der letzten Wochen ihrer Schwangerschaft und zeigt sich als liebevoller Vater, wenn die Kleinen schließlich auf der Welt sind. Er besorgt das Futter für die immer hungrige Familie und ist auch sonst auf das Wohl seiner Sippe bedacht.

Einauge legte keinen Familiensinn an den Tag. Er war ein in jeder Beziehung ungewöhnlicher Wolf, vielleicht war er nicht einmal das.

In unmittelbarer Nachbarschaft der Höhle zog ein Finkenpaar in ihr frischgebautes Nest ein, fest entschlossen, ebenfalls Nachwuchs in die Welt zu setzen. Der Finkenhahn unterhielt seine Gemahlin tagsüber mit den schönsten Liedern aus seinem reichhaltigen Repertoire. Hoch am blauen Himmel, manchmal kaum zu erkennen, flog der Adler seine ewigen Kreise. Bald würden die Hänge im strahlenden Weiß der Schneerose leuchten.

Die Sonne stand schon hoch und brauchte viel Zeit für ihren Tagesreigen. Ihre warmen Strahlen zehrten rasch den restlichen Schnee auf.
Die Wölfin brachte vier gesunde Welpen zur Welt. Schnell wuchsen die Kleinen heran. Einer fiel dem Betrachter besonders ins Auge. Kräftiger als seine Geschwister, drängte er sich erster ans Gesäuge und bestimmte, wann gespielt oder gerauft wurde. Er hatte dichtes, schwarzes Fell und nur ein Auge.
Ein neuer Rudelführer war geboren.

Einauge wurde nicht mehr gesehen. Weder in diesem Teil des Landes, noch in den Nachbarregionen tauchte er je wieder auf. Sah es mit dem Tod des Hundes zuerst nach einem Sieg des Bösen aus, so war damit ein Unentschieden erreicht. Boris hatte seine Aufgabe erfüllt. Der Schwarze Wolf blieb verschwunden.
 



 
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