Das Duell (Einleitung)

Wolf-Wolle

Mitglied
Jana träumt.
Sie hat den Kaukasus zwar noch nie gesehen, doch fließt das Blut ihrer Väter und Vorväter heiß in ihren Adern und bringt sie manche Nacht in die rauen Schluchten, die grünen Täler und in die unendlichen Wälder dieses ursprünglichen Gebirges.

In den dünnbesiedelten Landstrichen treiben die Hirten seit Hunderten von Jahren ihre Rinder- und Schafherden nach der Schmelze hinauf zu den Hochweiden und kommen vor dem ersten Schnee im späten Herbst nicht wieder zurück. Die Tiere haben genug Zeit, sich ein gutes Gewicht zuzulegen. Das brauchen sie auch. Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür und nur mit Trockenfutter wird ein hungriges Rind nie richtig satt werden. Da müssen Fettreserven ran. Doch so manches Rind oder Schaf wird die Weide zum letzten Mal gesehen haben. Die Menschen wollen schließlich auch leben.
Die sie begleitenden Hunde haben die Umgebung in allen Himmelsrichtungen kennen gelernt. Nichts ist ihnen fremd, jeder Stein vertraut. Wenn sich unter ihrer dicken Felldecke die puschlige Unterwolle zu vermehren beginnt, wird es höchste Zeit zum Aufbruch.

Manchmal kommt der Winter früher als erwartet. Dann wird es besonders schwer, die Herde zu Tal zu bringen. Auch für das Rudel ist dies jedesmal eine harte Zeit, denn ringsumher lauert der graue Tod und so manch tapferer Hund sieht den heimatlichen Hof niemals wieder.

Wenn der kalte Schnee das Land mit einer oftmals meterhohen Schicht bedeckt und selbst im Wald nichts mehr an Grün zu finden ist, zieht sich das Wild in die geschützten Täler zurück.

Wenn dann der Wind sein eisiges Lied in den Bergen singt und das Wort gefriert, ehe es ausgesprochen werden kann, überlebt dort oben nichts mehr. Der Frost tritt seine Herrschaft an und zwingt jeden in die Knie, der glaubt, ihm widerstehen zu können oder der so unvorsichtig war, nicht rechtzeitig zu verschwinden.

Die Winterschläfer liegen in dick ausgepolsterten Betten und haben für einige Monate keine Sorgen.

Auch Meister Petz hat sich ordentlich Winterspeck angefressen und dabei sein Gewicht fast verdoppelt. Jetzt liegt er zusammengerollt in seiner Höhle und träumt dem Frühling entgegen. Ihn stört es nicht, wenn der Nordwind durch das Land jagt und Schnee sich meterhoch über seinem Versteck auftürmt. Im Gegenteil, je mehr umso besser. Viel Schnee hält viel Kälte ab.

Der Bär friert aber auch so nicht und kann getrost schlafen, bis die warme Sonne die letzten weißen Häufchen aufgeleckt hat. Dann heißt es, schleunigst raus und fressen, fressen, fressen, damit aus dem klapperdürren Fellbündel rasch wieder ein stattlicher Kerl wird. Das Aufwachen hat die letzten Kraftreserven aufgebraucht. Ja, auch schlafen zehrt. Man muss nur lang genug liegen bleiben. Jedoch sollte man es auf keinen Fall übertreiben. So mancher Bär ist gar nicht wieder aufgewacht, wenn der Winter länger als sonst gedauert hat und der angefressene Vorrat mal geradeso für einen normalen Winterschlaf gereicht hätte.

Wölfe schließen sich zu großen Rudeln zusammen, zwanzig, dreißig Tiere sind oft keine Seltenheit, und folgen dem Wild. Auch sie haben Hunger. Auch sie wissen genau, dass die nächste Zeit sehr schwer werden wird.

Misserfolge bei der Jagd können sie sich nicht erlauben. Dann reicht die Energie nicht mehr für eine zweite Hatz.
So kommt ihnen eine verspätet zu Tal ziehende Schaf- oder Rinderherde gerade recht und scheint leichte Beute. Gute Gelegenheit, sich so richtig den Bauch vollzuschlagen, bevor der Tisch knapper gedeckt sein wird. Auch wenn Schafsfleisch nicht ihre Lieblingsspeise ist.
Die Wölfe wissen, dass die Herden gut bewacht sind. Riesige zottige Hunde beschützen Tiere und Hirten.
Das Wolfsrudel muss sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um an die begehrte Beute zu kommen.
Auf einen offenen Kampf mit den Hunden lassen sich die grauen Räuber nur in der ärgsten Not ein und auch nur dann, wenn sie in der dreifachen Überzahl sind.
Herdenschutzhunde sind nicht nur größer und stärker als Wölfe, sie sind auch mutiger.

Wenn die Herden schließlich in ihren Ställen sind, beginnen auch für die Hunde ruhige Tage. Jeder hat seinen Platz, der ihm allein gehört und wird dort in Ruhe gelassen.

Um das Futter muss man sich keine Sorgen machen, das gibt es jeden Tag umsonst, und so ist erst einmal Zeit, sich von dem arbeitsreichen Jahr auszuruhen und zu schlafen, zu schlafen, zu schlafen.

Bis es irgendwann wieder langweilig wird.
Dann bummelt der ausgeruhte Hund durch die Gegend und sucht jemanden, mit dem er einen Streit anfangen kann. Der ist auch schnell gefunden. Meist handelt es sich um genauso einen Raufbold, und im Handumdrehen ist die schönste Keilerei im Gange. Sofort hat sich die ganze Meute um die beiden Kämpfer versammelt, um sie lautstark anzufeuern.

Der Radau lockt natürlich die Menschen aus ihren Häusern. Sie sehen es gar nicht gern, wenn sich ihre Hunde gegenseitig zerfleischen. Mit viel Geschimpfe und großer Anstrengung gelingt es ihnen, die Streitenden zu trennen, für die es ein Riesenspaß war.
Somit herrscht wieder Ruhe.
Bis zum nächsten Mal.

Ja, so ein gelangweilter Hund hat nicht viele Möglichkeiten, sich im Winter die Zeit zu vertreiben. Wenn es gelingt, wird natürlich auch schon mal aus der Küche ein Leckerbissen gemopst. Dies klappt selten und erzeugt auch immer großen Ärger, weil man sich meist erwischen lässt.

So geht die Zeit dahin, bis die Nächte wieder kürzer werden.
Die Sonne steigt höher und höher.
Rinder und Schafe, selbst die Hirten werden unruhig.
Die Streifzüge der Hunde werden täglich länger. Keinen hält es mehr so richtig im Dorf. Wenn dann endlich das langersehnte Signal zum Aufbruch gegeben wird, zieht der Treck fröhlich in die Berge.

Raus aus der Enge.

Mit dem warmen Frühlingswind im Rücken kommt die Herde schnell voran. Die Tiere sind nach der langen Winterruhe froh, endlich wieder richtig laufen zu können.
Die Hunde ziehen weit voraus, vergessen jedoch im Überschwang des Frühlings ihre Aufgaben nicht. Alles wird kontrolliert, alles abgesucht, alles geprüft.
Die Rudel der Grauen haben sich wieder aufgelöst und sind für einige Monate keine Gefahr mehr.

Die Wölfe haben Nachwuchs. Ihr Bau ist im unwegsamen Gelände gut versteckt. Hier werden die Welpen großgezogen und unternehmen bald ihre ersten tapsigen Schritte. Freudig quiekend stürzen sie sich auf alles, was die Eltern ihnen mitbringen. Sie sind nie satt zu bekommen und wachsen schnell heran. Futter ist reichlich vorhanden.

Die Wölfe kreuzen jetzt nicht die Wege der Herden. Es gibt leichtere Beute am reichlich gedeckten Tisch der Natur.
Denn fast jeder im Wald hat Kinder zur Welt gebracht und so muss der eine sterben, damit der andere leben kann.

Höchstens Meister Petz könnte sich in seinem unersättlichen Frühlingshunger einbilden, eines der Tiere wäre für ihn reserviert. Nicht selten ist solcherart Irrtum einem Bären schlecht bekommen. Die Hunde lassen nicht mit sich spaßen und schon vier, fünf Owtscharki können dem zotteligen Gesellen sehr wohl in arge Bedrängnis bringen. Sie müssen sich nur vor seinen messerscharfen Krallen in acht nehmen, die der Bär sehr gut einzusetzen weiß.
Oft haben die Hunde aber auch gar keine Lust auf einen Kampf, der doch immerhin bei der kleinsten Unvorsichtigkeit den Tod bringen kann, sondern beschränken sich darauf, den Angreifer zu verjagen. Das machen sie dann allerdings so gründlich, dass dem die Lust aufs Wiederkommen ganz und gar vergeht.

Obwohl der Weg zur Sommerweide viele Tage lang ist, vergeht die Zeit schnell. Die täglichen Sicherungsaufgaben werden sehr ernst genommen. Darüber hinaus ist entlang des Weges alles frisch, alles neu. Auch wenn die gleiche Strecke im vorigen Jahr und im Jahr davor gezogen wurde, sie riecht immer wieder anders, ist immer aufs neue hochinteressant.

Viel schwere Arbeit ist nicht dabei.
Die Herde macht genug Lärm, um alles Wild zu vertreiben.
Auch jeder Räuber verzieht sich vor dem Stampfen der Hufe. Er kennt die Begleitung nur zu genau und legt keinen Wert auf nähere Bekanntschaft.

Die Weide selbst bringt Zeit zur Ruhe. Obwohl während des Sommers einige Male der Platz gewechselt wird, macht dies keine Hektik. Die einzelnen Wiesen sind nicht weit voneinander entfernt, einen Tag, höchstens zwei.
Das ganze Rudel wird zum Umzug nicht benötigt. Zwei, drei Wachposten genügen.

Der Rest streift weit umher, um mögliche Gefahr zu beseitigen, bevor sie der Herde gefährlich werden kann. Schafft es ein Hund nicht allein, wird Verstärkung geholt. Die ist schnell heran. Meist genügt es jedoch schon, wenn sich der Owtscharka breitbeinig aufbaut und die Zähne zeigt. Seinem Gegenüber, Mensch oder Tier, vergeht dabei rasch die Lust auf weitere Demonstration der Kampfbereitschaft. Wo ein Owtscharka ist, sind auch die anderen nicht weit, und die Begegnung mit einem Rudel Herdenschutzhunde geht für keinen Angreifer gut aus.

Der Sommer vergeht wie im Flug.
Manchmal versucht einer aus der Gemeinschaft die Rangordnung zu seinen Gunsten zu ändern. Meist ein junger Heißsporn, der noch gar nicht trocken hinter den gestutzten Ohren ist. Hin und wieder gibt es durchaus unter den Jugendlichen einen, der das Zeug zum Führer hat. Dies will er dann auch so schnell wie möglich unter Beweis stellen. Schafft er es, setzt sich diese Neuordnung natürlich durch alle Stufen der Rudelhierarchie fort und kann schon etliche Zeit in Anspruch nehmen, denn jeder möchte die Gunst der Stunde nutzen und auf der Rangordnungsleiter ein kleines Stück nach oben klettern. Zum Glück gibt es dabei keine blutigen Kämpfe. Ein Owtscharka weiß sehr wohl, dass er seine Gesundheit nicht unnötig aufs Spiel setzen darf, weil er für den Schutz der Herde gebraucht wird. Keiner ist überflüssig.

Gar nicht richtig wahrgenommen wird es, wenn das Fell wieder dicker zu werden beginnt. Irgendwann wacht man morgens auf und die Welt ist weiß. Wenn der Zauber auch von der Morgensonne rasch verschlungen wird, so ist dies das Signal:

Der Heimweg steht bevor.

*****


Wenn unsere Hündin vom Leben ihrer Ahnen und Urahnen träumt, zucken ihre Pfoten, als laufe sie mit dem Rudel durch die unendlichen Wälder des Kaukasus. Sie quietscht und wufft dabei, als kämpfe sie mit Wölfen und Bären, als läge sie am Feuer der Hirten, als erlebe sie alles selbst.
Ich setze mich dann neben sie und lege ihr leicht eine Hand auf den Bauch. Langsam wird sie ruhig. Die andere Hand lege ich ihr ganz sanft auf den Kopf. Sie entspannt sich nach wenigen Sekunden, ihr Atem geht gleichmäßig und mir ist, als strömen Bilder aus fernen Zeiten und fernen Ländern in mich.
Ich schließe meine Augen, und wir jagen Seite an Seite dahin, hetzen die Meute, begleiten die Herden, ruhen am Lager.

Wir sind zusammen, und wir sind glücklich.
 



 
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