Das Ende der Welt

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Damals war ich zwei oder drei Tage in Köln. Ich wohnte in einer Pension nicht weit vom Rhein. Einmal kam ich spät ins Bett und wachte zu früh auf. Es war zeitiger Vormittag, ich brauchte noch nicht aufzustehen. Vielleicht konnte ich noch einmal in den Halbschlaf zurückfinden.

Stattdessen fingen auf einmal draußen Sirenen an zu heulen. Es war ein Dauerton. Er drang umso mehr durch, als das Zimmer zu einem ruhigen Hof lag. In der Pension war und blieb es weiterhin still. Das Zimmer lag im obersten Stockwerk, Empfang und Frühstücksraum befanden sich weiter unten.

Ich wollte noch immer nicht aufstehen, jetzt noch weniger als vorher. Nur war da die Frage: Was hat es zu bedeuten? Es war nicht die für einen Probealarm übliche Zeit. Ein Wunsch gewann die Oberhand: Es soll aufhören, sofort. Dann könnte ich den Kopf unter die Decke stecken und das Geräusch schnell vergessen.

Der gellende Dauerton hielt bereits eine Minute an, vielleicht schon zwei Minuten. Er blieb auf immer gleicher Tonhöhe, schrill und kraftvoll. Am grauen Himmel zeigte sich nichts.

Nach einer Reihe von Minuten verstummten plötzlich alle Sirenen. Ich steckte den Kopf dann doch nicht unter die Bettdecke. Dafür hatte es zu lange gedauert. Ich sah vom Bett zum Fenster und durch das Fenster in den Himmel. Würde sich bald etwas zeigen? Waren Raketen im Anflug? Ich überlegte, von wem ich mich in diesem Fall gern noch verabschiedet hätte. Der Kreis war sehr klein.

Es geschah nichts, natürlich nicht. Die Stille verlor mit jeder halben Minute etwas mehr von ihrer Bedrohlichkeit, wurde am Ende zu einer fast ungetrübten harmlosen Vormittagsruhe. Ich stand auf und ging frühstücken. Der Wirt bediente selbst die wenigen Gäste. Keiner erwähnte den Alarm, auch ich nicht. Unsere Ruhe hatte etwas Gekünsteltes. Mir schien, wir alle fürchteten, an etwas zu rühren.

Später erfuhr ich, es war ein flächendeckender Fehlalarm gewesen. Millionen waren in der gleichen Lage wie ich gewesen: unwissend, geängstigt, ratlos. Und einige hatten sofort begonnen, ihre Badewannen volllaufen zu lassen, aus Furcht, es könnte wieder Gift im Rhein sein. Glücklich, wer seine Angst an etwas Konkretem festmachen kann.
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Arno,

wie immer sehr gut geschrieben.
Allerdings leuchtet mir nicht ein, wie aus der permanenten Lärmbelästigung durch die Sirenen - und die nachvollziehbaren Ängste/Gedanken - eine bedrohliche Stille entstehen kann.
Einleuchtender wäre doch, wenn die nachfolgende Stille 'heilsam' oder ähnlich würde.
Die 'Beaobachtung', dass niemand über das Ereignis spricht, finde ich dann wieder 'folgerichtig' passend und stimmungsmäßig großartig.
Aber die Pointe,
Glücklich, wer seine Angst an etwas Konkretem festmachen kann
ist mir dann doch etwas zu wuchtig für die 'kleine Angst'.

Liebe Grüße
Petra
 
Danke, Petra, für den Einwurf (oder deren zwei). Ich darf mal Wikipedia zum Stichwort Angst zitieren: "Begrifflich wird dabei die objektunbestimmte Angst (lat. angor) von der objektbezogenen Furcht (lat. timor) unterschieden." Die Angst resultiert also aus dem Unerklärlichen des Alarms und sie verschwindet rasch, indem nichts passiert, d.h. die Wahrscheinlichkeit drohenden Unheils abnimmt. Wer die Badewanne volllaufen lässt, wandelt die schwer zu handhabende Angst in eine leichter in den Griff zu kriegende Furcht um. So ist der Schluss zu verstehen.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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