Das Geheimnis des Toten

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sb

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Kalt war es an diesem Abend im März; unter null Grad, schätzte Joey. Die scharfen Böen, die aus Norden kamen, machten den Tag noch unerfreulicher. Vor ihm wurden Nuancen des Waldes sichtbar, dessen Schweigsamkeit bei angenehmeren Temperaturen Anziehungspunkt für Jogger und Liebespaare war. Joey verließ den kieselübersäten Pfad und stapfte über eine Wiese direkt in den Wald, der ihn für eine weitere Nacht und einen weiteren Morgen der Stadt ausliefern würde. Main Church war kein Ort, der einem Aussicht auf Zerstreuung bot, und er hasste es, dort zu sein. Die Leute lebten, aßen und starben in dem Kaff, das von Wäldern und kalten Seen umgeben war, und offensichtlich waren sie zufrieden mit diesem Schicksal.

Er dachte an Ken, seinen einzigen Freund, und an ihre langen Gespräche, die sie gelegentlich führten. Oft waren sie einander gleich in ihren Köpfen, wenn es darum ging, dieses Prinzip purer Mittelmäßigkeit zu unterwandern. Im Winter, wenn das Kaff seine ganze Hässlichkeit zur Schau stellte, war es ein unfairer Kampf; ihre Träume von Cadillacs und New York wurden unter einem eisigen Leichentuch aus schlechter Laune begraben, das sie mit Alkohol und Ausschweifung wegzuschmelzen versuchten.

Unversehens lachte er auf, als wollte er den Abend am Ende eines unergiebigen Winters verhöhnen, während der Wald ihn vollends schluckte. Wenn ihm wirklich etwas an diesem Wald gefiel, dann waren es die nächtlichen Geräusche. Es war nie wirklich still hier. Für einen guten Lauscher gab es Dutzende von Geräuschen zu unterscheiden und Joey kannte sie alle. Die Flucht der durch seine Schritte aufgeschreckten Tiere, das Aneinanderreiben der Zweige im Wind, fallendes Laub. Schon als Kind war er ein talentierter Zuhörer gewesen; andere in seinem Alter hatten gezetert und gebrüllt; er hatte ihnen zugehört.

Es war die einzige Waffe, die er besaß, und er brauchte sie, um die Schlachtfelder zu überleben. Seine Augen waren zu sanft, um Kontrahenten zu verschrecken, seine Hände zu schmal, um sich ihrer zu bedienen, sein Körper war zu wenig narbenübersät, um Geschichten zu erzählen. Es ergab wenig Sinn, über die Rolle des Zuhörers hinauswachsen zu wollen.

Und genau dies führte ihn in dieser Nacht auf eine neue Fährte. Das Geräusch, das sich geheimnisvoll in seine Gedanken schlang, war ihm unbekannt: ein Reiben, ein Knirschen. Joey blieb stehen und versuchte, das funkelnde Mondlicht zu seinem Vorteil zu nutzen. Und tatsächlich: Dort vorn, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt und geschützt von Dickicht und Dunkelheit, sah er etwas; eine Regung vielleicht, vielleicht eine Farbe.

Er bewegte sich darauf zu und duckte und reckte sich dabei und schließlich fiel sein Blick auf den Mann, der dort stand. Oder nein, korrigierte er sich sogleich und ein Schauer glitt über seinen Rücken, der Mann hing. Joey streifte das Geäst beiseite, das vor seinem Gesicht war, und ging näher hin. Im Licht des Mondes, das schwach durch die nackten Kronen der Bäume fiel, konnte er den Mann nun besser sehen. Er baumelte sacht im Wind, der den unsteten Rhythmus in Gang hielt.

Joey fingerte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und führte die Flamme nah an den Selbstmörder heran. Das Seil um seinen Hals sah neu und ungebraucht aus, als wäre es eigens für den Zweck, ein Leben zu beenden, gekauft worden. Es hatte dem weichen Fleisch am Hals schlimme Verletzungen zugefügt; die Wunde schimmerte in sanften, warmen Farbtönen.

Das zuckende Licht, das im Wind zu verlöschen drohte, entlockte dem Fund schreckliche Details. Am Ende seines Lebens war der Mann ein menschliches Wrack gewesen. Das wurde an der alten, ausgebeulten Kleidung sichtbar, die ganz das Flickwerk eines Clowns zu sein schien und den Toten jeglicher Würde beraubte, und am unrasierten, dreckverschmierten Gesicht. Schlimmer als diese Nebensächlichkeiten war der Ausdruck der Totenaugen, welche auf Joey niederstarrten. Die Flamme hauchte ihnen neues unheimliches Leben ein. In ihnen war pure Verzweiflung unverkennbar und nicht der Tod hatte sie in seinen Blick hineingezaubert, da war Joey sicher. Was hatte der Tote gesehen, dass er so schauen musste? Ganz gleich, was es gewesen war: dass er danach seinem eigenen Fleisch Gewalt zufügen musste, wurde dadurch verzeihlich. Joey spürte ein Brennen in seinen Augen, hinter seinen Augen, als ihm klar wurde, dass er diesen Blick kannte, wenn auch in abgeschwächter Form. Er kannte ihn von sich selbst, von seinem Spiegelbild, in das er morgens starrte: ganz so, als wäre dies ein letztes verschrecktes Indiz Minuten vorher durchlebter Alpträume.

Das Wrack hatte den Mund geöffnet; manchmal fingen sich Böen des Windes in ihm und zeugten eine traurige Melodie. Das flackernde Feuerzeuglicht präsentierte dem Betrachter eine blauschwarz gefärbte Zunge, die sich aus dem Mund herausgewunden hatte. Der Kontrast zum blutleeren Gesicht hätte nicht grässlicher sein können.

Es fiel ihm nicht leicht, der Faszination zu widerstehen, die in der Luft lag. Er blieb so lange beim Leichnam, bis die Kälte seine Glieder fühllos machte und seine Augen träge vor Müdigkeit wurden.

Schließlich ging er heim, während seine Gedanken um Tod und Verzweiflung schwirrten.


Es war ein aussichtsloser Kampf, den der Selbstmörder führte. Er diente den Tieren als Futtertrog. Sie kamen und nahmen, was sie brauchten. Die ersten warmen Frühlingstage taten ihr übriges. Der einzige menschliche Besucher war Joey. Oft kam er, wenn die Sonne aufging, und er verabschiedete sich erst bei Anbruch der Dämmerung und wurde in dieser Zeit Zeuge menschlicher Vergänglichkeit. Es dauerte eine Woche, bis er den Wunsch verspürte, mehr über den Mann zu erfahren. Joey war sicher, dass sein Vermächtnis Hinweise barg, die seinen rätselhaften Tod entschlüsseln konnten.

Joey verließ seinen weichen Beobachtungsposten aus Gras und Moos und näherte sich dem baumelnden Mann, dessen ungeschütztes Gesicht neue Verwüstungsspuren aufwies. Das linke Auge war von Vögeln herausgehackt worden, das Fleisch an Wange und am Kinn war stellenweise herausgerissen worden. Der Verlust jeglicher Stärke, welche den Mann früher womöglich ausgezeichnet hatte, wurde deutlich, als durch Joeys Annäherung eine Spinne die weiche, vor den kalten Abenden schützende Mundhöhle verließ.

Joey verzog das Gesicht und für einen Moment empfand er panische Angst vor seinem eigenen Tod. Die Gewissheit von menschlicher Großartigkeit ging hier und jetzt zum Teufel. Ein übler Geruch ging von dem Mann aus, bemerkte er, als er noch näher herantrat. Er war streng und bitter und Joey musste eine Weile den Atem anhalten, um sich daran zu gewöhnen. Eine Entschuldigung floss ihm unhörbar über die Lippen, als er am Reißverschluss zog und die zerschlissene Jacke öffnete. Darunter sah er kein weiteres Kleidungsstück. Das musste ein weiterer Hinweis auf den Schock sein, überlegte er, der den Mann trotz der damals vorherrschenden Kälte zum Ort seines Todes geführt hatte. Die Brust war schmal und knöchern, von Oasen farbloser Haarbüschel umgeben, das Fleisch so bleich wie der Bauch eines Fisches; und genauso kalt. Joey entfuhr ein leiser Entsetzensseufzer, als sein Handrücken mit dem Toten in Berührung kam.

Es dauerte eine Weile, bis er seine Hände erneut ausstreckte und in den Taschen der Jacke wühlte. Er hatte die Augen geschlossen, während er das tat, und er dachte dabei an Dinge, die schöner waren als Leichenschändung. Er stellte fest, dass es leichter als vermutet war, den menschlichen Geist in die Irre zu führen. Sobald sein Verstand erneut der Spur des Grauens hinterherschnüffelte, lockte ein unbekannter Instinkt ihn wieder davon fort. Vielleicht war es die Logik eines Schwachsinnigen, die er da anwandte, oder die eines Mannes im Schlachthaus oder eines Psychiaters: Er wusste es nicht, aber es erfreute ihn, wie spielerisch einfach das Prinzip der Abstumpfung umzusetzen war.

In der Jacke fand er nichts. Beinah bereitwillig tastete sich eine Hand in eine der vorderen Hosentaschen voran. Ihre Fingerspitzen waren empfindsam genug, das Oberschenkelfleisch zu ertasten, welches kalt und schlaff war. Dem Toten widerstrebten die Berührungen. Er zuckte am Seil hin und her und seine Hände und Füße berührten wiederum Joey.

Der Mann besaß eine Brieftasche und einen Schlüsselbund. Die Schlüssel steckte Joey ein, ohne einen Blick auf sie zu werfen, dann trat er einige Schritte zurück, bis das Licht günstiger, der Gestank erträglicher wurde. Die Brieftasche bestand aus altem, abgegriffenem Leder, das an den Nähten stellenweise aufgeplatzt war. Ihr Inhalt war spärlich. Joey fand eine Kreditkarte, etwas Geld, das er achselzuckend einsteckte, Quittungen für Lebensmittel und, worauf er gehofft hatte, den Ausweis des Mannes.

Stanton, las er, Robert Stanton war der Name des Toten. Das Foto mochte vielleicht drei Jahre alt sein. Ein Bild aus zweifellos glücklicheren Tagen; Stanton lächelte und strahlte Zufriedenheit aus. Er hatte in Hemingford gewohnt, kein Ort, der einen Besuch lohnte, wie Joey wusste, aber es war dort besser als in Main Church.

Vielleicht, dachte er, gab es Möglichkeiten, sich in Stantons Wohnung umzuschauen. Das Geheimnis des Mannes zu lüften, die wahren Gründe seines einsamen Todes zu erkunden.


Die Line Street mochte früher einmal Anziehungspunkt für die Menschen der Stadt gewesen, eine Straße mit Geschäften und Cafés. Die heutigen Besucher hießen Dreck und Dunkelheit. Joey kannte die Gründe für den plötzlichen Exodus nicht, er sah nur, dass die meisten Häuser leer standen. Wer hier noch wohnte, dem fehlte vielleicht das Geld für ein schöneres Zuhause, oder er war ein Träumer, der sich an die Vergangenheit klammerte.

Die Nr. 11 war ein altes Haus, das Spuren von Verwahrlosung aufwies, aber nicht so sehr, um unbewohnbar zu sein. Hinter einigen der vor Schmutz starrenden Fenster sah er Gardinen, hinter einem im Erdgeschoss stand ein Topf mit einer verdorrten Pflanze.

Neben der Eingangstür, die so brüchig aussah, als könne man sie mühelos aufdrücken, waren Klingelknöpfe angebracht, aber die Namen der Bewohner entdeckte Joey nicht.

Mit dem ersten Schlüssel, den er ins Schloss steckte, konnte er die Tür öffnen. Dahinter wurde es dunkel. Das Licht, das durch die Fenster fiel, verbarg mehr als es enthüllte. Joey war sicher, dass Menschen hier lebten, er konnte ihre Anwesenheit riechen. Vermutlich besaß jedes Haus auf der Welt seinen eigenen Geruch, dachte er, während er langsam auf die Treppe zuging, die in engen Windungen nach oben führte. Hinter manchen der verschlossenen Türen vernahm er Geräusche – eine leise Frauenstimme einmal, dann ein Räuspern -; zwei oder drei Etagen über ihm wurde eine Tür geöffnet und sogleich wieder geschlossen und Joey blieb stehen, damit sein Einbruch nicht offenkundig wurde, bevor er vollendet war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf bleichgrüne Wand ihm gegenüber, auf der Bewohner Parolen und Figuren gemalt hatten. Eine Frau war darunter, die nichts ausstrahlte, das den Betrachter hätte beruhigen können. Ihr Körper war eine ungenaue Skizze, aber ihr Geschlecht beruhte auf monströser Übertreibung. Es versprach eher Angst als Lust, mehr Verstörung als Befriedigung; es war nicht dazu da, Kindern Leben zu schenken, es verschlang sie.

Fröstelnd setzte Joey seinen Weg fort und stieß dank eines Zufalls bald auf die Wohnung, die er suchte. Jemand hatte in der Tür grob den Umriss eines Grabsteins geschnitzt und darin Stanton geschrieben. Der Verdacht, dass jemand etwas von Stantons Tod wissen konnte, verflüchtigte sich, als Joey die Zeichnung näher untersuchte und feststellte, dass sie bereits lange dort war, womöglich bereits seit Jahren. Die Wunden im Holz waren verwittert wie das Holz selbst.

Er kramte erneut den Schlüsselbund hervor und öffnete, nachdem er den passenden Schlüssel gefunden hatte, die Tür, die mit ihrer Unterkante vernehmlich über den Boden schleifte und in den Angeln quietschte. Niemand kam, um die Ursache des Lärms zu erforschen, dennoch befürchtete Joey, dass man ihn gehört hatte. Er zuckte bei dem Gedanken zusammen, dass jemand – der Portraitmaler vielleicht – nach dem Rechten sehen würde, während er in Stantons Eigentum schnüffelte.

Die Wohnung war dunkel und die Luft in ihr beinah so tot wie ihr Bewohner; dennoch machte Joey kein Licht und öffnete kein Fenster. Links an der Wand hing ein Spiegel. Joey konnte nicht anders, als sich einer Betrachtung zu unterziehen. Verdutzt seufzte er auf, als er sich großäugig und schmallippig im Spiegel sah. Hätte er sich ein Kompliment gemacht, es wäre eine Lüge gewesen.

Er wandte sich wieder dem Raum zu, in dem er stand. Alles was sein Auge erfasste, wirkte verbraucht und billig. Was er sah, deprimierte ihn, und er fragte sich, wie ein Mann hier leben und wirken konnte, ohne Selbstverachtung sich selbst gegenüber zu empfinden. Joey bohrte einen Finger in das durchgesessene, grobe Polster einer Couch, an deren Ende zwei nachlässig zusammengefaltete Wolldecken lagen. Ein vorsintflutlicher Fernseher stand neben ihr auf einem kleinen Holztisch.

Er suchte die Küche auf, die das Ausmaß einer winzigen Kammer hatte und kein Fenster besaß. Die Dunkelheit war hier noch undurchdringlicher – es war beinah Nacht hier -, genau wie der Gestank. Joey kniff die Augen zusammen und sah in der Spüle die Umrisse Schimmel übersäten Geschirrs. Als er zur Seite trat, damit aus dem anliegenden Raum wenigstens ein dürres Lichtgerinnsel hereinlugen konnte, fühlte er unter seinem Fuß eine schlaffe Masse. Joey schaute zu Boden und erkannte ein Bündel, das er für ein Laken hielt, bis er in die Hocke ging und Konturen sich vor seinem Auge entblätterten. Entsetzt hielt er die Luft an. Dort lag ein Tier, ein Hund, ein toter Hund, der ein Opfer von Fliegen und Luft gefunden war.

Mehr Ekel als Mitleid war in ihm, als er sich hastig wieder aufrichtete und die Küche und den vor Hunger und Durst gestorbenen Hund verließ. Er betrat ein anderes Zimmer, das vom Raum mit dem Fernseher abzweigte. Es war heller hier und allein dieses Geschenk, das seinen Augen bereitet wurde, lockte Joey über die Schwelle, fort aus der Finsternis und vom Kadaver weg. Auch war hier die Luft besser. Joey bemerkte das offenstehende Fenster, das den Vorhang durcheinander wirbelte, und sog einen frischen Schwall Sauerstoff ein, sodass ihm schwindlig wurde von der Überdosis. Offensichtlich ein Arbeitszimmer, auch wenn die Vorstellung, Stanton wäre einer ernsthaften Beschäftigung nachgekommen, beinah rührend war. Aber er sah Regalstreben mit vollgestopften Ordnern und am Fenster einen Schreibtisch, auf dem Papiere und ein Stapel Bücher lagen. Joey trat näher zu dem Tisch hin und entdeckte sogleich ein Blatt Papier, auf dem ein klobiger Brieföffner lag. Dort stand etwas in großen, ungelenken Buchstaben, die bewiesen, dass Stanton selten handschriftliche Notizen gemacht hatte. Joey zog das Papier unter dem Brieföffner hervor und las den kurzen Hinweis: Ich wollte es nicht tun. Gott ist mein Zeuge!

Darunter stand in kleinerer Schrift eine Adresse: Industry Street neun.

Langsam und mit einem in die Ferne gerichteten Blick ließ Joey das Papier sinken. Diese verzweifelten Worte, dachte er, und dann der Selbstmord. Welches Unheil hatte der Mann angerichtet?


Die Industry Street befand sich in einem alten, zum Teil aufgegebenen Gewerbegebiet außerhalb von Hemingford, wie Joey nach einem Blick in den Stadtplan feststellte. Dunkel entsann er sich, dass er vor langer Zeit manchmal dort gewesen war, zuerst mit seinem Vater, der ihm die Gebäude erklärt hatte, später mit seinen Freunden, mit denen er manchmal, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, die vor Schmutz starrenden Fenster der Fabrikhallen eingeworfen hatte. In seinem kindlichen Eifer hatte er mit großem Interesse den Weg der Lastwagen und anrollenden Güterzüge verfolgt. Er konnte sich ohne große Mühe an den betäubenden Geruch von aufwirbelndem Staub und Diesel erinnern, der sich in seinen Kleidungsstücken einnistete, und an die kräftigen Männer, die so finster dreinschauten, als empfänden sie ihre Arbeit als Strafe, aber zu den Kindern meist nachsichtig waren.

Vor mehr als zehn Jahren waren die ersten Unternehmen fortgezogen oder aufgegeben worden und damit wurde das Ende der Blütezeit dieser Gegend eingeläutet. Die Zulieferer der großen Werke kehrten der Industry Street ebenfalls den Rücken, wodurch der Prozess des Zerfalls drastisch beschleunigt wurde. Heute war jeder Ansatz des früheren Glanzes völlig verschwunden. Nur wenige Firmen hatten noch ihren Sitz hier, in der Hauptsache kleine Unternehmen, welche die Räumlichkeiten der alten Fabriken nutzten, die sie zu einem Spottpreis gekauft oder angemietet hatten.

Die Industry Street war die Hauptstraße des großen, unübersichtlichen Areals, sie wurde in regelmäßigen Abständen von kleineren Straßen und verrosteten und mit Pflanzen bewucherten Eisenbahnschienen durchkreuzt, sodass es aus der Vogelperspektive wie ein Geflecht wirken musste. Die nicht mehr befahrenen Flächen und die Parkplätze vor den Hallen waren längst wieder von der Natur zurückerobert worden. Der Anblick der Vergänglichkeit erinnerte Joey an Stanton, dessen Fleisch schneller und radikaler dahinschwand als der Asphalt. Für eine Weile kreisten seine Gedanken um den Toten, aber sie fanden keinen neuen Anhaltspunkt.

Er wünschte sich, er hätte den Mann gekannt, als noch Luft und Träume in ihm gewesen waren. Wie war er gewesen? Etwa ein labiler Mensch, den schon ein kleines Missgeschick an den primitiven Galgen befördert hatte? Die scheinbare Zurückgezogenheit, in der er gelebt hatte, deutete darauf hin. Vielleicht weniger labil als verdorben, dachte Joey, der das Bild des verhungerten Hundes vor Augen hatte

Plötzlich blieb er stehen und schreckte aus seinen Gedanken auf, der Hauch eines unhörbaren Fluches quetschte sich über seine zusammengepressten Lippen, während er auf den zerlumpten Mann blickte, der rücklings auf einem schmalen wuchernden Grünstreifen zwischen Straße und Eisenbahnschienen lag und die Sonnenstrahlen genoss. Er hielt die Augen geschlossen, soweit Joey das erkennen konnte, aber er schlief nicht. Die Finger seiner linken Hand klopften eine unruhige Melodie auf dem weichen Boden.

Joey überlegte, welche Möglichkeiten er hatte, ungesehen am Mann vorbei zu kommen, da öffnete der Müßiggänger schon seine Augen, als hätte er die Anwesenheit des zaudernden Joeys gespürt, und starrte zu ihm herüber. Eilig stand er auf und wischte sich Gras von den schmutzigen Kleidern. Er trug einen braunen Pullover, der ihm mindestens zwei Nummern zu klein war, und alte Hosen in einer ganzen ähnlichen Farbe und Beschaffenheit. Am Boden und jetzt erst für Joey zu sehen stand eine zu einem Drittel geleerte Flasche; billiger Schnaps, wie Joey vermutete. Durch all diese Eindrücke wurde der Mann in eine Ecke gedrängt, die es Joey ermöglichte, Dominanz dort zu präsentieren, wo sonst nur Mittelmäßigkeit und Verdruss war.

"Was tun Sie hier?", fragte er. Er hörte seine eigene Stimme laut in seinem Kopf dröhnen. Durch die Lautstärke schien sie gleichzeitig tiefer und brummiger geworden zu sein. Sie erzeugte eine angenehme Vibration in seinem Kehlkopf. Warum redete er nicht immer so? Wie um seiner Stimme nochmals die Möglichkeit zu geben, ihre Stärke zu zeigen, fügte er hinzu: "Dies ist Privatgelände!"

"Entschuldigung", nuschelte es aus dem Mund seines Gegenübers zurück. "Das wusst´ ich nicht."

"Das Management sieht es nicht gerne, wenn Eindringlinge hier herumstreunen", sagte Joey herrisch, ohne weiter darauf einzugehen, wer sich hinter dem Management verbergen mochte.

"Ich streune ja hier nicht herum. Ich..." Der Mann glotzte Joey an, dann blickte er plötzlich zu Boden, als würde ihn mit Furcht erfüllen, was er dort sah. "Ich wollte nur eine Pause machen."

Nachdrücklich schüttelte Joey mit dem Kopf. Ein wenig machte es ihm Spaß, den Kerl derart bloßzustellen. "Überall", sagte er, "aber nicht hier. Die Welt ist groß genug. Suchen Sie sich einen Platz, an dem Sie ungestört Ihrer Beschäftigung nachgehen können." Dann hob er die Arme in einer entschuldigenden Geste leicht an. "Das Management hat mich befugt, sämtliche Maßnahmen zu ergreifen, die nötig sind, für Ruhe zu sorgen. Tut mir wirklich leid."

Der Mann legte sein schmutziges Gesicht in betrübte Falten und nickte. "Ich verstehe."

"Nichts für ungut."

Der Mann erwiderte nichts darauf, sondern ergab sich in sein Schicksal, klaubte seine Flasche auf und ging mit schlurfenden Schritten davon.

Joey atmete hörbar auf. Es dämmerte ihm, dass seine Leistung die eines guten Schauspielers würdig gewesen war. "Nichts für ungut", murmelte er mit seiner neu entdeckten Intonierkunst und kicherte, während er dem Mann hinterher schaute, der sich, um den Weg abzukürzen, durchs Buschwerk kämpfte und bald darauf aus Joeys Blickfeld verschwunden war.


Das Gebäude mit der Nummer neun wirkte zwischen seinen wuchtigeren Nachbarn unscheinbar und armselig. Da es, wie Joey aus Stantons kurzer Beichte wusste, ein Geheimnis wahrte, wirkte es auf ihn gleichzeitig auch wie eine unausgesprochene Drohung.

Scheiß drauf!, dachte er mit einer Verbissenheit, die seine Zähne zum Knirschen brachte, und machte einen großen Schritt auf das verwilderte Grundstück zu. Es handelte sich um ein zweistöckiges, recht schmales, aber langgezogenes Gebäude mit einer schmutziggrauen Fassade und einem flachen Dach. Joey schaute auf zwei mit Rollläden geschützte Fenster – wie zwei geschlossene Augen, dachte er – links und rechts der rostigen Eisentür, über welcher in beinah völlig verblassten Lettern der Name der Firma geschrieben stand, die früher einmal hier ihren Sitz gehabt hatte. Joey überlegte, ob Stanton auch einmal einer ihrer Mitarbeiter gewesen war.

Von weit entfernt hörte er ein klirrendes Geräusch, als fiele ein Metallstück zu Boden. Er wusste, dass in einigen Fabriken immer noch gearbeitet wurde. Da er nicht gesehen werden wollte, beendete er seine nachlässige Inspizierung des Gebäudes und trat auf die Tür zu. Er murmelte ein Wort der Überraschung, als er feststellte, dass sie nicht verschlossen war, wie es die ganze Zeit seine Befürchtung gewesen war. Diese Nachlässigkeit musste er dem Toten zu verdanken haben.

Hinter der Öffnung führte ein langer und dunkler Gang tiefer in den kalten Schlund des Hauses hinein. Joey stand auf der Schwelle, säuberlich aufgeteilt von Licht und Schatten, die um ihn rangelten, und lauschte in die Dämmerung hinein, aber er vernahm keinen Laut. Totenstill, dachte er und er spürte, wie Kälte über seinen Rücken wanderte.

Langsam und ständig bestrebt, jedes Detail, das er sah, hörte oder roch, in sich aufzunehmen, betrat er das alte Gebäude. Er entdeckte einen altmodischen schwarzen Lichtschalter und betätigte ihn. Joey verzog das Gesicht, als er die dicke ölige Staubschicht bemerkte, die das Plastik bedeckte. Schon jetzt, kaum dass er einen Fuß hinter die Schwelle gesetzt hatte, wünschte er sich wieder fort; der Dreck und die Dunkelheit und Stantons Geheimnis, das hier herumlungerte, waren womöglich nichts für seine schreckhaften Sinne. Doch dann dachte er an sein tristes Zimmer in Main Church, in dem die Luft schwer war von vernachlässigten Träumen und er schüttelte trotzig den Kopf.

Klackend und summend flackerten die Neonröhren an der Decke auf, aber sie konnten den Gang kaum erhellen. Die Röhren, sah er, waren ebenfalls mit Staub und einer unkenntlich miteinander verwobenen Schar aus toten Insekten bedeckt. Vereinzelt sah er zuckende Beine oder Flügel, aber das lag vermutlich eher an dem Luftzug, der durch die offene Tür wehte.

Nach wenigen Schritten bemerkte er an der Wand auf seiner rechten Seite eine verschlossene Tür, neben der ein Fenster eingelassen war. Das Glas war derart verschmutzt, dass Joey einige Male mit dem Ärmel seiner Jacke den ärgsten Dreck fortwischen musste. Er schaute durch den schmalen Streifen, den er geschaffen hatte, aber dennoch konnte er nicht viel erkennen; schemenhafte Umrisse eines altmodischen Schreibtisches aus hellem Holz, verschiedene Gegenstände wie Telefon und eine Lampe darauf, einige Stühle und in der Ecke einen offenen Aktenschrank.

Die Reizlosigkeit, die dieser Blick in die verschwommene Düsternis offenbarte, war verstörend. Joey stierte darauf und versuchte, diesem abscheulichen Bild einen Namen zu geben, einen Begriff, der sich wie ein Krebsgeschwür in sein Gedächtnis einnisten und ihn auffressen konnte. Aber dieser Versuch lebte nur wenige Augenblicke, dann verlor er seinen Reiz und Joey wandte sich ab von diesem Stilleben. Erstaunt stellte er fest, dass Schweiß auf seiner Stirn stand und sein Atem so schnell ging, als sei er gerannt.

Wovor hab´ ich Angst?, fragte er sich, aber er bekam keine Antwort.

Er ging weiter den Gang entlang, seine Schuhe, obgleich sie kaum mit dem rauen Betonboden in Berührung kamen, erzeugten die einzigen Geräusche, ansonsten war das Gebäude in völliger Ruhe erstarrt. Der schwache Schein der Neonröhren hatte von irgendwoher Insekten herangelockt, welche unentwegt das Licht und ihre toten Artgenossen umschwirrten. Joey wischte sie mit einem Anflug von Panik fort, wenn sie ihm zu nahe kamen. Er mochte keine Insekten, besonders solche, die mit schnellen und unkontrollierten Bewegungen durch die Luft flogen, waren ihm verhasst.

Es gab weitere Türen, die er passierte, und sie alle waren verschlossen, aber nach der Hälfte der Strecke konnte Joey bereits erkennen, dass im Schloss der letzten Tür ein Schlüssel steckte und er war sicher, dass er dort auf Stantons Geheimnis traf.

Bevor er die Tür öffnete, legte er ein Ohr an die kalte Oberfläche und lauschte mit geschlossenen Augen, aber er vernahm nichts, das auf eine Gefahr hindeutete. Leise, als würde zuviel Lärm einen möglichen Bewohner wecken und reizen, zog er die Tür auf. Dunkelheit und eine aufgestaute Wand aus höllischem Gestank kippten ihm entgegen und Joey taumelte zwei, drei Schritte zurück, sein Gesicht war verzerrt im Bemühen, den Inhalt seines aufgepeitschten Magens zurückzudrängen. Gebeugt blieb er stehen, Tränen und Speichel rannen aus Augen und Mund. Nur langsam ließ der Würgereiz nach. Mit einer unsicheren Hand wischte er sich den Tränenschleier fort und blinzelte zur Tür hinüber. Kleine schwarze Punkte taumelten bis zur Schwelle oder knapp darüber hinaus und verschwanden dann wieder im Dunkel: Fliegen! Joey verzog den Mund. Es kostete ihn nun sehr viel Überwindung, wieder Kurs auf die jetzt wie eine Drohung wirkende Schwelle zu nehmen. Etwas Schreckliches lauerte hinter ihr, das war Joey nun klar. Wenngleich der Reiz des Geheimnisses nun nicht mehr sein kindlich-unschuldiges Gewand trug, sondern von etwas Grässlich-Blutigem umhüllt war, konnte Joey ihm immer noch nicht widerstehen.

Er durchbrach das surrende Gewusel der fetten, wohlgenährten Fliegen, welche ihm, feigen Wächtern gleich, bedrohlich nah kamen, ihn jedoch nicht aufhielten.


Sein erster Blick, als er die Schwelle zum unheilvollen Raum überschritt, galt der gegenüberliegenden Wand, die in Wallung geraten war. Einzelne schwarze Farbkleckse schienen aus dem starren Gefüge heraus zu tropfen, andere nach oben hin weg zu platzen. Joey starrte stirnrunzelnd auf dieses Rätsel, bis er es endlich lösen konnte. Er begriff, dass es Insekten waren, welche wild umherwuselten, als sie Luft und Fleisch bemerkten, die zur Tür hereingekommen waren; unzählige, sich gegenseitig fressende, begattende, ertastende Insekten. Ihre kleinen Stimmen wisperten und brummten aus dem Dunkel zu ihm herüber, dass es ihm kalt den Rücken runterlief. Jetzt, da er sie erspäht hatte, konnte er auch ihre Leiber hören, wie sie über Gestein und abgesondertem Schleim krochen und liefen. Beobachteten sie ihn? Beinah konnte er den tausendfachen Blick aus ihren Stecknadelaugen spüren.

Einige flogen nah an ihn heran, an seinem Gesicht vorbei oder über seinen Kopf. Er unterließ es diesmal, sie mit hektischen Bewegungen davon zu jagen. Er wollte sie und die noch wartende Armee im Hintergrund nicht reizen.

Die grauenhafte Konfrontation raubte ihm beinah jeglichen Elan, dem Geheimnis auf der Spur zu bleiben, und so war mehr ein Reflex als Absicht, dass er nach einem Lichtschalter tastete, ihn fand und betätigte. Das Licht war kaum durchschlagkräftiger als jenes im Gang, aber es genügte, ihn das Wesentliche erkennen zu lassen. Zögernd schälten sich die grauenhaften Details aus der Dämmerung und brannten sich wie ein Blitz in Joeys vor Furcht geweitete Augen.

Der Raum hatte tatsächlich einen Bewohner und der Gestank, den Joey nun benennen konnte, strömte und sickerte aus seinen Poren. Es war beinah wie im Wald, dachte Joey. Es war Stantons Duft, den Joeys Nase aufsog, nur war er hier ungleich intensiver, da es hier in der Zelle keine Brisen gab, die ihn verdünnen konnten. Hier war Verwesung am Werk, unverfälscht und bitter; feuchtes Fleisch und erstarrtes Blut.

Joey blickte auf eine schmale Pritsche links an der Wand, auf der ein bis zum Hals von Laken umhüllter Körper lag.

"Mein Gott!", stieß er hervor, dann folgten weitere Worte, die er als unsinnigen Kauderwelsch vernahm und vergaß. Innerlich war er für einen Moment wie erstarrt, sein Herz schien in einem alten Gemäuer zu schlagen und das Blut durch finstere Kanäle zu strudeln. Seine Augen verströmten mit einem heißen Glanz die Panik, die er verspürte. Fette Fliegen torkelten gegen sein Gesicht, eine versuchte brummend, sein rechtes Ohr zu entern, aber er schüttelte sie davon.

Die Leiche hatte blondes Haar und ein eingefallenes, zur geschlechtslosen Skizze zerfressenes Gesicht. Auf dem Laken hatten sich große dunkle Flecken gebildet. Trotz des Fäulnisgestanks, der so eifrig Joeys Galle lockte, als würde zwei unsichtbare Finger seinen Rachen ausloten, tat Joey einen Schritt auf die Todesstätte zu, würgend und mit tränenden Augen, dann noch einen und einen weiteren, bis er schließlich sein Ziel erreichte und die Gestalt hätte berühren können, die reglos vor ihm lag.

Ihr Mund grinste ihm mit gebleckten Zähnen entgegen, das weiche Fleisch der Lippen säuberlich abgenagt von den ihn umschwirrenden Bestien.

Die summende Wand aus Insekten regte sich und Joey linste erschrocken in ihre Richtung. Formierten sie sich zu einem Angriff? Aus der wuselnden Masse wurden immer wieder einzelne Exemplare ausgespuckt, die ihm in der Enge des Raums sehr nah kamen und dann wieder abdrehten. Sie vegetierten in Schichten übereinander, erkannte Joey, Lagen von mehrbeinigem Fleisch über Fleisch, welches nur kriechend und langsam vorankam. Fliegen waren in der Überzahl, wie er vermutete, aber es waren auch viele Maden und anderes kriechendes Gewürm dabei. Sie befanden sich hier im Paradies, wusste Joey, solange ihnen das Fleisch als Futter, wärmendes Bett und Geburtsstätte diente, würden sie gedeihen.

Sein Blick zuckte zurück zum Leichnam, zweifellos eine Frau.

Nein, korrigierte er sich sofort, keine Frau, sondern ein Mädchen, dessen Namen er nun auch kannte: Julia.

Joey durchblätterte die Schnappschüsse, die sich vor seinen Augen auftaten: gelesene Artikel, Fotos des zu Beginn des Winters entführten Mädchens, die weinende Mutter, der bittende Vater.

Das also war Stantons Vermächtnis. Später konnte Joey vielleicht darüber nachdenken, ob es eine üble Laune des Schicksals war, dass er nach dem Täter auch das Opfer fand; jetzt jedoch wollte er sich nicht mit solchen Fragen beschäftigen. Wie konnte Philosophie bestehen angesichts des puren Grauens, das er sah und empfand.

Er sah keine Zeichen von menschlicher Gewalt, also war Julia vermutlich verdurstet und verhungert oder an Kummer gestorben. Warum war Stanton zum Schluss offenbar nicht mehr zu ihr gegangen, um sie mit Nahrung zu versorgen und ihr einzureden, dass sie bald wieder frei wäre? Warum hatte er sie aufgegeben und war zum Mörder geworden, der keinen anderen Ausweg sah, als sich schließlich selbst Gewalt anzutun?

Joey zuckte mit den Schultern. Diese Antworten hätten ihn interessiert, aber er wusste, dass er sie niemals im Dickicht menschlicher Irreführungen entdecken würde. Von Tragödien blieb selten mehr übrig als das, worauf er nun schaute: traurige Überreste und offene Fragen.

Ihre geöffneten, zur Decke gerichteten Augen hatten keinen Blick mehr; der frühere Glanz in ihnen war zu einer grauen Masse geronnen und tief in den Schädel eingesunken. An der Nase der Leiche hing ein zitterndes Bündel aus Gewürm und fraß sich geduldig durch das Fleisch des Mädchens. Er beobachtete das Ungeziefer, das sich aus sich selber schuf. Maden krochen aus den Höhlungen des verdorbenen Fleisches und wieder hinein. Der lippenlose Mund des Mädchens war derart angereichert mit kriechendem Leben, dass Joey es leise aus ihm schmatzen hörte; wie ein Kind mit schlechten Manieren.

Aus totem Leben entstand tausendfach neues, dachte Joey schaudernd.

Eine Zeile aus einem melancholischen Artikel über Julia fuhr ihm in den Sinn, in dem es geheißen hatte, wie wichtig ihr die Natur gewesen war, wie sehr sie die gesamte Schöpfung geliebt hatte.

Welch ein Widerspruch!, dachte er und wunderte sich über die Verbitterung, die diesem Gedanken folgte und die ihn dazu brachte, die Hände zu Fäusten zu ballen. Das Mädchen konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, aber die Fliegen ihm hingegen durchaus.

Ein Zittern durchfuhr ihn, während er dem Schmaus der hungrigen Schöpfung folgte. Dem Schauspiel haftete nichts an, mit er dem seine Wut hätte lindern können. Die Natur war ein Monster, sah er jetzt, das seinesgleichen fraß. Daran war nichts Verniedlichendes. Er hatte nie Angst vor dem Tod gehabt – jetzt war sie plötzlich da; mit hämmernden Schlägen war sie drauf und dran, die dünne Schicht aus Gelassenheit zu durchbrechen. Auch ihn würden sie Stück für Stück ausnehmen und fressen, mit Mäulern, Klauen und ihren Säuren, mit dem sie ihn aufweichen konnten.

Langsam wischte er sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht und wandte den Blick ab von der Leiche. Die Bewegung seiner Hand erstarb, als er den Gegenstand bemerkte, der am Boden stand, zum Großteil verdeckt durch die Pritsche. Er trat einen Schritt zurück und sah, dass es sich um einen Lederkoffer handelte; ein teures Stück, stellte er fest, als er ihn zu sich heranzog, und nicht nur deshalb völlig fehl am Platz. Der Zwillingslaut der nach oben schnappenden Metallverschlüsse dröhnte wie ein Pistolenschuss in seinen Ohren. Zahlreiche Insektenleichen rutschten vom glatten Leder, als Joey den Koffer öffnete.

Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den Inhalt und versuchte, seiner widersprüchlichen Gefühle Herr zu werden. Er stöhnte leise auf, als ein Taumel ihn erfasste, der seinen Blick verschwimmen ließ. Aber das Bild hatte sich bereits so sehr in sein Hirn eingebrannt, dass er sich genauso gut auch die Augen aus den Höhlen hätte kratzen können; es wäre ihm stets präsent geblieben.

Er grub seine Hände in die zahllosen Bündel aus Geld und hörte ihr geheimnisvolles Knistern und Rascheln.

Das Lösegeld!, schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Sie hatten das Geld gezahlt, obwohl das Kind zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits tot gewesen war. Dann war dies die letzte menschliche Tat Stantons gewesen, bevor er die tödliche Schlinge in das Seil knotete: voller Reue, Schmerz und Angst den Koffer zu dem Mädchen zu bringen. Glaubte er an Gott und wollte dessen Zorn auf ihn abmildern? Das Fegefeuer, in dem der Mann nun schmorte, war sicherlich immer noch heiß genug, mutmaßte Joey.

Ein Laut wie Jauchzer und Lachen in einem entfuhr seinem Mund, Gestank und summende Insekten waren auf ein zu vernachlässigendes Minimum reduziert. Er nahm eines der Bündel, das sicherlich tausend Dollar schwer war, in die Hand.

Es gab nichts, was Joey mit dem Geld tun konnte, außer es sein eigen zu nennen. Niemand besaß größeren Anspruch darauf als er und er wusste, Stanton und Julia wären seine Verbündeten gewesen. Er war angesichts ihres hässlichen Todes nicht davongelaufen, um sie ihrem traurigen Schicksal zu überlassen – gab es einen größeren Beweis für die Richtigkeit seiner Überzeugung?

Das Geld gehörte ihm! Selbst die Angriffslust der surrenden Fliegen schien für einen Moment einzuschlafen, als spürten sie seine Entschiedenheit.

Er schreckte auf, als er ein leises Scharren hinter seinem Rücken vernahm, doch er konnte es nicht zuordnen. Der Taumel aus ungläubiger Freude und jäh erblühten alten Träumen machte ihn trunken und unbeholfen. Er wandte genau in dem Moment den Kopf, als ein Hieb auf ihn niedersauste und ihn über dem linken Ohr traf. In seinem Innern schien ein lodernder Feuerball aufzuplatzen, der seinen Schädel zu sprengen drohte. Der Schmerz war so groß, dass er es unterließ, einen Schrei auszustoßen, aus Angst, sein Leben könnte mit ihm entweichen. Mit einem matten Laut kippte er zur Seite, in einem blinden Reflex streckte er beide Arme aus und umklammerte den harten Rand der Pritsche. Trotz des ihn betäubenden Schmerzes registrierte er das kalte Laken und den noch kälteren Körper, den es schützte.

Wieder dieses Scharren und er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Diesmal war es ein gemeiner Tritt in die Magengrube. Joey krümmte sich zusammen und lag wie ein monströser Embryo halb unter der Totenstätte und rang nach Atem. Die Farbe von Blut schimmerte hinter seinen Augen; dahinter drohte tiefe Schwärze. Er begriff nicht, wie die Situation sich so schnell hatte wandeln können. Ein ungewohntes Geräusch schrillte zwischen seinen Ohren hin und her, als sei irgendetwas mit dem ersten Schlag in ihm entzwei gegangen.

"Ich wusste doch, dass du nicht der bist, für den du dich ausgegeben hast, Mistkerl!"

Joey kannte die Stimme, aber es dauerte eine Weile, bis er sie dem Mann zuschreiben konnte, den er wenige Minuten zuvor noch davongejagt hatte.

"Hab´ dich beobachtet, wie du hier eingebrochen bist." Die Stimme kam näher, als sei der Kerl in die Hocke gegangen. "Du Scheißkerl hast die Kleine umgebracht, was? An Kindern kannst du dich vergreifen, was?"

"Nein." Das Wort troff zäh wie Glut aus Joeys Mund. Nur ein Wort, aber er war bereits mit seinen Kräften am Ende.

"Hast dich an ihr vergriffen, nehm´ ich an. Und sie dann hier sich selbst überlassen."

"Nein", keuchte Joey unter Aufbringung aller Kräfte, da ihm dämmerte, dass Worte seine einzige verbliebene Waffe waren; sein zerschundener Körper konnte seinem Gegner höchstens noch ein müdes Lächeln abringen. "Sie irren sich", fiepte er. Er spürte das Getippel leichfüßiger Wesen in Gesicht und Nacken. Es störte ihn nicht; nun, da die Gefahr von anderer Seite drohte, hätte er sich unter Bergen dieser Viecher verkrochen, um in Sicherheit zu sein. "Ich..."

Den Rest seiner Erklärung brachte er nicht über die
Lippen, da ihn ein neuerlicher Tritt traf. Mit dem Hinterkopf knallte er gegen ein Bein der Liege, die polternd verrutschte. Was der Mann zu ihm sagte, vernahm er nur als undeutliches Rauschen. Vage nahm er eine Bewegung in seinem Blickfeld wahr, dem ein metallisches Geräusch folgte. Mühsam hob er den Kopf, es kam ihm so vor, als hielte ein tonnenschweres Gewicht ihn unten. Der Koffer klemmte nun unter dem Arm seines Bezwingers, der seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzog.

"Dein Management wird sicher die richtigen Entscheidungen treffen. Es wird kommen und dich befreien, nehme ich an. Und dann wird wieder alles in Ordnung sein, richtig?"

Joey sah eine Kolonie von Maden, die über seine Hände krochen und er zerquetschte sie schaudernd zu einer farblosen Masse. Taumelnd kam er in die Höhe, das Blut rauschte unheilvoll in seinem Kopf und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren.

Der Mann, mittlerweile auf der Schwelle der Tür stehend, redete weiter. "Musst nur ein wenig Geduld haben. Die Kleine dort wird dir zeigen, wie einfach es ist zu warten."

"Warten Sie", keuchte Joey; die Panik rüttelte an ihm wie ein Guss aus eiskaltem Wasser. "Bitte, gehen Sie nicht!"

Der Mund des Mannes klaffte zu einem bösen Lächeln auf. "Nichts für ungut." Die Worte schwebten noch in der Luft, als er die Tür bereits hinter sich zuzog. Dem Dröhnen der schweren Tür folgte leiser das knirschende Mahlen des Schlüssels, der draußen im Schloss gedreht wurde.
 
H

HFleiss

Gast
Eine spannende Geschichte. Wobei mir der Schluss irgendwie nicht ganz erklärlich ist, ich hätte ihn im Zusammenhang mit Stanton vermutet - aus dramaturgischen Gründen. Nicht ganz klar ist mir die Rolle des Unbekannten: ein Kumpan von Stanton? Mir fehlt ein bisschen die Erklärung. Es gibt ein paar gutgeschriebene, dennoch Längen. Vielleicht solltest du, so schwer es fällt, auf ein bisschen Text verzichten um der Spannung Willen?

Hanna
 

sb

Mitglied
Hallo Hanna,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Wahrscheinlich hast Du Dir über den Schluss zuviel Gedanken gemacht, im Grunde verhält es sich ziemlich simpel. der Unbekannte ist letztlich nichts weiter als eine zufällig auftauchende Person, die ins Geschehen eingreift, weil sie Verdacht schöpft. Mit Stanton hat sie nichts zu tun.

Es ist aber gut, dass Du nachfragst. So ergibt sich für mich die Notwendigkeit, das vielleicht eindeutiger zu beschreiben.

Eine Kürzung im eigenen Text vorzunehmen, ist ungefähr immer so angenehm wie eine Amputation, aber dennoch oft unvermeidlich. Gewiss lässt sich hier die eine oder andere Passage kürzen. vielleicht werde ich das noch in Angriff nehmen.
 
D

Dominik Klama

Gast
Dem Toten widerstrebten die Berührungen

Ein Mann, Bewohner einer apokalyptisch düsteren Industriegegend, findet im Wald die Leiche eines erhängten Selbstmörders, nimmt dessen Sachen an sich und entdeckt anschließend in der Wohnung des Toten Anzeichen für ein Verbrechen, das in einer Fabrikruine stattgefunden hat. Auf dem Weg dorthin verscheucht er einen herumlungernden Alkoholiker. Durch Leichengestank und Unmengen von Fliegen und Maden kämpft er sich einen Weg frei bis zu einer verwesenden Mädchenleiche. Anscheinend hatte der Erhängte das Kind entführt und sehr viel Geld für dessen Freilassung erpresst. Doch das Mädchen ist unter unaufklärbaren Umständen zu Tode gekommen. Das Geld ist noch da. Der Mann will es stehlen, fällt aber seinerseits jetzt dem Alkoholiker zum Opfer, der ihn für einen Sittenstrolch und Kindsmörder hält, ihn zusammen mit der Kinderleiche einsperrt, damit auch er stirbt.


Mir ist als „Beantworter“ von Beiträgen Anderer mehrfach gesagt worden, ich würde viel zu viel Worte machen. Man könne alles viel rascher auf den Punkt bringen.

Das habe ich mir jetzt mal zu Herzen genommen. Ich gebe allen Lesern die Gelegenheit, viel Zeit zu sparen, indem ich den überquellenden Wortwust von „Das Geheimnis des Toten“ auf die wenigen unverzichtbaren Highlight-Sätze eindampfe.



> „Joey ... stapfte ... in den Wald, der ihn für eine weitere Nacht und einen weiteren Morgen der Stadt ausliefern würde.“

> „Der Dreck und die Dunkelheit und Stantons Geheimnis, das hier herumlungerte, waren womöglich nichts für seine schreckhaften Sinne.“

> „Dort lag ein Tier, ein Hund, ein toter Hund, der ein Opfer von Fliegen und Luft gefunden war.“

> „Dem Toten widerstrebten die Berührungen.“

> „Die Natur war ein Monster, sah er jetzt, das seinesgleichen fraß. Daran war nichts Verniedlichendes.“

> „Zögernd schälten sich die grauenhaften Details aus der Dämmerung und brannten sich wie ein Blitz in Joeys vor Furcht geweitete Augen.“

> „Es kostete ihn nun sehr viel Überwindung, wieder Kurs auf die jetzt wie eine Drohung wirkende Schwelle zu nehmen. Etwas Schreckliches lauerte hinter ihr, das war Joey nun klar.“

> „Die Panik rüttelte an ihm wie ein Guss aus eiskaltem Wasser.“

> „Es dämmerte ihm, dass seine Leistung die eines guten Schauspielers würdig gewesen war.“

> „Oft waren sie einander gleich in ihren Köpfen, wenn es darum ging, dieses Prinzip purer Mittelmäßigkeit zu unterwandern.“

> „Warum hatte er sie aufgegeben und war zum Mörder geworden, der keinen anderen Ausweg sah, als sich schließlich selbst Gewalt anzutun?“

> „Diese Antworten hätten ihn interessiert, aber er wusste, dass er sie niemals im Dickicht menschlicher Irreführungen entdecken würde.“

> „Es gab nichts, was Joey mit dem Geld tun konnte, außer es sein eigen zu nennen.“

> „Der Schmerz war so groß, dass er es unterließ, einen Schrei auszustoßen, aus Angst, sein Leben könnte mit ihm entweichen.“

> „Der Koffer klemmte nun unter dem Arm seines Bezwingers, der seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzog.“

> „Sein zerschundener Körper konnte seinem Gegner höchstens noch ein müdes Lächeln abringen.“

> „Joey stierte darauf und versuchte, diesem abscheulichen Bild einen Namen zu geben, einen Begriff, der sich wie ein Krebsgeschwür in sein Gedächtnis einnisten und ihn auffressen konnte.“



Solche „sprachlichen Finessen“ werden auf einer von eins bis zehn ansteigenden Skala von den Lesern der Leselupe mit den Noten acht und neun bewertet. Von Moderatoren nach Jahren ausgegraben und als „Werk des Monats“ uns zur Erbauung dringlich ans Herz gelegt.

Na denn.
 



 
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