Das Hirn und die Faust

Heiner Bauer

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Den Charakter Rothorns hätte man mit zwei scheinbar belanglosen Tatsachen aus der Frühzeit seines Seins am besten beschreiben können: er war ein Einzelkind. Aufgewachsen und erzogen allein von seiner Mutter.
Sie hatte ihn immer vor allem behüten wollen, vor schlechten Freunden, die ihn vielleicht zum Rauchen und Trinken verführt hätten; vor den Keilereien auf dem Schulhof; vor schlechten Zeugnissen und vor einer übereilten Bindung an ein Mädchen, das ihm frühen Schmerz und ihr womöglich sogar den Verlust des einzigen Kindes beschert hätte.
Rothorn war schmal und zart, mit schmalen Händen und sehr langen, geraden Fingern, deren Nägel er sich beizeiten angewöhnt hatte, sorgfältig zu maniküren.
Er war eindeutig ein leptosomer Konstitutionstyp: sehr groß, mit einem Rundrücken, Resultat einer jahrelangen nachlässigen Körperhaltung, erworben in endlosen Stunden über seiner Schreibmaschine, an der er sich bemüht hatte, Gedichte zu schreiben, die er ebenso ängstlich hütete, wie das Geheimnis seiner ersten nächtlichen Ejakulation.
Und ebenso schmal und zart wie seine Hände war Rothorns Körper, empfindlich gegen Kälte und Zugluft.
Dabei wäre er gern so anders gewesen! Ein Mann vielleicht, wie er hin und wieder durch diese amerikanischen Spielfilme geisterte, die seine tiefreligiöse Mutter sich weigerte, anzusehen. Ein starker Mann, ein Mann der die Frauen kannte und die Welt, der den Dschungel furchtlos durchquerte und die Wüste. Der auf dem Rücken seines Pferdes die Rocky Mountains durchmaß und in einem dürftigen Kanu den Amazonas hinauffuhr. Immer auf der Suche nach dem Unbekannten, dem Schattenland, der Würze des Lebens und vielleicht auch dem Hauch des Todes, der seinen Körper stählte und adelte, wenn er ihn streifte.
Ein solcher Mann wäre Rothorn gern gewesen, mit scharfem Blick und einer Art glimmendem Licht, daß den Zügen die Aura einer aufgeschlagenen Chronik verlieh, die vom fortwährenden Sieg über Hunger, Furcht, Kältegefühl, Schwitzen, Durst und Schmerz kündete. Ein Sieg, der größer sein mußte, erhabener und leuchtender, als selbst der Sieg über einen übermächtigen Gegner!
Dies war eine Welt des Abenteuers, eine Welt der furchtlosen Männer und schönen Frauen! Eine Welt der Anerkennung und der Achtung voreinander! Eine Welt, in der er niemals würde leben können!
Und er mußte sich damit begnügen, zu Hause zu sitzen, seine Fingernägel zu maniküren, Gedichte zu schreiben, die niemand las und sich auf irgendein Studium vorzubereiten, das seine Mutter für ihn auswählen würde!
Nie hatte Rothorn ein Mädchen defloriert, nie eine Prügelei durchgestanden, nie eine Zigarette probiert oder einen Rausch ausgeschlafen! Abgeschnitten von dieser Welt hatte er gelebt, bis zu dem Tage, an dem er Riem kennengelernt hatte! Zum Entsetzen seiner Mutter, denn Riem war das genaue Gegenteil von Rothorn!
Wenn man ihm glauben konnte, besaß er in nahezu jeder Stadt, in der er irgendwann einmal zu tun gehabt hatte, eine Freundin. Und er sprach über seine Intimerlebnisse in aller Öffentlichkeit, mit wachsender Freude am Detail, so, wie Rothorn vielleicht über seine gelegentlichen Angelausflüge berichtet hätte.
Riem war roh und schamlos, von einer bestürzenden, von einer bestürzenden, aber auch einnehmenden Direktheit. Sein massiver Körper war der eines Forstarbeiters, mit starken schwieligen Händen, die ihn in zahllosen Kneipenschlägereien bewahrt und ihm etliche Strafanzeigen wegen Körperverletzung eingetragen hatten.
Rothorn hatte Riem kennengelernt, rein zufällig, an dem Tag, als er nicht wußte, wie das defekte Ritzel seines Mopeds auszuwechseln war. Rothorn hatte Riem kennengelernt. Und eine Faszination ging von diesem Menschen aus, der nach dem Gesetz des Abenteuers zu leben schien und der sich einen Dreck um das scherte, was Rothorns Mutter "Moral" und "Anstand" nannte, sondern die Tage verfluchte, an denen er nicht volltrunken ins Bett gefallen war.
Alles an Riem war für Rothorn exotisch: die muskulösen, braungebrannten Unterarme, unter deren Haut die Venen wie fette Würmer anschwollen, sobald er die Arme baumeln ließ. Die vollkommen ungepflegten schweren Hände mit den schwarzrandigen, schartig abgebrochenen Fingernägeln, den verschmutzten Hornhautschwielen und den braunen Nikotinflecken. Die Art war faszinierend, in der Riem mit Gastwirten und Fremden redete: rauh, herablassend und immer in einem fordernden Ton, wie, um zu beleidigen, zu provozieren und auszuloten, wie weit er gehen konnte, ehe die Fäuste sprechen würden. Die Art war faszinierend, in der er trank. Er schüttete sich Schnäpse der übelsten Sorte mit einer resoluten Handbewegung in den Mund: Klare, Braune, Kräuterliköre, was ihn in Rothorns Augen zu einem Helden machte. Und war es doch einmal zuviel, vermochte Riem wortlos aufzustehn, um nach draußen zu wanken, wo er sich den Mittelfinger der Rechten in den Mund rammte, damit er erbrach, ehe er dann wieder hineinkam, in den Schankraum, mit leicht geröteten Augen und weitersoff, wobei er stets zu sagen pflegte: „Habe ein Kötzerchen gemacht! War schöner, als Geschlechtsverkehr!“
Alles an Riem faszinierte Rothorn. Vielleicht war es aber auch der Traum, zusammen mit ihm unschlagbar zu sein! Vielleicht war Riem seine Faust! Vielleicht war er dessen Hirn, das diesen Körper, diese schwitzende, hurende, saufende Kampfmaschine lenkte, gleichzeitig von ihr beschützt und erhalten wurde, während es für zwei dachte und die Befehle gab! Sie waren eine Symbiose!
Ein berauschender Gedanke! Es war der Traum von einer Kameradschaft, der beide verband. Eine Kameradschaft, eine Art Blutsbrüderschaft, stärker als alle Art von Furcht, stärker selbst, als Todesfurcht. Eine Kameradschaft, die absolut war, ohne Grenzen und Tabus und stärker, berauschender, als alle Spielarten der heterosexuellen Liebe! Eine unbedingte Kameradschaft, weit jenseits von allen kleinen, schwachen und kümmerlichen Fragen! Eine selbstlose Kameradschaft, die alles gab und nicht nach Gegenleistung fragte! Eine Kameradschaft, die aus den Urzeiten menschlichen Seins herrühren mußte. Aus den Zeiten der Wildheit und Barbarei, als zwei Rücken an Rücken ihren furchtbaren Kampf gegen die allgegenwärtige Bedrohung austrugen, immer im Wissen um die verdoppelte Stärke!
Rothorn berauschte dieser Gedanke: er war das Hirn und Riem die Faust! Die vollkommene Symbiose der Unschlagbarkeit!

Es war ein Tag im Sommer. Riem hatte ihn abgeholt, obwohl die Mutter das nicht wollte. Aber Riem war ihm jetzt wichtiger als alles andere auf der Welt!
Und Rothorn genoß es, jetzt hier zu sitzen, bei Riem. In dieser verräucherten Dorfkneipe, in der sonst die Männer saßen. Nur heute nicht, weil es ein Wochentag war, auf den morgen ein Arbeitstag folgen würde, der obendrein noch in der Erntezeit lag.
Sie saßen in der Dorfkneipe, ganz vorn, am runden Eichentisch, gleich vor der Theke. Die alten geölten Dielen unter ihren Füßen erzählten eine beredte Geschichte. Eine Geschichte von Durst und Männerschweiß und einem Ort, an dem nur der etwas galt, der der Wirkung des Alkohols lange widerstand und aufrecht blieb und der es verstand, sich wie ein Kämpfer zu schlagen. Und die verchromte Fläche des Schanktisches erzählte dieselbe Geschichte, die polierten Gläser im Schrank dahinter erzählten sie ebenso und auch die kleinen runden Tische mit den gelben Kunstblumensträußen und den Pappbierdeckeln, auf denen der Wirt die Zahl der konsumierten Biere und Schnäpse vermerkte.
Die einstmals weißgetünchte Decke des Raumes war gelblich, wie die Gardinen vor den alten undichten Fenstern: vergilbt im Rauch ungezählter Generationen von Zigaretten und Zigarren, Pfeifen und Zigarillos, untrennbar verbunden längst mit dem Geruch nach kaltem Rauch.
Das monotone Tropfen des undichten Zapfhahnes in ein daruntergestelltes Bierglas erfüllte den Raum, das Surren des alten Ventilators in der Wand und das leise Kratzen des Kugelschreibers, mit dem der alte Wirt, hinten, in der Küche, irgendwelche Abrechnungen schrieb. Daneben tönte leise aber bedrohlich das eindringliche Reden eines großen und unangenehm vierschrötigen Mannes, der am Nebentisch mit einer schluchzenden Frau sprach. Beide mochten um die Fünfzig sein, und weder Rothorn, noch Riem hatten sie jemals zuvor hier gesehen.
Die gefährlich wirkende Stimme des Mannes, seine Halbglatze, seine unförmigen Hände, sein verschmutzter Arbeitsanzug faszinierten Rothorn. Vielleicht aber war es auch das leise Schluchzen der Frau. Vielleicht die offensichtliche Trunkenheit des Fremden. Und Rothorn tat etwas, was nicht hätte tun sollen: er musterte den Fremden unverhohlen. Und als der es bemerkte, blickte er aus Augen hinüber, in die plötzlich und unvermittelt und erschreckend grundlos, ein gewalttätiger Ausdruck des Hasses trat. Und seine kalte lallende Stimme traf sie beide mit der Gewalt eines heftigen Peitschenhiebes: „Was ist, ihr Drecksäcke? Glotzt nich so! Oder wollt ihr paar in die Fresse?“
Und Riem stand diesmal nicht auf, wie sonst, sondern duckte sich, instinktiv, wie ein Tier, das den überlegenen Gegner und die eigene Chancenlosigkeit witterte.
Riem lief nur rot an, starrte auf die weiße Tischplatte und sagte ganz leise, fast zu sich selbst: „Na, na! Immer ruhig!“
„Gero! Gero!“, schluchzte jetzt die Frau, als wisse sie, was nun kommen würde. Ihre offenen Lippen zitterten, und es klang schrill und ängstlich, als sie noch einmal sagte: „Gero! Um Gottes Willen...!“
Aber der Fremde glich einem losbrechenden Sturm, einer losgetretenen Lawine in ihrer zermalmenden Gewalt.
Schnell und grob fuhr er die Frau an: „Halts Maul!“
Und dann erhob er sich langsam, was nach Rothorns Erfahrungen bei solchen Kerlen nichts Gutes bedeutete. Und er kam jetzt herüber, an ihren Tisch, mit rotem Gesicht und sehr langsam.
Riem duckte sich, denn er saß mit dem Rücken zu dem Fremden. Und er drehte sich nicht zu ihm um, und er sah ihn nicht an, weil er wohl ahnte, daß er dann den Angriff des Fremden herausgefordert hätte. Einen Angriff, der ihn zerschmettern würde, zerknicken und zerbrechen, wie ein Schneesturm die jungen Fichten.
Aber Rothorn sah ihn an. Und er sah ihn kommen, roch, als er schon nahe genug heran war, den unangenehmen Körpergeruch des Fremden, sah den Grind unter dem Haarkranz, der die Halbglatze säumte. Und er sah die Angst im bleichen Gesicht der Frau, während ihm dämmerte, welches namenlose Leid diese Frau an der Seite des Fremden erduldete.
Aber der Fremde war schon heran. Und seine üble Schnapsfahne wehte über ihren Tisch, vor dem er jetzt stand, groß, aufrecht und bedrohlich, wie ein Berg in einer Sturmnacht!
In Sekundenbruchteilen registrierte Rothorns hellwacher Verstand tausend Einzelheiten an dem Fremden: die eng zusammenliegenden Augen, die Tätowierung einer nackten Frau, die sich eine Schlange um den Hals gewunden hatte auf dem rechten dichtbehaarten Unterarm, die verschmutzte blaue Arbeitsjacke, aus deren Tasche die stählerne Kette einer Taschenuhr lugte und den abgebrochenen Zollstock in einer länglichen Seitentasche der Arbeitshose.
„Was haste zu glotzen, Brillenschlange?“, brüllte der Mann Rothorn an wie ein wildes Tier.
„Gero! Bitte...!“, wimmerte die Frau am Tisch, im Rücken des Fremden.
Der Mann aber brüllte so animalisch, daß Rothorn ein Angstschauer den Nacken hinablief und er sekundenlang den Drang verspürte, seinen Darm zu entleeren: „Jetzt gibt’s Fresse voll! Los, komm mit raus! Komm mit raus!“
Der Wirt war in Sekundenschnelle aus seiner Küche aufgetaucht, nahm sofort den Hörer des Telefons in die Hand und rief sehr laut und sehr bestimmt: „Ich will keinen Ärger hier! Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht sofort austrinken und gehen! Ich rufe die Polizei!“
„Gero! Bitte...!“, schluchzte die Frau jetzt wieder. Der Ventilator surrte immer noch, und der Zapfhahn plätscherte in die Stille hinein.
Aber der Mann zischte zu Rothorn: „Pfeife! Du Brillenschlange...!“
Und ehe irgendjemand sich versah, sauste seine gewaltige rechte Hand durch die Luft und traf Rothorn klatschend am rechten Auge. Und seine Brille flog zu Boden und schlitterte wie auf Glatteis ein Stück durch den Raum, während er selbst die Arme hochriß, einen sehr hellen Blitz im Gesicht verspürte und wie vom Schlag getroffen, mit dem Hinterkopf an die Ecke des Schanktisches knallend, vom Stuhl fiel und auf dem Boden liegenblieb.
„Gero!“, rief die Frau wieder. Und gleichzeitig mit der Angst, der Mann könne sich nun auf ihn stürzen, ihn wieder schlagen oder treten, fühlte Rothorn das Verlangen, zu heulen und den Mann um Verzeihung zu bitten, damit der ihn verschone. Und er fühlte wieder diesen Stuhldrang heftig im Darm, wie von Durchfall oder einem Heer Ameisen.
„Gero!“, rief die Frau: „Komm, wir gehen! Bitte, laß uns gehen! Es muß doch nicht erst wieder so weit kommen...!“ Und in ihrer Stimme lag eine Angst und eine Bitterkeit, erworben an unzähligen ähnlichen Orten mit ähnlichen Ereignissen.
„Sie verlassen sofort dieses Lokal!“, rief der Wirt jetzt laut und bestimmt: „Sofort!“
Während er mit Riem Rothorn aufhalf und die Frau zitternd die arg verbogene Brille brachte, deren Gläser aber heil geblieben waren.
„Nehme noch Schachtel Zigaretten...!“, forderte der Mann.
„Sie gehen sofort!“, rief der Wirt: „Oder ich rufe die Polizei!“
„Ach, leck mich doch!“, rief der Mann dem Wirt zu. Und drohend zu Rothorn und Riem: „Ich mach euch alle, ihr Drecksäcke!“, ehe die Frau ihn aus der Tür auf die Straße zog.
Rothorns Auge brannte. Er bemerkte, wie es anschwoll. Die Braue war aufgeplatzt. Er zitterte am ganzen Leibe und bog dabei an seinem Brillengestell herum, um sich zu beruhigen.
In das Tropfen des Wasserhahnes überm Spülbecken hinein, mit dem er ein Stück Zellstoff für Rothorns Auge befeuchtet hatte, sagte der Wirt: „Ich geb noch einen aus, und dann geht ihr! Kann sein, der kommt noch mal wieder! Und da ist es besser, ihr seid weg! Ich will hier keinen Ärger haben! Ich laß mir keine mexikanische Würfelbude aus meinem Lokal machen! Ich will hier keinen Ärger haben! Versteht ihr?“

Hinter ihnen schloß der Wirt die Tür zu. Sie hörten das Klacken des Schlüssels in dem alten ausgeleierten Schloß. Sie liefen die gepflasterte Hauptstraße hinab, in deren Granit die Jahreszahl 1967 eingelegt war.
Es war jetzt Nacht. Die Straßenlaternen des Dorfes brannten, und in dem Lichtkegel der Laterne vor der Poststelle tanzten unzählige Mücken. Fern dröhnte ein Bus auf der Chaussee: es mußte der Elfuhrbus sein.
Sie sprachen kein Wort. Nur einmal wies Riem nach oben, auf einen blinkenden Stern und rief: „Der Polarstern!“
„Hm!“, machte Rothorn. Sein Auge pulste, und schmerzhaft spürte er die Zunahme der Schwellung. Es war etwas zerbrochen zwischen Riem und ihm. Und Riem mußte genauso empfinden, denn er ging plötzlich drei Schritte vor Rothorn her und immer dicht an der Mauer des alten Gutes entlang.
Da war vorn, im Torweg des Gutes, ein Geräusch zu hören, eine Art Scharren. Und in den Schrecken hinein, der sie jäh auffahren ließ, brüllte eine Stimme, rasend vor Freude: „Ihr Drecksäcke! Jetzt mach ich euch alle!“
Der Mann stand da. Er hatte sie erwartet. Diesmal ohne die Frau! Und er hielt eine kurze rostige Brechstange in der Hand, ein Eisenrohr, rostig und schwer, mit einer Art Kuhfuß am Ende.
Der ist wahnsinnig!, schoß es Rothorn durch den Kopf, zugleich mit einer irren Angst. Und er verspürte wieder diese Lust, zu weinen und den Mann um Gnade anzuflehen, als er schon ein dumpfes Klatschen hörte und einen Aufschrei. Und noch zwei-, drei-, viermal dieses dumpfe Klatschen und dann ein Röcheln. Und er sah jetzt: Riem lag schon auf der Straße und wälzte sich und versuchte immerzu, die Arme noch hochzureißen. Aber der Mann stand breitbeinig über ihm, beugte sich über ihn und drosch und drosch und drosch auf ihn ein. Mit heftigen Schlägen, kurz hintereinander geführt, so etwa, als schlüge er eine Ratte tot oder einen tollwütigen Hund.
Er ließ dabei ein kurzes Knurren hören und stieß ein paarmal hervor: „So! So! So! So!“, während Riems anfangs gellendes „Aaaaaah!“ jetzt langsam in einem Blubbern, Röcheln und Pfeifen verebbte.
Rothorn stand dabei, drei Schritt entfernt, während sein Hirn jede Einzelheit registrierte: den dumpfen, hohlklingenden Laut, den Riems luftgefüllter Brustkorb unter dem Brecheisen machte, diesen fürchterlichen Krampf, der plötzlich Riems Körper befiel, dieses Zucken, das ihn durchlief vom Kopf bis zu den Füßen hinunter, während er auf dem Pflaster lag und das fürchterliche Krachen, wie von dürrem Holz. Und Rothorn sah die Lache von Blut sich ausbreiten, roch ihren widerlichen, stechend süßen Geruch. Und er wußte plötzlich, daß Riem tot war. Währenddessen liefen Rothorn Tränen über die Wangen und er wimmerte leise mit bebenden Lippen. Aber der Mann drosch immer noch, jetzt schwitzend und japsend auf den reglosen Körper ein, der jetzt still und starr und nur noch leise zitternd unter der Brechstange lag, wie ein totes rohes Stück Fleisch unter dem Fleischklopfer.
„Warum Warum?“, schluchzte Rothorn auf, jetzt frei von jeglicher Angst und erfüllt von Entsetzen und einem Gefühl, dieser Mann, in dessen Hand er jetzt war, müsse Gnade mit ihm walten lassen: „Was haben wir Ihnen denn getan? Was haben wir Ihnen den getan?“, fragte Rothorn immer wieder, jetzt auf dem Pflaster kniend und die Hände gefaltet und dem Mann entgegengestreckt.
Der Fremde ließ von Riem ab und sprang in einem Satz auf Rothorn zu, damit der nicht entwischte.
Und als Rothorn diesen Haß in dem trüben Blick sah und das Blut an den Händen, die das Brecheisen hielten und das Blut an dem Eisen selbst, kam die Angst wieder und schnürte ihm würgend die Kehle zu.
„Du Sau!“, schrie der Mann und hob das Brecheisen mit beiden Händen: „Du Brillenschlange! Jetzt bist du dran!“
Und es war wie ein Sturz, wie ein Fall von Steinen auf ihn herab: ein scharfes Sausen in der Luft, und dann diese unheimliche Wucht des Schlages, die er, verletzt und benommen, noch die ersten Male erstaunt registrierte, mit einem Gefühl des Unglaubens und des Entsetzens über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Lebens, während er schon vollends hinschlug, auf das Pflaster, neben den toten Riem.
Und das Ächzen war noch da und der Gestank des Mannes war da, das dumpfe Geräusch des Brecheisens und der fürchterliche Schmerz in seinem Körper, der aber schwächer und schwächer wurde, von Schlag zu Schlag. So, als ob Rothorn einschliefe oder in einen dunklen schwarzen Brunnen fiele, immer tiefer hinein und fort und fort von dem Mann und den Schlägen und dem Schmerz und dem fetten, gierigen, gelben Mond, der am Himmel stand, wie ein geiler Spanner.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Heiner,

Hmm, verdammt gut geschrieben. Da könnte man sich wohl ne dicke Scheibe von abschneiden. Inhaltlich machte auf mich der Schluß allerdings einen reichlich überzogenen Eindruck. Ich kann darin auch keinen rechten Sinn erkennen. Symbiose aus Hirn und Faust - ein bloser Wunschgedanke? Ist es das?

Gruß Ralph
 

MaryJo

Mitglied
ich treibe mich seit vorgestern hier rum und nach vielerlei verdruss ist das stilistisch das beste, was ich hier bislang lesen durfte. mehr davon!
 



 
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