Das Telefon

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NJSeifert

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Das Telefon

Ein letztes Mal drehte sie sich noch um. Er war nicht mehr zu sehen. Staubwolken versperrten ihr die Sicht auf seinen Wagen. Es würde eine Trennung auf Zeit sein. Eine sehr lange Zeit. Doch das hatte sie gewusst. Wehmütig blickte sie ihm hinter her und spürte noch seine Hand auf ihrer Schulter. Sie versuchte dieses Gefühl in sich zu speichern, denn es würde eine Weile dauern, bis sie sich wieder in seine Arme legen würde. Sie vermisste schon seinen Duft, den Klang seiner Stimme, weswegen sie Vorräte geschaffen hatte. Ein, zwei Hemden von ihm, mit seinem Parfüm und seinem ganz eigenen Geruch, hatte sie ihm bereits heimlich gestohlen. Damit würde sie sich an schweren Tagen an seine Nähe, an seine Wärme erinnern. Sie würde ihn selbstverständlich früher oder später wieder hören können. Immerhin gab es Telefone. Doch das Rauschen und Knacken der Leitung veränderte die Stimme. Die Tatsache, dass sie nicht sehen konnte, wie seine Lippen diese eigenartige Bewegung machten, wenn er ihren Namen sagte, würde den Gesprächen das Wärmende und Tröstende nehmen.

An diesem Abend legte sie sich bereits mit einem seiner Hemden auf ihr Sofa und starrte an die Decke. Mehr als sechs Monate würden sie nun voneinander getrennt sein. Anderen kam dieser Zeitraum vielleicht lächerlich vor. Doch für sie war es eine Ewigkeit. Noch nie waren sie so lange voneinander getrennt gewesen. Ihre Beziehung würde es überstehen, dessen waren sich Beide bewusst. Sie musste sich also keine Sorgen machen, wie es in Zukunft weiter gehen würde. In etwas über einem halben Jahr würden sie wieder vereint in ihrem Wohnzimmer sitzen und darüber witzeln, wie schnell doch die Zeit vergangen war. Während sie in ihre Gedanken vertieft das Gesicht in sein Hemd grub, hörte sie ein Geräusch in der Küche. Sie zuckte zusammen. Im ersten Moment dachte sie zwar, dass es August sein würde. Doch der war ja mehrere Kilometer von ihr entfernt und außer ihr war niemand im Haus. Vorsichtig setzte sie sich auf, ohne dabei ein Geräusch zu machen. Angestrengt lauschte sie, ob sich das Geräusch wiederholen würde. Doch es kam nicht dazu. Das Einzige was sie vernahm, war das gleichmäßige Brummen ihres neuen Kühlschrankes. Sie lauschte weiter und versuchte die Geräusche innerlich voneinander zu trennen. Konzentriert versuchte sie ausfindig zu machen, ob es sich vorhin um ihre Mikrowelle gehandelt haben könnte. Ihre Mutter hatte bei der Anschaffung des neuen Gerätes nur mit dem Kopf geschüttelt. Ein „Hexenwerk“ hatte sie es genannt. Ihre Mutter war eine Frau, die kein Vertrauen in die neue Technik hatte. Das Lebensmittel neuerdings mittels Strahlen erwärmt wurden, klang für sie zu gefährlich, als dass man es sich in die Wohnung stellen sollte. Lise musste kurz kichern, als sie daran dachte, dass sich ihre Mutter Sorgen über ihre Fruchtbarkeit machte, da ihr Körper in Zukunft massiv verstrahlt werden würde. Da hörte sie es wieder. Das Geräusch kam jedoch nicht aus der Küche. Sie sprang auf und eilte in die Richtung, aus der sie es meinte gehört zu haben. Es kam aus dem Flur.

Mit pochendem Herzen stand sie da und starrte auf ihr Telefon. Es klang als würde der Hörer vibrieren. Doch das konnte nicht sein. Kein Telefon, das sie kannte konnte vibrieren, höchstens Schellen, aber nicht vibrieren. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Das Geräusch war genauso schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war. Gerade als sie sich dachte, es könnte vielleicht nur Einbildung gewesen sein oder ein altes Rohr in der Wand, ertönte es erneut. Es war eindeutig der Hörer. Sie konnte es sehen. Der Hörer vibrierte auf der Gabel. Erschrocken schrie sie kurz auf und schlug sich dann die Hände vor den Mund. Die Nachbarn durften sie nicht schreien hören. Sie würden kommen und ihre Hilfe anbieten oder sich erkundigen, ob bei ihr alles in Ordnung sei. Wie sollte sie diese Situation erklären? Wenn sie ihnen sagte, dass ihr Telefon vibrierte würde sie sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Sie atmete tief durch. Ohne den Hörer aus den Augen zu lassen, ging sie rückwärts in die Küche zurück und holte sich die Flasche Pflaumenschnaps aus dem obersten Regal. Den Blick weiter zum Flur gerichtet, tastete sie in dem Regal nach einem Glas, schüttete sich ein und kippte einen großen Schluck mit einem mal hinunter. Das würde ihr niemand glauben. Sie tat es ja selbst nicht.

Am nächsten Morgen wachte sie auf und fühlte sich wie gerädert. Die ganze Nacht hatte sie nicht schlafen können. Immer in Erwartung das Geräusch noch einmal zu hören, hatte sie sich unruhig im Bett hin und her gewälzt. Aber es war nicht wieder aufgetaucht. Sie setzte sich auf die Bettkante und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Die Ereignisse des vergangenen Abends kamen ihr vor, wie ein schlechter Traum. Sie stand auf und schaute wehmütig auf die andere Betthälfte. Wenn August doch nur hier gewesen wäre. Er hätte mit Sicherheit eine Erklärung parat gehabt, die ihr plausibel genug vorkam, um sich wieder zu beruhigen. August hätte den Apparat bis auf den letzten Zentimeter untersucht, nur um die Ursache zu finden. Die Vorstellung, dass vielleicht diese seltsamen Geschehnisse aufgrund eines technischen Fehlers aufgetreten waren, brachte sie ins Grübeln. Zwar hatte sie kein fundiertes Wissen über Telefone und ihre Technik, doch sie merkte, wie das klare und strukturierte Denken über dieses Problem für Ordnung in ihrem Kopf sorgte. Auch wenn er nicht da war, beruhigte August sie trotz allem.

Sie ging die Stufen vom Schlafzimmer hinab in ihre Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Mit etwas Koffein im Blut, würde sie vielleicht ihr weiteres Vorgehen besser planen können und außerdem musste ihr Schlafdefizit aufgehoben werden. Immerhin musste sie ins Büro. Wehmütig strich sie über den Rahmen auf der Kommode. Ihr Hochzeitsbild war darin eingefasst. Glücklich und frisch verliebt, wie am ersten Tag, strahlten Lise und August dabei in die Kamera. Die Aufnahme war noch nicht allzu alt, nur ihre Haare trug sie nun etwas kürzer. Für die Brautfrisur hatte sie ihre Haare monatelang gezüchtet. Verträumt lehnte sie an der Küchenzeile und dachte an die schöne Feier. Da ging es erneut los. Erschrocken rutschte ihr die Kaffeetasse aus der Hand und ging klirrend auf dem Boden zu Bruch. Wie versteinerte starrte sie in den Flur. Es war das Telefon. Es vibrierte erneut. Und dieses Mal schien es noch lauter zu sein, als am Abend zuvor. Als das furchtbare Wummern endlich aufhörte, fegte sie blitzschnell die Überreste der Tasse zusammen, machte sich fertig und flüchtete in Windeseile aus dem Haus.

Auf der Arbeit konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Einerseits war sie froh, den seltsamen Vorkommnissen, in ihrem eigentlich doch so heimeligen Zuhause, entkommen zu sein. Auf der anderen Seite zuckte sie bei jedem Klingeln ihres Telefons zusammen. Doch als Sekretärin blieb nun einmal die Telefonarbeit nicht aus. Am Ende des Tages hatte sie ihrer Arbeitskollegin mehrmals versichern müssen, dass alles mit ihr in Ordnung sei und dass sie keine Hilfe benötigen würde. Die Arbeit war ihr nicht über den Kopf gewachsen und, nein, sie sei auch noch nicht in Umständen. Diese Frage hörte sie seit der Hochzeit ununterbrochen. Dabei hatten sich August und sie Zeit lassen wollen, wollten noch ein bisschen Reisen, bis sie Eltern wurden. Nicht, dass sich Lise nicht darauf freute Mutter zu werden, aber sie freute sich ebenso noch auf die gemeinsame Zeit mit ihrem August. Da war sie wieder, die Wehmut. Seufzend und völlig erschöpft von der Arbeit, dem Telefonklingeln und dem Schlafentzug, ließ sie sich auf den Sitz in der Straßenbahn fallen. Sie wollten noch so viel Zeit miteinander verbringen. Gemeinsam. Doch nun musste August für seine Firma ein halbes Jahr eine neue Abteilung im Süden einrichten. Dann würde er endlich wieder heimkehren und bei ihr sein. Sie drehte ihren Ehering um ihren Finger. Der einzige Teil, der ihr von ihrem Geliebten noch geblieben war.

Als sie die Haustür hinter sich schloss, kam ihr die Wohnung noch verlassener vor, als sie ohnehin schon war. Kein Geruch von Aftershave, der aus dem Bad in den Flur hineinwehte. Keine Schritte, die die Treppe hinab in ihre Richtung liefen, wobei die vorletzte Stufe immer übersprungen wurde. Mit hängenden Schultern setzte sie ihre Handtasche auf dem kleinen Tisch im Flur ab. Ihr August fehlte ihr schon nach nur einem Tag so sehr, wie sollte sie es nur noch so viele Abende ohne ihn aushalten. Niedergeschlagen und mit vor aufsteigenden Tränen verschwommenem Blick, starrte sie auf das Telefon. Sie hätte ihn anrufen wollen, doch das konnte sie noch nicht. Die Telefonnummer von seiner Unterbringung wollte er ihr sobald es möglich war per Post senden. Denn von seinem Zimmer aus anrufen war ihm nicht gestattet, da sein Chef für alle Kosten aufkam und Telefonate in die Heimat nur im Notfall erlaubte. Aber dies war doch ein Notfall. Spürte ihr August denn nicht, dass ihr Herz nach nur einem Tag schon beinahe zerbrach. Sie legte die Hand auf den Hörer. So unheimlich ihr die Vibration auch in den vergangen Stunden vorgekommen war, so sehr wünschte sie es sich nun zurück. Wenigstens irgendein Geräusch, das nicht von ihr ausging. Und gerade als sie mit der Fingerspitze den Hörer berührte, begann der Apparat zu klingeln. Der Anruf kam ihr vor, wie aus einer anderen Welt. Ungläubig starrte sie auf das Telefon, unfähig sich zu bewegen. Nach dem fünften Mal schaffte sie es endlich ihre Hand zu öffnen und den Hörer in die Hand zu nehmen. Wie in Zeitlupe führte sie ihn an ihr Ohr, ohne ihn dabei aus dem Auge zu lassen.
„Ja?“, fragte sie. Erst in dem Moment fiel ihr auf, dass sie ihre Manieren im Schock völlig vergessen hatte und weder Namen noch „Guten Abend“ gesagt hatte.
Sie hörte die Stimme einer jungen Frau auf der anderen Seite, die sie auf Französisch fragte, ob sie Elisabeth Reinhardts wäre. Lises Französisch Kenntnisse waren Gott sei Dank gut genug, um in dieser Ausnahmesituation adäquat agieren zu können. Nachdem sie der Dame am anderen Ende glaubhaft versichern konnte, die Ehefrau von August Reinhardts zu sein, wurde sie über die Vorfälle in Kenntnis gesetzt. Als das Telefonat beendet war, ließ sie den Hörer neben das Telefon fallen, rannte in ihr Schlafzimmer und packte die Reisetasche. Nur Minuten später eilte sie aus dem Haus zu ihrem Bruder, der ein Auto besaß, und sie noch heute Nacht nach Frankreich fahren musste.

Als sie nach einer Stunden langen Autofahrt endlich am Krankenhaus angekommen waren, atmete sie das erste Mal wieder durch. Ohne großartig zu fragen hatte ihr Bruder sie selbstverständlich zu ihrem August gebracht. Endlich konnte sie seine Hand halten. Die Krankenschwester hatte ihr im Voraus alles so gut es ging erklärt. Offensichtlich hatte August einen schweren Unfall gehabt, kurz bevor er an seiner Unterkunft angekommen war. Sein Wagen hatte sich mehrmals überschlagen und war einen Abhang hinunter gerutscht. Die Ärzte hatten gesagt, es grenzte an ein Wunder, dass er den Unfall so gut überstanden hatte. Lediglich ein Bein und ein Finger seiner linken Hand waren gebrochen. Abgesehen von den unzähligen Schürfwunden und Prellungen, war er beinahe unversehrt. Zitternd hatte sie nach seiner Hand gefasst, sie konnte nicht glauben, was ihrem armen Mann widerfahren war. Tränen liefen ihr über die Wangen, vor lauter Glück, dass sie ihn noch lebend wiedersehen durfte. Von dem Unfall war August noch sehr geschwächt und schlief tief und fest. Als Beistand war ihr Bruder mit ins Zimmer gekommen und zog sie vorsichtig von ihrem Mann fort, als sie versuchte ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben.
„Komm, Lise, gönn´ deinem Mann noch ein wenig Schlaf. Morgen könnt ihr zwei dann miteinander reden und du kannst voll und ganz für ihn da sein.“, flüsterte er und schob sie sanft aus dem Zimmer. Vor der Tür sprach sie dann die Schwester, die sie ins Zimmer geführt hatte, auf Französisch an.
„Sie sind also die unbekannte Lise.“, bemerkte sie. Mit krausgezogener Stirn bejahte Lise die Frage. Immerhin war Lise die Koseform ihres Namens, weshalb August sie auch stets damit ansprach. Noch einmal erklärte sie ihr, wie schwierig es gewesen war, sie ausfindig zu machen. Da bei dem Unfall alle Papiere und Unterlagen, die August bei sich getragen hatte im Wald und den Abhang hinab verstreut worden waren. Als sie endlich ihren Namen und Telefonnummer über Augusts Firma herausgefunden hatten, hatte keiner den Zusammenhang erkannt.
„Er hat sie gestern Abend gerufen, wissen Sie?“, sagte die Krankenschwester mit bedächtigem Ton. „Ihr Mann war noch nicht ganz wieder bei Sinnen. Das Einzige was über seine Lippen kam war Lise. Auch heute Morgen hat er niemanden an sich herangelassen. Immer wieder wollte er wissen, wo seine Lise ist und ob es ihr gut ging.“
Vor lauter Rührung und Mitleid für ihren Mann, der sich so alleingelassen in der Ferne gefühlt hatte und ihre Nähe gebraucht hätte, wurden ihre Knie weich. Sie ließ sich auf einen der Stühle im Flur sinken. Ihr August hätte sie gebraucht und sie hatte nicht für ihn da sein können. Obwohl sie es sich doch vor so kurzer Zeit noch geschworen hatten, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein. Ihr Bruder setzte sich zu ihr und legte den Arm um sie, als sie plötzlich in Tränen ausbrach und heftig schluchzte. Auf seine Frage, was denn mit ihr nicht stimmte und dass sie sich keine Sorgen mehr machen bräuchte, schließlich war ihr Mann nun in guten Händen, konnte Lise nicht antworten. Denn sie hatte nun begriffen, wieso ihr Telefon begonnen hatte zu vibrieren.
 

IDee

Mitglied
Telefon

Hallo,
mir hat die Story gut gefallen, obwohl sie den Anschein macht, dass sie im letzten Jahrtausend spielt.
Auch habe ich mich die ganze Zeit gefragt, warum Lise nicht einfach den Hörer abhebt?
Gut das alles zum Schluss geklärt wird.
Beste Grüße
IDee
 

NJSeifert

Mitglied
Hallo IDee,

der Text spielt tatsächlich im letzten Jahrhundert. Habe aber bewusst auf Jahreszahlen verzichtet. Danke für deine Anmerkung!

VG NJSeifert
 
Hallo NJSeifert,

schön und flüssig erzählt, richtig verständlich wird es aber erst, wenn man weiß, dass die Geschichte im letzten Jahrhundert spielt. Ansonsten denkt man spontan, warum die Leute denn keine Handys haben und diese Überlegung hat mich beim ersten Lesen von der eigentlichen Geschichte abgelenkt. Trotzdem gerne gelesen.

LG SilberneDelfine
 



 
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