Das Vorstellungsgespräch

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Ironbiber

Foren-Redakteur
Hurra! Ich habe meinen Job verloren. Ab sofort keine Zwangsrituale mehr von morgens früh bis spät in die Nacht. Keine Kollegen, die nervend und mobbend meine Lebenserwartung auf wenige Monate nach Rentenantritt begrenzen wollen, und keine Chefs, die täglich Leistungsexplosionen von mir erwarten und als Motivationshilfe nervende und mobbende Kollegen ins Rennen schicken.

Ich bin jetzt frei wie ein Vogel.

Mich unterscheidet von dem Vöglein lediglich, dass ich meine Nahrung käuflich erwerben muss:

„macht 51,38 – war alles in Ordnung? Sammeln Sie Punkte?“

Und dass ich eben halt nicht fliegen kann:

„25 Liter Superplus, 2 Marlboro und die Bildzeitung – macht 53,90 – bar oder mit Karte?“

Nebenbei bemerkt haben Vögel aber leider auch keine Lebens-Unfall-Hausrat-Haftpflicht- und Krankenversicherung oder irgendwelche Kredite am Laufen und auch keine Vermieter die sich für die Bereitstellung eines warmen Nestes fürstlich entlohnen lassen.

Was muss also her? Ein neuer Job – möglichst einfach, mit kreativen Elementen und nach Selbstverwirklichung lechzend. Treu nach dem Motto: „Ich bin mein eigener Chef bis zum Ruhestand“
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HAUSMEISTER GESUCHT
schöner Wohnkomplex mit internationalem Flair
in verkehrsberuhigter Lage bei ca. 30 Stunden die Woche
Hausverwaltung: Tel. 07xxx/xxxxxxxx
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Ich bin Hobbybastler und Power – Heimwerker. Auch habe ich schon mal ohne fremde Hilfe eine Lampe angeschlossen – also nix wie ran ans Telefon:
„Kommen sie morgen einfach mal vorbei – dann zeig ich Ihnen alles! Ist das Haus gleich neben dem Krematorium, das mit dem Hinterhof“

Ein Vorstellungsgespräch ist ein psychologischer Zweikampf, bei dem der Bewerber nur gewinnen kann, wenn er seine Potentiale dem Personalchef so geschickt schmackhaft macht, dass diesem die bewusst eingesetzte Manipulation nicht auffällt. Ein gewinnendes Äußeres, gepaart mit Kompetenz und angemessener, aber nicht aufdringlicher Bestimmtheit wirkt Wunder und öffnet Tür und Tor.

Ich also rein in die Nadelstreifen mit Seidenkrawatte und Business Schuhe. Facility Management ist mehr als schnöde Hausmeisterei. Es ist die Leitung einer kleinen aber feinen Wirtschaftseinheit mit den modernen Mitteln der Kommunikation und Datenhaltung zum Ziel, durch Effektivität den Mietparteien einen größtmöglichen Nutzen zu bescheren.

VW (Verwalter): „So Sie wollen hier einsteigen – haben sie wenigstens eigenes Werkzeug? Im Keller stehen Besen und ein Wischmopp – und wenn Sie noch was brauchen, können Sie mich ja anrufen.“

AS (Arbeitssuchender): „Ich denke, dass ich erst mal einen Organisations- und Budgetplan erstelle, die täglichen, wöchentlichen und monatlichen Aufgaben in einem Projektplan strukturiere und diesen dann der Allgemeinheit zugänglich mache. Das sorgt für größtmögliche Transparenz.
Danach möchte ich mich in einem Workshop den Mietparteien vorstellen und die Hausordnung zur Diskussion stellen. Auch könnte ich mir denken, dass in Folgeworkshops, als ständige Einrichtung natürlich, die Sorgen und Nöte der Bewohner durch Reflektion aufzuarbeiten wären.
Ich spreche perfekt Englisch und Französisch und habe das große Latinum. Wenn Interesse besteht, wäre ich durchaus auch bereit, interessierten Bewohnern Lesungen anzubieten. Beispielsweise die Metamorphosen von Ovid oder Cäsars „De Bello Gallico“. Wenn ich einen Bildungsbeitrag im Kleinen leisten könnte, wäre mir der stille Applaus reichlicher Lohn für meine Mühe“

VW: „Machen Sie was Sie wollen. Den Bello lassen Sie aber lieber daheim – die Bulgaren im Dritten haben einen Kampfhund. Der macht Hackfleisch aus Ihrem Köter! Deutsch spricht nur die alte Frau Krems im Parterre. Und die hört schon schlecht. Der Rest ist aus dem Osten. Fragen Sie einfach die Frau Öztürk im Zweiten, die war mal fünf Jahre in einer Fabrik und versteht, was Sie wollen. Der Typ Ihrer Schwester ist Rumäne und spricht auch ein bisschen Russisch. So mach ich‘s auch immer, da kommt man ganz gut durch die Gemeinde. Sonst wischen Sie halt einmal die Woche nass runter, sammeln den Dreck auf und achten drauf, dass die Lampen nicht dauernd kaputt sind und die Müllcontainer nicht überlaufen. Was haben Sie sich denn so kohlemäßig vorgestellt?“

AS: Mein bisheriges Jahressalary betrug 85.000 Euro bei etwa vierzig Wochenstunden – Ich wäre aber mit 50.000, zuzüglich Urlaubs- und Weihnachtsgeld bei dreißig Stunden zufrieden.“

VW: „ Sie kriegen siebenfuffzig die Stunde und Urlaub gibt’s zwischen Weihnachten und Neujahr und an den Feiertagen gerade genug. Nur zum Schneeschippen müssen Sie halt aufkreuzen. Schreiben Sie Ihre Stunden auf einen Zettel und geben Sie ihn mir am Ende. Die Kohle gibt’s bar auf die Kralle.“

AS: „Was ist mit Krankenversicherungsbeiträgen? Rentenversicherung? Arbeitslosenversicherung? Pflegeversicherung? Zuschüssen zu Bildungsmaßnahmen und Fahrtkosten? (Na gut ich sehe schon, dieser Job erfordert ein Höchstmaß an mentaler Flexibilität – und dafür war ich ja immer bekannt.)
Ich denke mal, wir können jetzt zur Vertragsunterzeichnung schreiten“

VW: „Jetzt machen Sie erst mal los. Und kein Kasperletheater mit Schriftlichem und so. Schreiten dürfen Sie auch jeden Tag – die Treppe rauf und runter. Pinseln Sie beim Schreiten gleich mal die Schmierereien im Flur mit Farbe zu“

Ja jetzt bin ich also mein eigener Herr und Chef und frei wie ein Vogel.
Apropos Vogel: Die Taubenscheiße auf dem verrotteten Geländer werde ich gleich nächste Woche mal abkratzen.
 
P

Pagina

Gast
Hallo Ironbiber@: ganz, ganz großes Kino.
Sitze ergriffen im Stuhl und will auch mal so schreiben wie du, wenn ich groß bin.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Schönen Dank für den Bonbon ...

... Es tut immer wieder gut wenn man den Leutchen ein Lächeln aufs Antlitz zaubern kann.
Ich darf Dir aber ganz im geheimen verraten (aber nicht weitererzählen!), dass die Story im meinem Leben so oder ähnlich schon passiert ist. Natürlich übertrieben und bis zur Unendlichkeit verfälscht (mein Jahressalary war nicht 85.000 im Jahr, sondern im halben Jahr :) - aber mit wahrem Kern.
Noch mals merci vielmals und Grüßle aus Oberschwaben ... ironbiber
 
P

Pagina

Gast
Dann darf ich dir auch mal ganz im Vertrauen erzählen, daß es mir gerade so ergeht: nach sieben Jahren Psychiatrie-Arbeit und Burnout habe ich mich selbst entlassen aus dem Hamsterrad und gedacht: das kann doch nicht alles gewesen sein..!
Mein lieber Scholli, das letzte Jahr unterwegs als "Vogelfreie" bei Bewerbungsgesprächen der ganz besonderen Art, habe ich viel Stoff für viele Satiren gesammelt...
 

AliasI

Mitglied
ich sach ja immer: eigener herr ist goldes wert...
ausgezeichnete story! vor allem der bello hat es mir angetan. :)
 

troubadour

Mitglied
Schöner Text, ich mag das Thema - dieses Gefühl von Freiheit, das manchmal in einem aufsteigt und einen beflügelt, bis man merkt, dass man doch sehr gebunden ist, dass einem lästige kleine Pflichten schon beim abheben die Flügel stutzen. Wahrscheinlich müssen wir geniessen, dass alles so sicher ist...

Verbesserungsvorschläge? - Nun zeigen ist besser als erklären, habe ich einmal irgendwo gelesen und ich kann dem zustimmen, sind doch Geschichten, in denen vor allem gehandelt wird, am interessantesten zu lesen. Tiefer eintauchen könnte man auch hier, was natürlich die Geschichte viel länger aber eben auch unmittelbarer machen würde. Aber ich weiss, gerade das ist sehr schwer und auch unter den gestandenen Schriftstellern können das nur wenige wirklich gut.
 



 
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