Dein Bild im Spiegel

Jaron

Mitglied
Dein Bild im Spiegel


Der klare Schein des Morgens
meißelt die scharfe Kontur deines
Ich
in Schneewittchens Kristall

[ 4]bin gebannt.


Der gleisende Schein des Zenits
Synergetische Einheit mit der vagen Kontur deines
Ich
in Fatamorganas Kristall

[ 4]bin geblendet.


Der fahle Schein der Dämmerung
weichzeichnet die laue Kontur deines
Ich
in Katarakts Kristall

[ 4]bin betrübt.


Der Schrein der Dunkelheit
Dein Bild ist untergegangen
Unzählige Kristallsplitter schweben
bedeutungslos im unendlichen Raum

Ich bin frei.
 

Lord Nelson

Mitglied
Hallo Jaron,

die Entwicklung der Bildschärfe (und natürlich auch der Gefühlswerte) im Kristallspiegel war recht erbaulich zu lesen. Wunderschöne Schlusszeilen, genial auch, wie das "ich" am Ende ganz beiläufig verrutscht ist.

Trotzdem noch zwei geringfügige Einwände:

- "gleißend" heißt das Wort!

- die Entwicklung vom Schein zum Schrein nehme ich gerne an. Allein, das Fehlen eines Adjektivs in der letzten Strophe empfand ich als Bruch der sonst stringent konstruierten Form (Absicht?) Auch war mir das "dein Bild ist untergegangen" etwas zu direkt - ginge das nicht etwas poetischer auszudrücken?

LG Lord Nelson
(tendenziell eher unpoetisch)
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Liebe Helga,

das ist (als Ganzes genommen) ein nicht ganz seltenes lyrisches Motiv: Das Ich sieht sich im Spiegel und zerschlägt ihn, um "frei" zu sein. Hendrix: "I used to live in a room full of mirrors, all I coud see was me, I ... clashed the mirrors, and a whole world slipped into the see"

Du wechselst zwischen einem lyrischen "Du", von dem es nicht ganz klar ist, ob es das "lyrische Ich" vertritt, wie oft üblich, denn Du springst zu den Strophenenden immer von jenem Du zum Ich zurück.
Wessen Bild im Spiegel meint also (schon) die Überschrift? Warum ist es nicht "Du, mein Spiegelbild"?
[ 4]Dein Bild im Spiegel

Der klare Schein des Morgens
meißelt die scharfe Kontur deines
Ich
in Schneewittchens Kristall

[ 4]bin gebannt.
Es ist eigentlich die böse Stiefmutter, die in den Spiegl schaut, nicht Schneewittchen.
Kühn, daß Licht und Bild sich in das Glas einmeißeln, denn für eine klare Spiegelung ist es typisch, daß Glas und Silberhintergrund selbst nicht sichtbar werden, in die Gestalt eingreifen oder gar vom Bild selbst gestaltet werden.

Der glei[red]ß[/red]ende Schein des Zenits
Synergetische Einheit mit der vagen Kontur deines
Ich
in Fatamorganas Kristall

[ 4]bin geblendet.
Man kann wissenschaftliche Gräzismen in ein Gedicht reinnehmen, auch wenn sie vielen als "unpoetisch" gelten, weil sie grau wie vertrocknete Druckerschwärze daherkommen. Oder, noch schlimmer: wenn sie modische Schlagwörter sind, wie diese "synergetische Einheit", schon die "Einheit" ist fast nichtssagend. Aber Du willst nicht graumalen, sonst hättest Du nicht den märchenhaften Kristall der "Fatamorgana" in die Strophenpointe gesetzt. Das klingt wiederum zu dick, und zugleich zu abstrakt in der überladenen präpositionalen Wendung - die dann auf einmal einen Satz anhängt "Ich bin geblendet", d.h. der Genetiv "deines Ich" ist auf einmal Nominativ, Subjekt.
Das war gewiß Absicht, aber es springt im Bild sehr hin und her, zwischen Zenit, Bildkontur und (eigentlich nicht sichtbarem) Kristall - den Leser packt der Schwindel.

Der fahle Schein der Dämmerung
weichzeichnet die laue Kontur deines
Ich
in Katarakts Kristall

[ 4]bin betrübt.
Die Wiederholung der enharmonischen Verwechslung von Genetivattribut und Satzsubjekt zeigt, daß diese Inkonzinnität Absicht ist.
"Katarakts Kristall" - die Wortwiederholung des Kristalls läßt sich gewiß vermeiden. Und was ist der Kristall eines Wasserfalls, einer Stromschnelle? Und "lau" sind solche hinabstürzenden Wasserwirbel kaum. Oder ist jetzt doch das Spiegelbild vom Reflexionsmedium getrennt, wie ich es oben vermißt habe? Aber was spiegelt sich schon in Katarakten?

Der Schrein der Dunkelheit
Dein Bild ist untergegangen
Unzählige Kristallsplitter schweben
bedeutungslos im unendlichen Raum

Ich bin frei.
Hier ist das "Ich" nicht mehr zuerst einmal Genetivattribut überbordender Adverbialia, sondern gleich Satzsubjekt. Weil es frei sein soll. Verstehe.
Bleibt gewiß die Frage, ob ein bewußtloses Ich 1. überhaupt ein Ich ist, da es sich nicht mehr als Selbstreflektion begreift, 2. überhaupt frei sein kann, da es unfähig wird, irgend etwas zu be-greifen, nicht einmal sich selbst.

grusz, hansz
 

Jaron

Mitglied
Dein Bild im Spiegel


Der klare Schein des Morgens
meißelt die scharfe Kontur deines
Ich
in Schneewittchens Kristall

[ 4]bin gebannt.


Der gleißende Schein des Zenits
Synergetische Einheit mit der vagen Kontur deines
Ich
in Fatamorganas Kristall

[ 4]bin geblendet.


Der fahle Schein der Dämmerung
weichzeichnet die laue Kontur deines
Ich
in Katarakts Kristall

[ 4]bin betrübt.


Der Schrein der Dunkelheit
Dein Bild ist untergegangen
Unzählige Kristallsplitter schweben
bedeutungslos im unendlichen Raum

Ich bin frei.
 

Jaron

Mitglied
Hallo Lord Nelson,

ich freue mich über deinen positiven Kommentar und darüber, dass du meine Absicht so deutlich beschreibst.

Ja genau, die Gefühlswerte (die Seele, das ICH, auch das Bewusstsein), sind hinter der Kontur im (Kristall)Spiegel gefangen, wobei die Kontur die Äußerlichkeiten und Eitelkeiten abbildet; der Spiegel steht für Konventionen, Zwänge, Grenzen.

Die Entwicklung der Bildschärfe bzw. die Veränderung der Kontur und deren Einfluss auf die Gefühle habe ich ja mit dem Lauf der Sonne beschrieben, daher auch "dein Bild ist untergegangen". So betrachtet finde ich das eigentlich recht poetisch?

Der Wandel der Bildschärfe ist letztendlich auch ein Synonym für den Lauf des Lebens (in der Kindheit werden wir geprägt; im Zenit müssen wir stark uns angepasst sein, wobei die Ideale und großen Gefühle häufig den Bach runtergehen / verschwimmen; im Alter sind wir nicht zuletzt deshalb, betrübt). Was bleibt ist aber der Glaube an eine Perspektive, daran, dass nicht alles in Sinnlosigkeit endet. Daher der Schrein, der am Ende den Spiegel verhüllt und der in fast allen Religionen eine positive religiöse Bedeutung hat (…nicht nur weil er so gut mit dem Schein harmoniert).

Für die letzte Strophe hatte ich tatsächlich zunächst eine Version mit Adjektiv im Kopf, um die stringente Form durchzuziehen. Aber ich habe es wieder einmal (ich bin da Wiederholungstäter) nicht geschafft, weil ich einfach Spaß am Bruch habe, und gerade weil hier am Ende die Befreiung steht, ist doch ein kleiner Bruch (mit der Konvention) erlaubt, was meinst du?

Liebe Grüße
Jaron

Übrigens: Das ß ist mir draußen, bei gleißendem Licht, als ich den Text ins Handy tippte,
wohl einfach entgleist,
habs korrekt eingespeist,
was mein stetes Bemühen beweist
:)
 

Jaron

Mitglied
Hallo Hans,

ich freue mich besonders, dass du dich mit meinem Text auseinandergesetzt hast, zumal du eine gewisse Mitverantwortung dafür trägst. Ja :), denn dein großartig zu lesender Leser hat mich inspiriert, zumindest, was die Grundidee (Ich=Du?) angeht.

Zu deinen Anmerkungen (wobei sich sicher einiges schon im Dialog mit Lord Nelson erklärt):
Es ist natürlich so, dass das Spiegelmotiv immer wieder gern genommen wird, aber eben immer in anderen Zusammenhängen. Jimi Hendrix sah nur sich im Spiegel; durch das Zerschlagen machte er den Blick auf die ganze Welt frei und konnte sich dadurch auf sein Ziel konzentrieren: "I am searching for my love to be". Das ICH in meinen Text sieht sich nicht im Spiegel, nur die Kontur, den Schein von sich selbst, mit dem es sich nicht identifizieren kann. Solange der Schein gewahrt bleibt, kann das ICH sich aber nicht von dem DU befreien. Da das ICH (Gefühle, Seele, Bewusstsein) eben nicht gespiegelt wird, habe ich als Titel "Dein Bild im Spiegel" gewählt.

Hinter Schneewittchens Kristall verbirgt sich der gläserne Sarg, in dem Schneewittchen (ICH, Gefühle, ...) scheintot gebannt ist. Ich finde schon, das Bild sieht aus, wie eingemeißelt, weil Schneewittchen ja unter der Scheibe liegt. Und das Ganze ist nur passiert, weil die Stiefmutter ihre Eitelkeit durch Befragung des Spiegels (Konventionen, Zwänge, ...) befriedigt hat.

Den Begriff synergetische Einheit fand ich ganz passend, da ein gleißender Lichtschein auf einem Spiegel das Bild etwas verschwommen aussehen lässt (ähnlich wie eine Fatamorgana); das Bild wirkt zusammen mit dem Licht, verschmilzt zu einer Einheit. Der Betrachter ist geblendet. Und Synergie ist ja auch nicht wirklich ein Modewort, inzwischen schon eher üblicher Sprachgebrauch. Aber um ehrlich zu sein, habe ich darüber auch nicht nachgedacht, auch nicht woher das Wort kommt (altgriechisch oder nicht), sondern nur wohin es führt. Das Zusammenspiel der Zeilen in der Strophe ist dieses: Das DU treibt den schönen Schein an die Spitze (Zenit), das Bild geht immer mehr unter darin, verschmilzt mit dem Schein, das ICH ist in dieser verschwommenen Scheinwelt (Fatamorganas Kristall) gefangen und geblendet von der Eitelkeit.

Ja, die Inkonzinnität, der nicht wechselnde Begriff des Kristalls, ist Absicht, da das Thema immer dasselbe ist, die Beleuchtung/Bildschärfe sich aber ändert/entwickelt und damit den Kristall anders wirken lässt; daher das wechselnde, an die Lichtverhältnisse angepasste Genitivattribut, was letztlich auch den Interpretationsspielraum erweitert.

Katarakts Kristall ist der trübe Kristall im Schein der Dämmerung. (Katarakt = Linsentrübung, den Wasserfall meinte ich nicht) Daher auch "Ich bin betrübt." Das ICH wird in der Dunkelheit, wenn der Schein nicht mehr wirken kann, das Bild (DU) nicht mehr sichtbar ist, der Spiegel verhüllt ist vom Schrein, endlich frei, das bewusste ICH kommt zum Vorschein, die inneren Werte entfalten sich, was den Spiegel sinnbildlich in unzählige Kristallsplitter zerspringen lässt.

…das waren so meine Gedanken, als ich schieb.

Liebe Grüße
Helga
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Mir gings, liebe Helga,

noch im Kopf rum, bevor ich mein Kommentarbienchen und auch Deine Antworten gesehen habe.

Und zwar des grammatischen Satzbruchs (der "Inkonzinnität") wegen.
Es ist wie ein Dimensionswechsel; man muß also einen anderen Hörer- (Leser-, Erwartungs-) Standpunkt einnehmen, um die "enharmonische Verwechslung" bzw. den Funktionen- oder Modulations-Wechsel mitzuvollziehen.

Das wäre in einem Hörspiel - und eigentlich sind alle Gedichte kleinräumliche, kurze Hörspiele oder Klangmusikstücke - ganz einfach:

Es wären zwei Stimmen, von denen die eine
Der klare Schein des Morgens
meißelt die scharfe Kontur deines
Ich
in Schneewittchens Kristall
sagt, und die andere:
Wie man es in einem zweistimmigen Notensatz untereinandersetzen würde, um die Sätze miteinander zu synchronisieren.

grusz, hansz
 

Lord Nelson

Mitglied
Hallo Jaron,

danke für deine ausführlichen Erklärungen. Die Gefühlswerte hinter den Bildern kann demnach also auch der lyrisch Unbewanderte erahnen. Nach deinen (und auch Mondneins) Erläuterungen gewinnt der Text noch an Brillianz. Hab ihn sicher nicht zum letzten Mal gelesen. Für mich wird aber der Katarakt (trotz deiner Erklärung und der dadurch stimmigeren Überleitung zum “betrübt”) der Wasserfall bleiben - des glitzernden Bildes wegen.

“Dein Bild ist untergegangen” ist gewiss nicht unpoetisch. Sorry, mein Eindruck war von mir nicht sehr präzise beschrieben. Beim Lesen blieb ich an diesem Satz eben hängen. Das Verschwinden des Bildes ging mir nach der vorausgegangenen, von mir als weiträumig empfundenen Entwicklung einfach etwas zu fix. Schnöde, irgendwie. Das war aber nur so ein flüchtiger Eindruck.

Gegen Brüche spricht natürlich nichts. Dieser (das fehlende Adjektiv) hatte mich ein klein wenig überrascht, so dass ich auf die Absicht dahinter neugierig war :)

Viele Grüße
Lord Nelson
 

Jaron

Mitglied
Lieber Hans,

danke für die zweistimmige Variante, die das Szenario verdeutlicht und die mir gut gefällt.
Trotzdem frage ich mich: warum auflösen? Es liegt doch nur ein Ton auf der Taste, der lediglich unterschiedliche Bezüge in dem ICH-DU – Motiv hat. (Die Auflösung der Bezüge geschieht im letzten Satz.) Ich finde eine wenig subtile Diskriminierung hier nicht konstruktiv.

Beste Grüße
Helga
 

Jaron

Mitglied
Hallo Lord Nelson,

es ist immer wieder schön, auf open minded people zu treffen – danke dafür.

Und weißt du, ich denke bei dem Katarakt auch an einen Wasserfall, (der sich wie ein Schleier über das Auge legt). Ist aber auch gar nicht so abwegig, denn die nicht ganz so lyrische Linsentrübung hat ihren (Katarakt)Ursprung ohnehin im Wasserfall.

Liebe Grüße
Jaron
 



 
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