Der 32. Dezember

KalterKaffee

Mitglied
Wer hält die Welt im Rahmen, wenn Zeit der Vergangenheit angehört? Alles hört an einem gewissen Punkt auf zu existieren. Nichts kann sich dem entziehen.

Zeit ist ein knappes Gut. Flüchtig, unscheinbar und dennoch wertvoller als Gold. Ich habe nie Gold besessen und ich würde beinahe dazu neigen dasselbe von Zeit zu behaupten. Schon immer hatte ich das Gefühl, dass die Minuten und Stunden an mir vorbeiflogen, ohne sich die Mühe zu machen, für mich anzuhalten. Doch ich habe mich daran gewöhnt. Ich fand mich damit ab morgens die Zeitung nur zur Hälfte zu lesen, kaltes Wasser auf meinen Tee zu schütten, um ihn schneller trinkbar zu machen und schnaufend an der Bahnhaltestelle anzukommen. Umsonst wie sich dann oft rausstellte. All das nur, um einen bösartig grinsenden Bahnfahrer zu beobachten, wie er mir freudig an der Nase vorbeifuhr, auf den Schienen in der Ferne verschwindend – und mit ihm meine Bahn. Ich würde nicht sagen, dass Zeit an sich grausam ist – aber wie wir damit umgehen. Dennoch bin ich ein ruhiger Mensch. Ich bin ein geduldiger Mensch. Ich bin ein Mensch, der so weit es geht die Kontrolle hat. Zumindest normalerweise. Bis zum 32. Dezember. Der Tag, an dem sich alles ändern sollte.

Der Tag begann wie jeder andere. Ich wachte auf, durchwühlte meinen Kleiderschrank nach einem halbwegs sauberen Kleidungsstück, stellte sicher, mich nicht des Colorblockings strafbar zu machen und sprintete ins Bad. Ich bin mir recht sicher, alle Morgende zusammen gezählt, auf diesem Weg mittlerweile eine geraume Strecke zurückgelegt zu haben. Ich kenne jede Fliese, jede Kante und jede Kurve aus dem Schlafzimmer, durch den Flur, um die Ecke und zum Badezimmereingang. Ich bin sie schon tausend Mal gelaufen und da meine Augen so früh nicht in der Lage sind mögliche Hindernisse auszumachen und rechtzeitig zu erkennen, ist die Kenntnis diese Weges eine Voraussetzung für einen schmerzfreien Morgen. Nach mehreren geprellten Zehen und einigen Stürzen, die durch Stühle verursacht worden waren, die ich am Abend zuvor nachlässiger Weise in genau diesen Weg gestellt hatte, wurde die Freihaltung der Strecke eine eiserne Regel. Eine Regel, die am 32. Dezember, rücksichtslos gebrochen wurde. Während ich am Höhepunkt meiner Geschwindigkeit durch den Hausflur spurtete, konnte mir unmöglich der kleine glänzende Gegenstand am Boden vor mir auffallen. Ich war voll und ganz auf meine Routine konzentriert und nicht in der Lage eine Abweichung jeglicher Art zu verarbeiten. Die Wände flogen an mir vorbei. Ich bewegte mich unausweichlich auf das Unbekannte am Boden zu. Ich kam immer näher und tat schließlich den entscheidenden Schritt. Die Begegnung raubte mir den Atem.

Als fünfzehn Minuten später der Krankenwagen bei mir ankam, war mein Bein taub und mein Gesicht eine starre Maske - vom Schmerz verzerrt. Ich ließ zwei Rettungshelfer ein und erzählte ihnen, kein Detail auslassend, von dem Vorfall. Mir erschien alles unglaublich wichtig und die Ablenkung durch Schmerzen, die langsam mein Bein hochkrochen, machte es schwer die Informationen strukturiert zu differenzieren. Die Gedanken schossen mir wild durch den Kopf und verließen ihn ebenso ungeordnet durch den Mund. Es war ein Redeschwall im wahrsten Sinne des Wortes. Mit jedem Satz sahen die Gesichter der beiden Rettungshelfer besorgter aus und als ich endlich das Gefühl hatte den Vorfall ausreichend geschildert zu haben meinte ich eine Spur von Belustigung in ihren Gesichtern erkennen zu können. Belustigung?! Wie unpassend. Ich verlor mehr und mehr Zeit, die ich besser nutzen sollte, um meinen Tagesplan nicht komplett aus der Bahn zu werfen und alles was meinen… Zeit! Ich hatte sie total vergessen. Das Wort fiel wie ein Schock über mich und meine Umgebung rastete mit einem Ruck aus.

Nach einer Weile öffnete einer der Männer den Mund und sprach.

Ich schreckte auf. Zwei Männer saßen vor mir. Beide hatten orangene Jacken und Hosen an, beide mit einem Rucksack ausgestattet. Wie waren sie in mein Haus gekommen? Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich versuchte zu verstehen, was der eine zu mir sagte. Keins seiner Worte kam bei mir an. Der Mann streckte seine Hand nach meinem Bein aus und ich schreckte zurück.
Mein Körper bewegte sich nicht von der Stelle. Ich versuchte meinen Arm zu heben – vergeblich. Mein Bein – keine Regung. Verzweiflung stieg in mir auf. Ich wollte mich an die beiden Männer wenden, vergessen war die Frage, wie sie in mein Haus gekommen waren. Alles was ich wollte war Rettung! Rettung, um aus der starren Hülle meines Körpers befreit zu werden. Rettung, um zu meinen Aufgaben zurückkehren zu können - ich musste schon um mehrere Stunden zurück hängen. Mehr Arbeit am Wochenende! Ich konnte es nicht zulassen. Die Verschiebung würde alles durcheinander bringen! Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf die sich bewegenden Münder vor mir. Trotz meiner Anstrengung, war es nicht mehr als ein Flüstern, was zu mir durchdrang. Verzehrt und undeutlich, als wäre es durch Wasser gesprochen worden: „… in eine normale Scherbe getreten … zum Krankenhaus mitnehmen … völlig weggetreten …“

Die beiden Rettungshelfer redeten heftig aufeinander ein. Zwischendurch warfen sie mir Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Ich wusste tief in mir, was sie zu sagen hatten, doch all das wurde von einem Gefühl der Panik überlagert. Ich durfte nicht noch länger untätig rumsitzen. Mein Tag war straff geplant gewesen. Ich hatte keine Verzögerungen vorgesehen. Die Verzweiflung schien mich wie eine Welle zu überrollen. Alle Ruhe, die ich je in mir verspürt hatte, brach auf und darunter lag nichts als Verwirrung und Leere. Sie stieg aus meinem Bauch auf und war das einzige, was sich noch zu bewegen schien. An meinem Brustkorb vorbei schob sie sich, wie ein Stein meinen Hals hinauf und füllte schließlich meinen Kopf. Die Leere unterdrückte alles! Sie löste das Gewirr meiner Gedanken und ersetzte es durch eine stille Frage: Wie sollte ich die verlorene Zeit je wieder einholen?
Ich nahm weder die beiden Rettungshelfer wahr, die aufgestanden waren, um mich hochzuheben, noch den Raum in dem ich saß. Mein Blickfeld war verschwommen, bis auf ein Detail, dass fokussiert blieb. Das zerbrochene Glas meiner Wanduhr im Flur.

Ich erreichte alles, was ich mir gewünscht hatte und verlor gleichzeitig mehr, als ich mir je hätte träumen können. Die Zeit um mich herum blieb stehen – doch ich erstarrte mit ihr.
 
U

USch

Gast
Hallo KalterKaffee,
ein sehr origineller Text, den ich gern gelesen habe. Du solltest ihn noch mal auf Kommata überprüfen. Es fehlen ziemlich viele.
LG USch
 

KalterKaffee

Mitglied
Wer hält die Welt im Rahmen, wenn Zeit der Vergangenheit angehört? Alles, hört an einem gewissen Punkt auf zu existieren. Nichts kann sich dem entziehen.

Zeit ist ein knappes Gut. Flüchtig, unscheinbar und dennoch wertvoller als Gold. Ich habe nie Gold besessen und ich würde beinahe dazu neigen, dasselbe von Zeit zu behaupten. Schon immer hatte ich das Gefühl, dass die Minuten und Stunden an mir vorbeiflogen, ohne sich die Mühe zu machen, für mich anzuhalten. Doch ich habe mich daran gewöhnt. Ich fand mich damit ab, morgens die Zeitung nur zur Hälfte zu lesen, kaltes Wasser auf meinen Tee zu schütten, um ihn schneller trinkbar zu machen und schnaufend an der Bahnhaltestelle anzukommen. Umsonst, wie sich dann oft rausstellte. All das nur, um einen bösartig grinsenden Bahnfahrer zu beobachten, wie er mir freudig an der Nase vorbeifuhr, auf den Schienen in der Ferne verschwindend – und mit ihm meine Bahn. Ich würde nicht sagen, dass Zeit an sich grausam ist – aber wie wir damit umgehen. Dennoch bin ich ein ruhiger Mensch. Ich bin ein geduldiger Mensch. Ich bin ein Mensch, der so weit es geht die Kontrolle behält. Zumindest normalerweise. Bis zum 32. Dezember. Der Tag, an dem sich alles ändern sollte.

Der Tag begann wie jeder andere. Ich wachte auf, durchwühlte meinen Kleiderschrank nach einem halbwegs sauberen Kleidungsstück, stellte sicher, mich nicht des Colorblockings strafbar zu machen und sprintete ins Bad. Ich bin mir recht sicher, alle Morgende zusammen gezählt, auf diesem Weg mittlerweile eine geraume Strecke zurückgelegt zu haben. Ich kenne jede Fliese, jede Kante und jede Kurve aus dem Schlafzimmer, durch den Flur, um die Ecke und zum Badezimmereingang. Ich bin sie schon tausend Mal gelaufen und da meine Augen so früh nicht in der Lage sind mögliche Hindernisse auszumachen und rechtzeitig zu erkennen, ist die Kenntnis diese Weges eine Voraussetzung für einen schmerzfreien Morgen. Nach mehreren geprellten Zehen und einigen Stürzen, die durch Stühle verursacht worden waren, die ich am Abend zuvor nachlässiger Weise in genau diesen Weg gestellt hatte, wurde die Freihaltung der Strecke eine eiserne Regel. Eine Regel, die am 32. Dezember, rücksichtslos gebrochen wurde. Während ich am Höhepunkt meiner Geschwindigkeit durch den Hausflur spurtete, konnte mir unmöglich der kleine glänzende Gegenstand am Boden vor mir auffallen. Ich war voll und ganz auf meine Routine konzentriert und nicht in der Lage, eine Abweichung jeglicher Art zu verarbeiten. Die Wände flogen an mir vorbei. Ich bewegte mich unausweichlich auf das Unbekannte am Boden zu. Ich kam immer näher und tat schließlich den entscheidenden Schritt. Die Begegnung raubte mir den Atem.

Als fünfzehn Minuten später der Krankenwagen bei mir ankam, war mein Bein taub und mein Gesicht eine starre Maske - vom Schmerz verzerrt. Ich ließ zwei Rettungshelfer ein und erzählte ihnen, kein Detail auslassend, von dem Vorfall. Mir erschien alles unglaublich wichtig und die Ablenkung durch Schmerzen, die langsam mein Bein hochkrochen, machte es schwer die Informationen strukturiert zu differenzieren. Die Gedanken schossen mir wild durch den Kopf und verließen ihn, ebenso ungeordnet, durch den Mund. Es war ein Redeschwall im wahrsten Sinne des Wortes. Mit jedem Satz sahen die Gesichter der beiden Rettungshelfer besorgter aus und als ich endlich das Gefühl hatte den Vorfall ausreichend geschildert zu haben, meinte ich eine Spur von Belustigung in ihren Gesichtern erkennen zu können. Belustigung?! Wie unpassend. Ich verlor mehr und mehr Zeit, die ich besser nutzen sollte, um meinen Tagesplan nicht komplett aus der Bahn zu werfen und alles was meinen… Zeit! Ich hatte sie total vergessen. Das Wort fiel wie ein Schock über mich und meine Umgebung rastete mit einem Ruck aus.

Nach einer Weile öffnete einer der Männer den Mund und sprach.

Ich schreckte auf. Zwei Männer saßen vor mir. Beide hatten orangene Jacken und Hosen an, beide mit einem Rucksack ausgestattet. Wie waren sie in mein Haus gekommen? Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich versuchte zu verstehen, was der eine zu mir sagte. Keins seiner Worte kam bei mir an. Der Mann streckte seine Hand nach meinem Bein aus und ich schreckte zurück.
Mein Körper bewegte sich nicht von der Stelle. Ich versuchte meinen Arm zu heben – vergeblich. Mein Bein – keine Regung. Verzweiflung stieg in mir auf. Ich wollte mich an die beiden Männer wenden, vergessen war die Frage, wie sie in mein Haus gekommen waren. Alles, was ich wollte war Rettung! Rettung, um aus der starren Hülle meines Körpers befreit zu werden. Rettung, um zu meinen Aufgaben zurückkehren zu können - ich musste schon um mehrere Stunden zurück hängen. Mehr Arbeit am Wochenende! Ich konnte es nicht zulassen. Die Verschiebung würde alles durcheinander bringen! Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf die sich bewegenden Münder vor mir. Trotz meiner Anstrengung, war es nicht mehr als ein Flüstern, was zu mir durchdrang. Verzehrt und undeutlich, als wäre es durch Wasser gesprochen worden: „… in eine normale Scherbe getreten … zum Krankenhaus mitnehmen … völlig weggetreten …“

Die beiden Rettungshelfer redeten heftig aufeinander ein. Zwischendurch warfen sie mir Blicke zu, die ich nicht deuten konnte. Ich wusste tief in mir, was sie zu sagen hatten, doch all das wurde von einem Gefühl der Panik überlagert. Ich durfte nicht noch länger untätig rumsitzen. Mein Tag war straff geplant gewesen. Ich hatte keine Verzögerungen vorgesehen. Die Verzweiflung überrollte mich wie eine Welle. Alle Ruhe, die ich je in mir verspürt hatte, brach auf und darunter lag nichts, als Verwirrung und Leere. Sie stieg aus meinem Bauch auf und war das einzige, was sich noch zu bewegen schien. An meinem Brustkorb vorbei schob sie sich, wie ein Stein meinen Hals hinauf und füllte schließlich meinen Kopf. Die Leere unterdrückte alles! Sie löste das Gewirr meiner Gedanken und ersetzte es durch eine stille Frage: Wie sollte ich die verlorene Zeit je wieder einholen?
Ich nahm weder die beiden Rettungshelfer wahr, die aufgestanden waren, um mich hochzuheben, noch den Raum in dem ich saß. Mein Blickfeld war verschwommen, bis auf ein Detail, dass fokussiert blieb. Das zerbrochene Glas meiner Wanduhr im Flur.

Ich erreichte alles, was ich mir gewünscht hatte und verlor gleichzeitig mehr, als ich mir je hätte träumen können. Die Zeit um mich herum blieb stehen – doch ich erstarrte mit ihr.
 



 
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