Der Dirigent und der Engel

Der Dirigent und der Engel

„Was macht der Mann da?“ Fragend blickte das kleine Mädchen seine Mutter an, während es gleichzeitig durch die krummen Latten eines maroden Gartenzaunes deutete.
„Keine Ahnung!“, antwortete die Mutter, doch dann besann sie sich eines Besseren, wusste sie doch zu gut, dass ihre Tochter sich mit dieser Phrase keineswegs zufrieden geben würde.
„Er dirigiert! Wahrscheinlich ist er Dirigent!“
Die Kleine zog die Nase kraus. „Was ist ein Dirigent?“
Die Mutter seufzte. Laut einer Studie stellten kleine Kinder bis zu 400 Fragen am Tag, doch ihre Tochter übertraf diese Schätzung sicherlich spielend.
„Ein Dirigent“, mischte sich da eine Frauenstimme in das Gespräch ein, „ist praktisch der Chef von einem Orchester, also von ganz vielen Musikern! Damit nicht alle durcheinander spielen, muss ihnen jemand zeigen, wann sie beginnen und aufhören, wann sie lauter oder leiser werden sollen.“
„Dankeschön!“, lächelte die Mutter und betrachtete die andere Frau. Sie trug ein wadenlanges, weißes Sommerkleid mit bunten Streublümchen, die nackten Füße steckten in dunkelgrünen, abgetragenen Gartenclogs und die goldenen, seidig glänzenden Haare fielen ihr wie ein Wasserfall über die Schultern.
„Bist du ein Engel“, wollte das Mädchen wissen und sprach damit die Gedanken ihrer Mutter aus, „Ich habe nämlich schon einmal einen gesehen, und du siehst genau aus. Naja, bis auf die Schuhe. Engel sind immer barfuß!“
„Ja, vielleicht bin ich einer! Wer weiß!“ Das engelhafte Wesen lächelte lieblich und obwohl die Mutter keineswegs an übersinnliche Wesen glaubte, so war sie dennoch nicht abgeneigt, dieser Person den Engelstatus zuzugestehen. „Sie entschuldigen mich“, unterbrach die Frau, „ich muss mich um meinen Dirigenten kümmern! Er würde sonst glatt das Essen und Trinken vergessen!“
„Warum hört man denn gar nichts und wo sind die Musiker?“, hakte das Mädchen neugierig nach.
„Du siehst doch, dass er Kopfhörer aufhat“, erklärte die Mutter, „er übt! Das Orchester hört er nur!“
„Ja, aber ...“ Angestrengt runzelte die Kleine die Stirn. „Wenn er der Chef ist, aber keiner sieht ihm, das ist doch doof!“
„Weißt du mein Schatz, es gibt Dinge, die lassen sich nicht so einfach erklären und das klingt dann ein bisschen verrückt.“
„Das ist der richtige Ausdruck!“, nickte der Engel mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck.
„Wie bitte?“ Fragend blickte die Mutter die andere Frau und schluckte. „Sie meinen ...!“
„Ja, leider!“ Sie senkte die Stimme bis zu einem Flüstern, so dass die Mutter sich etwas vorbeugen musste, um sie zu verstehen. „Doch wenn es ihn glücklich macht? Warum sollte ich dann etwas ändern wollen? Er ist der sanftmütigste Mensch, den ich kenne, er könnte keiner Fliege etwas zu leide tun, ganz egal, was die Leute sagen!“
„Was sagen die Leute?“, hätte die Mutter am liebsten gefragt, doch sie beherrschte sich, obgleich sie gerne erfahren hätte, auf welches Gerede sie sich bezog.
„Darf ich mal schaukeln?“ Das Mädchen deutete auf einen mächtigen Apfelbaum, an dessen unterstem Ast eine Schaukel hing.
„Wenn du möchtest“, nickte der Engel lächelnd und öffnete das hölzerne Gartentor. Sie machte eine einladende Geste. Das Mädchen versicherte sich der Zustimmung seiner Mutter, dann eroberte es begeistert die Schaukel. Misstrauisch beäugte die Mutter den Ast, doch der Engel beruhigte sie.
„Es ist ein sehr kräftiger Ast!“
„Hast du auch Kinder?“, rief die Kleine, ohne zu unterbrechen.
„Nein“, antwortete der Dirigent, der in diesem Augenblick unbemerkt hinter sie getreten war, „wir hatten einmal ein Mädchen, aber leider lebt sie nicht mehr!“
„Das ist aber schade! Da seid ihr bestimmt ganz doll traurig!“ Eine Feststellung, keine Frage! „Meine Eltern wären auch sehr, sehr traurig, wenn ich tot wäre!“ Mit ernstem Blick musterte das Mädchen die Erwachsenen, dann lächelte es. „Aber Gott-sei-Dank lebe ich ja!“
„Entschuldigen Sie bitte!“, stammelte die Mutter. Die ganze Situation war ihr sichtlich unangenehm.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen!“ Seine dunklen Augen erschienen wie schwarze Kohlestückchen und mit dem zerzausten Haar und den scharf geschnitten Gesichtszügen erinnerte er sie an Rasputin. Kein Wunder, brachte sich da das kleine Mädchen hinter den mütterlichen Beinen in Sicherheit. Wie er so dastand, den Blick, aus dem fast greifbare Trauer und Schmerz sprachen, fest auf die Schaukel gerichtet, empfand die Mutter unendliches Mitleid mit ihm.
„Hast du keinen Hunger? Also ich schon!“, wandte er sich an den Engel, bedachte Mutter und Tochter mit einem kurzen Kopfnicken und humpelte in Richtung Terrasse.
Die Kleine zupfte an dem weißen Gewand. „Dein Dirigent geht komisch. Tut dem das Bein weh?“
„Ein Unfall als Kind!“, nickte der Engel, mit einer Mischung aus Mitgefühl und Anteilnahme, und sah nun ebenfalls dem hinkenden Mann hinterher, der sich wieder auf seinem Stuhl niederließ, erneut die Kopfhörer aufsetzte, den Taktstock aufnahm und sein imaginäres Orchester dirigierte. „Ich muss ihm aber nun wirklich etwas zu essen machen!“, sagte sie sanft, geleitete die Gäste zum Gartentor und verabschiedete sich freundlich.
Die Mutter war sich sicher, einem Engel der Barmherzigkeit begegnet zu sein - jedenfalls bis sie einige Wochen später abermals an dem Haus vorbeikam.

Doch diesmal saß niemand auf der Terrasse und lenkte unsichtbare Musiker, die herunter gelassenen Rollläden zeugten von der Abwesenheit seiner Bewohner und sogar das Unkraut begann sich bereits großflächig auszubreiten, da die gärtnernden Hände fehlten.
Nachdenklich nahm sie all die kleinen Details wahr, als eine freundliche Stimme sie ansprach. „Traurig, nicht wahr?“
„Wie bitte?“ Verwirrt drehte sie sich um und stand einer alten Frau in hellblauer Kittelschürze gegenüber.
„Na, er ist doch gestorben!“
„Der Dirigent ist tot?“ Ungläubig starrte sie ihr kleines, molliges Gegenüber an.
„Ja, ja!“, nickte die Frau und es schien ihr wirklich leid zu tun, „Erst das Kind und nun der Mann! Dabei war der Herr Valerius so ein netter Mensch, auch wenn er ein bisschen merkwürdig aussah. Herzensgut sage ich ihnen! Und mit welch einer Hingabe er sich um seine kranke Frau gekümmert hat! So einen findet man nicht gleich wieder! Ich wohne direkt nebenan, ich muss es ja wissen!“
„Der Engel ist krank?“, entfuhr es der Mutter.
„Oh ja!“ Die Nachbarin warf dem verlassenen Haus einen grimmigen Blick zu. „Allerdings würde ich sie nicht als Engel bezeichnen - höchstens als Todesengel!“
„Sie meinen ...!“ So ungeheuerlich war der Gedanke, dass sie nicht wagte ihn auszusprechen.
„Allerdings! Das meine ich! Aber leider wollte ja niemand hören, dass die Frau ärztliche Hilfe benötigt.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Sie kam mir so - so mitfühlend vor!“, versuchte die Mutter den Engel zu verteidigen.
„Nur ging das Mitgefühl so weit, dass sie dachte, andere von ihrem Elend erlösen zu müssen! Erst die Kleine, noch keine vier Jahre alt, ein süßes Ding, doch leider hatte sie Muska - ach, ich kann mir Fremdwörter so schlecht merken - irgendeine Krankheit mit der Lunge.“
„Mukoviszidose!“
„Genau, sag’ ich doch!“
„Haben Sie Ihren Verdacht der Polizei mitgeteilt?“
„Natürlich! Aber der Beamte meinte, ich solle aufpassen, solche haltlosen Gerüchte in die Welt zu setzen. Da könnte ich ganz schnell eine Anzeige wegen Verleumdung oder so bekommen.“ Empört stemmte sie die dicklichen Finger in die nicht vorhandene Taille. „Die können sagen was sie wollen - jetzt hat sie auch noch ihren Mann auf dem Gewissen!“
„Und wo ist der Engel, ich meine, seine Frau nun?“
„Keine Ahnung! Hoffentlich weggesperrt!“, schnaubte sie Nachbarin und die Mutter beschlich das Gefühl, als ob die andere die ganze Situation durchaus genoss. „Ich muss dann mal, habe schließlich meine Zeit nicht gestohlen!“
Sprach’s, drehte sich um und verschwand eilig mit tippelnden Schritten in ihrem Haus.
Perplex schaute die Mutter ihr nach und wollte sich eben selbst zum Gehen wenden, als ihr ein Stück einer alten Zeitung vor die Füße flatterte.
„Mysteriöser Unfall! Valerius und seine Frau mit Auto verunglückt! In der Nacht vom 23. auf den 24. kam der Wagen des berühmten Dirigenten auf gerader Strecke ins Schleudern und prallte frontal gegen einen Baum. Das Ehepaar erlag noch an der Unfallstelle seinen schweren Verletzungen. Fremdverschulden sei ausgeschlossen, erklärte der Beamte vor Ort! Die Beerdigung findet ...“
Erschüttert ließ sie das Papier fallen, wo eine Windbö es sofort erfasst und mit sich riss.
Grau-schwarz-violettfarbene Wolkentürme, die inzwischen bedrohlich den noch kurz zuvor sommerlich, blauen Himmel bedeckten, verkündeten die baldige Ankunft eines Gewitters. Der immer stärker werdende Wind zerrte heftig an ihrem Rock und so entfernte sie sich eilig, um möglichst trocken ihr Ziel zu erreichen. Gerade als sie die Türe hinter sich schloss, öffnete der Himmel seine Schleusen.
„Der Himmel weint!“, kommentierte ihre Tochter das Unwetter.
„Warum sollte der Himmel denn weinen?“
„Weiß nicht.“ Die Kleine zuckte mit den Schultern, „Vielleicht, weil jemand gestorben ist! Das wäre doch sehr traurig!“
„Ja, da hast du recht!“, stimmte die Mutter zu.
„Dann gibt es jetzt einen Engel mehr im Himmel!“
„Und“, flüsterte die Mutter so leise, dass ihre Tochter sie nicht hören konnte, „auch einen Dirigenten!“.
 



 
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