Der Druck steigt

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SiggiH

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Es ist nicht besonders viel Verkehr auf der Autobahn, weshalb ich es wage, trotz dichtem Nebel, recht zügig zu fahren. Wenn ich die Geschwindigkeit weiterhin bei 100 km/h beibehalte, werde ich in ca. drei Stunden bei ihm sein. Ich zerspringe schon fast vor Vorfreude.
Die Sichtweite beträgt vielleicht noch 50 m, aber das ist kein Problem, mein Navi wird mir ja rechtzeitig melden, wenn ich abfahren muss. Nur der Radioempfang macht mir zu schaffen - ständig diese Störgeräusche. Ich drehe genervt am Regler. Man müsste doch schon längst Bayern 3 rein bekommen. Endlich - ich höre Bruno Mars - aber ich bekomme einfach keinen klaren Empfang. Leider ist mein Auto nicht das jüngste. Hab keinen CD-Player, nur ein Kassettendeck. Und die einzigen zwei Kassetten, die ich noch besitze sind "Bad Religion" und "Sex Pistols" beides nicht unbedingt die passende Einstimmung, wenn man unterwegs zu seinem Geliebten ist...
Noch einmal versuche ich mein Glück mit dem Sendersuchlauf - und plötzlich sehe ich aus den Augenwinkeln rotes Licht.
Verdammt das sind Bremslichter! Sofort drücke ich das Bremspedal durch und merke wie ich ins Schlittern komme. Ich höre die Stimme meines Vaters in meinem Kopf: "Auch wenn es nicht nach Glatteis ausschaut - auf Brücken muss man immer mit Glätte rechnen."
Ich hasse es, wenn mein Papa Recht hat. Ich reiße das Lenkrad nach rechts, um auf den Pannenstreifen auszuweichen, aber - oh weh, der ist bereits besetzt. Jetzt sehe ich die anderen Lichter: blinkende Warnleuchten und rotierendes Blaulicht. Oh nein, ich krache gerade voll in einen Unfall!
Weiter nach rechts!
Es kracht und quietscht! Mercedes contra Leitplanke! Wer ist stärker?
Die Leitplanke gibt immer mehr nach, aber letztendlich kommt mein Auto endlich zum Stehen. Meine Hände umklammern verkrampf das Lenkrad und die Fingerknöchel stehen weiß hervor. Ich versuche meine Atmung wieder in den Griff zu bekommen. Einatmen - ausatmen - ein - aus...
Beim nächsten Einatmen werde ich durch ein grelles Licht geblendet. Riesige Scheinwerfer reflektieren sich in meinem Rückspiegel. Das kann doch nur ein böser Traum sein. Aber dann spüre ich den Stoß. Die malträtierte Leitplanke gibt ihren Widerstand nun komplett auf, und für den Lkw ist es ein Leichtes, mich von der Brücke zu schubsen. Ich spüre in meinen Eingeweiden wie es abwärts geht. Eine Textpassage aus einem Lied geht mir durch den Kopf:
"Auf dem Weg zum Himmel spiel'n sie einen Fahrstuhlsong,
auf dem Weg zu Hölle spielen sie was von Alice Cooper..."
Ich rechne schon damit, im Radio jetzt den kreischenden Gesang von Alice Cooper zu hören, denn dieser Sturz kann ja nur direkt in die Hölle führen.
Dann der Aufprall - es macht Platsch!
Wasser - ein Fluss?
Ich glaube, es ist höchste Zeit, auszusteigen. Aber die Türe lässt sich nicht öffnen.
Panik - ja, langsam steigert sich mein Unwohlsein in extremes Unbehagen.
Und jetzt bekomme ich auch noch nasse Füße.
Nasse Füße?!!!
Wasser - mein Auto füllt sich mit Wasser!
Und dann?
Dann werde ich untergehen! Ich will aber nicht ertrinken!
Die Beifahrertür! ich muss durch die Beifahrertür aussteigen. Ich zerre an meinem Sicherheitsgurt.
Okay - ganz cool! Hektik bringt mich jetzt nicht weiter! Ich drücke den Entriegelungsknopf und streife den Gurt ab. Dann rutsche ich auf den Beifahrersitz und versuche mein Glück, aber auch dort gibt es kein Entkommen für mich.
Außerdem bemerke ich jetzt mit Entsetzen, dass das gesamte Auto von Wasser umgeben ist!
Ich bin UNTER Wasser!
Auch das Wageninnere füllt sich immer schneller mit der eiskalten Flüssigkeit.
Die Fenster! Ich kann durch ein Fenster entkommen!
Hektisch drücke ich den Knopf des elektrischen Fensterhebers - und: Nichts!
Ich verfluche die moderne Elektronik meines Autos! Ich versuche es mit allen Knöpfen, aber kein Fenster öffnet sich! In meinem alten Auto hatte ich wenigstens hinten noch Fenster zum herunterkurbeln, aber hier ist alles elektronisch gesteuert. Da fällt mir auf: Wieso hat sich eigentlich dieser bescheuerte Airbag nicht geöffnet? Vielleicht sollte ich Mercedes verklagen?
Inzwischen steht mir das Wasser schon bis unter der Brust.
Kälte hat von jedem Zentimeter meines Körpers Besitz ergriffen, und ich registriere, dass er unkontrolliert zittert. Außerdem laufen mir Tränen die Wangen hinunter - als wenn es nicht schon nass genug wäre! Und tatsächlich muss ich schon einen langen Hals machen, damit sich der Kopf über der Wasseroberfläche befindet.
Wie lang noch, bis das Wasser die letzte Luft zum Atmen verdrängt? Ein, zwei Minuten?
Vielleicht lässt sich die Scheibe einschlagen? Ich brauche einen harten Gegenstand! Der Eiskratzer? Die Parkscheibe? Mein Handy! Genau, das IPhone muss irgendwo in der Mittelkonsole liegen. Ich taste danach, aber spüre nichts.
Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als danach zu tauchen.
Hoffentlich werden dabei meine Kontaktlinsen nicht heraus geschwemmt.
Ein sarkastisches Lachen ertönt in meinem Hinterkopf - als ob das jetzt mein größtes Problem wäre...
Ich atme noch einmal tief ein, halte mir die Nase zu und tauche in das Wasser unter, dessen Temperatur nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen kann. Ich bin keine sonderlich gute Schwimmerin, um ehrlich zu sein, mag ich nicht gern im Wasser sein, das ist einfach nicht mein Element. Als Kind wurde ich immer ausgelacht, wenn ich mir beim Tauchen die Nase zu gehalten habe, aber wenn ich das unterlasse, dringt sofort Wasser ein.
Es ist dunkel, aber endlich sehe ich mein Handy. Ich schnappe es und schnelle nach oben.
Ich stoße mit dem Kopf am Autodach an, und registriere entsetzt, dass das komplette Auto jetzt mit Wasser gefüllt ist. Prüfend drehe ich den Kopf zur Seite und presse den Mund ganz nach oben, aber da ist nur noch Wasser, das auch schon längst den Weg in meine Nase, die ich vor Schreck losgelassen habe, gefunden hat.
Jetzt breitet sich Panik in meinem Kopf aus. Meine Haare die scheinbar schwerelos um mich herum schweben nehmen mir die Sicht. Ich beginne die Orientierung zu verlieren.
Verdammt, reiß dich zusammen!
Verkrampft klammere ich mich an meinem Handy fest. Ich versuche meinen Plan in die Tat umzusetzen, taste mich weiter nach rechts bis ich die glatte Oberfläche des Fensters spüre. Dann hämmere ich mit der Kante des stabilen Apple-Produkts darauf ein. Zumindest versuche ich es, aber meine Bewegungen sind wie in Zeitlupe. Der Widerstand des Wassers ist zu groß - und ich zu schwach. Auch bekomme ich langsam Schmerzen in der Brust, und das Denken fällt mir schwer.
Wie lange ist mein letzter Atemzug schon her?
Wie viel Zeit bleibt mir noch? Eine Minute?
Als Kind habe ich mit meiner Mutter immer ein Spiel gespielt, wenn wir auf was warten mussten. Je nachdem wie lang die zu erwartende Wartezeit war, haben wir uns überlegt, was man in dieser Zeitspanne alles machen könnte. Es ging dann runter bis zu einer Minute. Da kamen dann Vorschläge wie:
In einer Minute kann man sich ein Nutellabrot streichen.
Eine Minute braucht man, um aufs Klo zu gehen.
Mehr fällt mir jetzt nicht ein. Ich frage mich sowieso, wie ich ausgerechnet jetzt darauf komme. Aber um ehrlich zu sein, beruhigt es mich ein wenig.
Der Druck in meiner Brust ist langsam unerträglich.
Gleich wird mein Körper, versuchen sich mit Sauerstoff zu versorgen.
Und ich werde den letzten unvermeidlichen Atemzug nicht verhindern können.
Ich schätze, mir bleiben noch 30 Sekunden.
Was kann man in 30 Sekunden Schönes erleben?
Ein Lächeln macht sich in meinem Gesicht breit...
Ja, ein Kuss!
Ein intensiver Kuss - Ausdruck von kompromissloser Liebe und inniger Zuneigung.
Ich schließe meine Augen und erinnere mich an unseren letzten Kuss - dann atme ich tief ein...
 



 
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