Der Gullydeckel

casagrande

Mitglied
Der Gullydeckel


Seit einigen Jahren hatte ich Gullydeckel aus den verschiedensten Orten abgedruckt. Eine Ausstellungen stand bevor und darum zögerte ich nicht, als sich die Gelegenheit bot, nach Nigeria zu reisen, um dort neue Objekte zu drucken.
Vor dem Bahnhofsgebäude, dort, wo eigentlich der Haupteingang ist, der aber nur zu einem versperrten kleinen Vorplatz führt, hinter dem dann die Zufahrtsstraße mit einem Markttreiben ist, dort finde ich einen Kanaldeckel. Den ersten in Lagos. Es gibt so gut wie keine Gully hier. Eine Patronenhülse gleich daneben, ein ungewöhnlicher Fund, so mitten in der Stadt.
Als ich mein Equipment auspacke, Papier und Druckerfarbe und Druckerrolle, sammeln sich schon die ersten Interessierten. Bis ich mit meiner Arbeit fertig bin ist es ungewöhnlich ruhig. Man verfolgt gespannt, was da wohl heraus kommt. Es hängen sicher mehr als sechzig oder siebzig Leute an dem Absperrgitter um etwas zu sehen. Ich bin stark an Berichte über die englischen Royals erinnert.
Noch zu sagen, der Kanaldeckel ist kein lokales Erzeugnis, wahrscheinlich in den fünfziger Jahren, als der Bahnhof gebaut wurde, aus England importiert. Es steht “NEEDHAM STOCKPORT” drauf.
Dass das den einzige Kanaldeckel ist, hängt wohl damit zusammen, dass es keine Wasser- oder Abwasserleitungen gibt. Fast jedes Haus hat einen eigenen Brunnen gebohrt und pumpt dort das Grundwasser herauf. Dass das klappt ist erstaunlich. Eigentlich müsste der Grundwasserspiegel so stark absinken, dass die Brunnen leer fallen. Aber die Lagune ist nah. Die Filterfunktion des Bodens reicht offensichtlich. Das Wasser schmeckt nicht salzig oder brackig. Störend, zumindest für mich, ist der Umstand, dass das Abwasser auf demselben Grundstuck versickert wird. Das bedeutet, dass die Stadt, einfach gesagt, auf Scheiße steht. Und dass das versickernde Abwasser nicht die daneben liegenden Wasserbrunnen verseucht, ist unvorstellbar. Unappetitlich, aber wohl eine Tatsache.
Zur Absperrung des Vorplatzes zur Straße und zum Fußgängerbereich dienen, statt der in Europa eingesetzten Poller hier Ölfässer, die mit Beton gefüllt sind. Und, damit sie nicht ganz so provisorisch aussehen, ist oben ein Kegel. Und überall Schilder “NO PARKING”und“DO NOT URINATE HERE”.
Am Bahnhof selbst ist nicht viel los. Ein zweistöckiger langgestreckter Bau, uninteressant. Das Eingangsgitter ist offen, ich gehe hinein, wie andere auch. Ein trister Bahnsteig auf dem ich erst entlang schlendere. Ich mache einige Photos, klettere über die Geleise und schaue mir einen abgestellten Waggon von innen an und notiere, wie die vergammelte Garnitur aussieht. Dann stelle ich mich zum Zeichnen hin und skizziere die Anlage. Als ich zum Auto zurück will kommen zwei Typen herangeschlendert. Einer in Jeans, einer in einer schwarzen Montur. Sie halten mich an bevor ich das Tor erreiche und fragen mich, was ich mache.
"Ich skizziere, warum?".
"Wir sind Polizei" und einer der Beiden, der in Jeans, zeigt mir seinen Polizeiausweis und will wissen, wie ich heiße. Ich gebe ihm die Kopie meines Passes. Er fordert mich auf, mit auf die Polizeistation zu komme. Was bleibt mir übrig? Während wir die zweihundert Meter zur Station gehen erklärt der Zivilpolizist:
"Es ist verboten ohne Genehmigung hier herein zu kommen!"
"Wo steht das?"
"Jeder weiß das!"
Nichts dagegen zu sagen, dieses Argument gilt immer! In der Station keift der andere Typ, der in der schwarzen Polizeikluft:
"Du kommst hierher, gehst ohne Genehmigung herein und zeichnest. Du meinst, weil du ein Weißer bist, darfst du alles!"
Ich finde, dass es sinnlos ist, hier herum zu labern, sage aber trotzdem:
"Aber es steht weder ein Schild irgendwo, noch ist ein Bahnhof ein Ort, zu dem man eine Genehmigung braucht, um ihn zu betreten. Was sollen die Passagiere machen? Brauchen die vor jeder Fahrt eine Genehmigung auf den Bahnhof zu gehen?"
Aber er entgegnet souverän:
"Heute ist Sonntag, da fahren keine Züge!"
"Als ich hereinkam, da fuhr ein Zug!"
Sagt daraufhin ein Unterläufer aus dem Hintergrund:
"Das war ein Test."
Hoffnungslos, die wollen Geld! Der Zivilheini fordert mich auf:
"Komm hinter den Tresen!"
"Nein, so nicht! Erst möchte ich meinen Fahrer draußen informieren, der wartet dort auf mich"
"Du hast einen Fahrer? Wo ist er? Welches Auto?"
"Draußen vor dem Gitter, ein blauer Peugeot 504."
Und der schwarze Sheriff geht hinaus um den Fahrer zu holen.
Inzwischen wollen der Zivile und die ganze Schar von Teekochern und Aufräumern, die hier herum hängen, meine Skizzen sehen
"Du bist Künstler?"
"Ja, und ich war interessiert an dem alten Gebäude, darum habe ich es gezeichnet."
Warum erzähle ich das? Interessiert doch kein Schwein! Die wollen was anderes sehen.
Einer der Subalternen fordert mich auf:
"Was hast du dabei?"
Und ich:
"Ungefähr zehn Dollar"
"Nein, kein Geld, was ist in deinen Taschen? Lege alles auf den Tresen!"
Ich weigere mich die zwanzig Taschen meiner Maljacke vor diesen Fuzzies auszuleeren.
Der Fahrer, Williams, kommt auf den Platz vor der Station gefahren, steigt aus und – schlägt erst sein Wasser ab. Wie ein Hund, der sein Revier markiert. Das regt niemanden auf, alle finden es völlig normal. Nur ich staune darüber.
Der schwarze Sheriff schlurft in die Station herein und schreit mich an:
"Du bist ohne Genehmigung in den Komplex eingedrungen und ich werde dich jetzt einsperren!"
Seine Stimme überschlägt sich:
"Ich sperre dich jetzt, JETZT, ein und werde deine Botschaft darüber informieren. ICH SPERRE DICH JETZT EIN!!!"
Was ein Idiot! Aber was soll´s, er ist in der besseren Position.
Der Zivile fordert Williams auf, sich hinzusetzen. Ich setze mich auch. Wir sind noch immer direkt am Ausgang. Irgendwie habe ich ein besseres Gefühl, einen Schritt von der Freiheit entfernt zu sein, als hinten den dunklen Gang entlang in irgend einem Büro Der Zivile will den Chef holen. Vielleicht ist der besser, hoffe ich.
Es ist eine einfache Überlegung. Heute ist Sonntag, alles geschlossen. Morgen ist Nationalfeiertag. Auch alles zu. Das heißt, ich müsste mich zwei Tage in einem Gefängnisloch vergnügen und darauf warten, bis sich ein so genanntes Missverständnis dann aufklärt. Als solches würden es die Leute dann ausgeben. Ich kann auf das Vergnügen gerne verzichten! Aber die Polizisten wissen das auch.
Der Sheriff setzt sich hinter den Tresen und mampft sein Essen. Sieht aus wie Spaghetti mit Tomatensauce. Andere Delinquenten werden gebracht und in die hinteren Räume geleitet. Williams wird von einigen der Herumlungerer verhört:
"Du hast ihn hergebracht! Wie lange ist er schon in Nigeria? Warum hast du ihn herein gehen lassen? Du weißt doch, dass man dazu eine Genehmigung braucht!" Das Ganze ist für mich, sicher nicht für Williams. Der muss mitspielen.
Williams windet sich. Verständlich, er ist als Nigerianer einerseits auf ihrer Seite, andererseits kann er wirklich nichts zu meinem „Vergehen“. Und falls doch, dann kriegen sie ihn noch eher an den Haken. Es geht noch eine Weil in diesem Ton weiter, dann kommt der Chef. In Joggingdress. Er fordert mich auf, ihn in sein Büro zu begleiten, Williams soll auch mitkommen.
Das Büro ist ein trister Raum, blau gestrichen – alle Polizeistationen in Afrika scheinen blau gestrichen zu sein! – mit zwei abgenützten Schreibtischen. Am zweiten ist ein Kollege mit drei "Verbrechern" zu Gange. Der Chef bietet uns einen Platz an und beginnt:
"In unseren Land sind andere Gesetze als anderswo. Und gerade wegen der Situation, du weißt USA, müssen wir besonders auf die Sicherheit achten!"
Das fängt gut an! Ich gebe ihm recht, habe volles Verständnis für das Vorgehen, entschuldige mich. „Woher hätte ich wissen können“ und so weiter. Ich zeige ihm die Skizze des Bahnhofes und auch die anderen Zeichnungen aus dem Zeichenblock. Dann leere ich meine Jackentaschen, er muss vor den Anderen doch als Chef dastehen! Darum mache ich das, in vorauseilendem Gehorsam, ohne seine Aufforderung. Stifte, Radierer, Bleistiftspitzer, Farben, Papier und den Photoapparat. Was ein Glück, ich hatte eben das letzte Bild auf dem Bahnhof verschossen und konnte jetzt vorführen, dass der Apparat kaputt war. Auslöser geht nicht, Filmtransport funktioniert auch nicht.
Er fordert mich auf, alles wieder einzupacken, schaut sich meine Passkopie an.
"Aus Deutschland?"
Und dann erzählt er, dass er in Frankfurt in der Polizeiausbildung war. Die Sache scheint gelaufen. Jetzt nur noch mit möglichst geringem Reibungsverlusten hinaus. Meine innere Anspannung nimmt deswegen aber nicht ab. Maximal bin ich zehn Dollar los! Oder, bei einer falschen Reaktion oder einem falschen Wort fängt die ganze Scheiße wieder von vorne an.
Aber er kommt mir noch mehr entgegen:
"Was ist dein bevorzugter Fußballklub?"
Bayern München passt und nachdem ich auch noch Okocha weiß, der bei Schalke spielt, da ist alles klar. Er weiß, wer sonst noch von den Nigerianern im Ausland spielt, bei welchem Verein, alle Details der Bundesliga. Und ich setze noch drauf, dass Nigeria in der Fußballweltmeisterschaft der Jugend ins Endspiel kam. Und dass die Nigerianer gegen Frankreich sicher gewinnen würden – das Spiel ist heute Nacht – und dann bekämen alle nigerianischen Spieler einen Auslandvertrag, alle würden aufgekauft und reich werden. Ich bin zwar kein Fußballfan, aber in dieser Situation werde ich einer. Gut, dass ich gestern die deutschen Nachrichten mit dem Sport gesehen habe.
Und so quatschen und lachen wir eine Weile recht entspannt. Dann stellt er seine Hand, die flach auf dem Tisch gelegen hatte aufrecht. Zu viel Aufwand den Arm zu bewegen! Und ich nehme erleichtert seine Pfote.
"Ich werde zukünftig in Nigeria weder links noch rechts schauen, ohne Genehmigung"
Schlusslachen und Abgang.
Er hält Williams noch für ein Wort zurück. Ich warte draußen in der Sonne. Wahrscheinlich etwas blass, ging mir ganz schön an die Nerven. Nach einigen Minuten kommt Williams nach und will mir später erzählen, was der Chef noch wollte. Erst nur weg.
Das geht nicht so einfach, denn zwischenzeitlich ist das Tor, durch das er kam, mit Kette und zwei Vorhängeschlössern verrammelt. Ein Junge holt den schwarzen Sheriff um das Tor aufzusperren. Der kommt auch aus seiner Bude, doch als er uns sieht, fordert er grimmig, das andere Tor zu benutzen. Keine Ahnung, wo das sein soll, aber fragen nützt auch nichts. Der Sheriff würdigt uns keines Wortes mehr. Wir kurven suchend herum, mein Kommentar:
"Die wollen, dass ich wirklich alles hier sehe!"
Irgendwo, nachdem wir einen halben Kilometer an den Schienen entlang auf dem Bahnsteig und dann auf dem Bahndamm geholpert sind, können wir die Schienen überqueren und kommen aus dem Bahnhofsgelände hinaus in das Eisenbahnerwohngebiet. Eine völlig versiffte und herunter gekommene Gegend. Sicher dürfen wir hier auch nicht herumfahren! Nach einigen weiteren Kilometern dann wieder über die Schienen zum Haupteingangstor des Wohngeländes und bei der Doppelwache grüßend hinaus.
Williams informiert mich über die Worte des Chefs:
Normalerweise wird der Weiße eingesperrt und der Fahrer in die Firma geschickt, damit die das Geld, das in solchen Fällen gezahlt werden muss, schicken kann. So läuft das! Und Williams soll zusehen, dass so etwas nicht nochmals passiert.
Das Gesicht ist für alle gewahrt.
Und wer´s nicht glaubt, der kann sich die Kanaldeckel im Netz ansehen – http://www.geocities.com/rcasagran - oder in der Polizeistation nachfragen. Die freuen sich über jeden Weißen!
 
G

Gerhard Kemme

Gast
@ casagrande, hi Forum!
Na, das hätte der Ich-Erzähler mal in Hamburg machen sollen. Am besten mit Grossuhr daneben: Zeitabhängige progressive Niederschlags-Wahrscheinlichkeit. Die Schilderung wirkt auf mich wohltuend verfremdet und überraschend.
MfG Gerhard Kemme
 



 
Oben Unten