Der Hoffnung wegen

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Hallo,
da es Pflicht ist, ersteinmal ein eigenes Werk zu posten, hier eine Kurzgeschichte, die durchaus konstruktive Kritik vertragen könnte.

Der Hoffnung wegen

Laut prasselt der Regen gegen das Fenster, scheint es fast durchbrechen zu wollen, und doch ist es viel zu ruhig.
Dunkelheit hat sich auch noch in den letzten Winkeln meines Zimmers geschlichen, versteckt sich dort und gibt den Ungeheuern, die jede Nacht kommen, Schutz.
Es ist zu dunkel, zu still, zu laut und zu beängstigend, und während ich unter der warmen Decke liege, höre ich, wie mein Herz laut und drängend schlägt, mit jedem Schlag einen Schwall Blut durch meine Adern zwängt.
Ich lausche, und bald kann ich nichts mehr außer dem roten Rauschen in meinem Körper hören - oder ist es der Regen, der diesen Lärm in mir erzeugt?
Ängstlich versuche ich, aus dem Labyrinth der Geräusche zu entkommen, doch die Dunkelheit hat sich vorgewagt und schließt mich ein, verhindert, dass ich mich sammele, gegen das Grauen ankämpfe.
Mein Rücken schmerzt, in meinen Wirbeln pocht es ohne Unterlass und die Angst steigt immer höher.
Und dann höre ich es.
Höre, wie es meine Knochen zerfrißt, mein Mark herausschlürft, höre wie es mich tötet - langsam, stetig.
Mein Atem geht zu schnell, jagt sich selbst durch meine Lungen, auf denen die Angst und die Hilflosigkeit wie Wackersteine lasten und verdrängt den letzten Rest Ruhe, der noch in mir gewesen ist.
Ich höre das Rauschen, das Knistern, das Fressen, das Sterben, und bin doch hilflos und allein gelassen.
Die Decke wird zu schwer, schnürt mir die Luft ab, will mich erdrücken mit der schweren Hitze, die die Federn durchdrungen hat, und ich halte es nicht mehr aus.
Ohne weiter nachzudenken stoße ich sie von mir, schleudere sie zu Boden und springe auf, laufe, ohne auf den Boden zu achten, zum Fenster, um es aufzureißen.
Kalte, reingewaschene Nachtluft schlägt mir entgegen, beruhigt meinen Körper, meinen Atem, mein Blut - und wieder meine ich es knistern zu hören, tief in mir drin.
Erst jetzt fühle ich die eisigen Wassertropfen auf meiner Haut, spüre die kalte Feuchte, die meine Kleider durchdringt, doch es ist mir egal und ich bleibe dort stehen.
Der Mond scheint heute nicht, oder er ist von Wolken verdeckt - es ist dunkel im Himmel, sieht man von den grellen Neonlichtern ab, die verzweifelt versuchen, ihn zu erreichen.
Ein einzelner Stern ist hell genug, um das prahlerische, hilflose, falsche Glänzen der Stadt zu übertönen, mit seiner schlichten Wahrheit durch die Lügen unserer Zeit hindurchzublicken und mich überkommt das unstillbare Verlangen, ihn zu erreichen, zu fassen.
Mit zitternden Knien steige ich auf die feuchte Fensterbank, blicke die vielen Meter, die in die Tiefe führen, hinunter und kralle mich an dem kleinen Dachvorsprung fest, versuche Halt zu finden, wo keiner ist.
Für einen Moment hänge ich in der Luft, nur gehalten von meinen dünnen, kalten Fingern, die sich krampfhaft festklammern, bis ich mein Bein auf das Dach geschwungen habe und mich endgültig hinaufziehe.
Der Regen hat meinen blauen Pyjama schon längst durchweicht, läuft an meinem Rücken, meinen Beinen hinunter und fließt an meinen bloßen Füßen herab, kalt und scheinbar schwarz in der Dunkelheit.
Ich friere, friere erbärmlich und frage mich, was ich in dieser mondlosen, trostlosen, verregneten Nacht eigentlich auf dem Dach unseres Hauses möchte.
Ich weiß es nicht.
Still sitze ich da, bade im Wasser, das der schwarze Himmel unablässig auf mich herab wirft und lasse meine Gedanken wandern.
Ich denke nicht wirklich, lausche eher den Geräuschen, die dieser toten Nacht Leben verleihen sollten:
Die Motoren der Wagen, die in regelmäßigen Abständen unten auf der Straße vorbeibrausen, das Rauschen und Klopfen des Regens, der neben mich, auf mich und irgendwie auch in mich fällt, das unruhige Schlagen meines Herzens und das Knistern, das aus meinen Knochen dringt.
Zu dem eisigen Wasser, das ich auf meiner tauben Haut gar nicht mehr richtig spüren kann, gesellen sich heiße Tränen, von denen ich nicht weiß, woher sie kommen, was sie wollen.
Mir ist kalt, ich zittere und habe das Gefühl, schon längst gestorben zu sein, während meine leeren Augen immer noch ruhelos hin und her wandern.
Plötzlich fällt mein Blick auf den großen Vorhof, den Frau Grünling, die so alt ist, dass ihr Mann im letzten Weltkrieg gestorben ist, Tag für Tag mit gebeugtem Rücken und weißem Haar fegt.
Tag für Tag, Jahr um Jahr fegt sie dort, ungeachtet der vielen Jahrzehnte, die auf ihrem Rücken lasten, ungeachtet der Schmerzen, die die Gicht in ihre Gelenke schickt.
Sie fegt, als wäre das das Einzige, was ihrem Leben einen Sinn verleiht, als würde allein dadurch die Zeit gefüllt, die sich seit dem Tod ihres Mannes, der schon so viele Jahre zurück liegt, in eine Ewigkeit zieht.
Was würde wohl geschehen, wenn sie morgen, wenn sie in aller früh hinausgeht, um mit ihrem Werk zu beginnen, meinen Körper dort unten fände?
Zerschmettert von der zu großen Anziehungskraft der Erde, blutend, tot...
Ich bewege mich auf den Rand zu, blicke senkrecht nach unten, genau auf den großen, wie immer tadellos sauberen Hof, auf den der strömende Regen kreisförmige Muster malt.
Was würde sie denken, wenn ich, aufgeschlitzt von dem Pfeiler, ihren schönen Boden, den sie doch so rein hält, beschmutzen würde?
Ich spüre die kalte Luft an meinen Fußsohlen, lasse meine Zehen baumeln, fühle die Freiheit, die Genugtuung, endlich dem heimtückischen Knistern zu entkommen, zu sterben.
Ich mag Krebse.
Sie sind schöne Tiere, unnahbar, doch auf ihre eigene Art sehr schön - ihre Schale schützt sie, und bietet ihnen gleichzeitig ein Heim.
Sie sind wirklich etwas besonderes, nicht nur, weil sie auch für mein Sternzeichen stehen...
Welcher Idiot hat sich nur ausgerechnet diesen Namen für diese schleichende, heimtückische, häßliche Krankheit, die mir langsam die Knochen zerfrißt, ausgedacht?
Ein Plasmozytom, das hört sich schon besser an - man kann es sich richtig vorstellen, wie diese Gewüchse die Blutbildung verhindern, sich ausbreiten, den Knochen schädigend und über kurz oder lang zum sicheren Tod führen.

Ich werde sterben.

So oder so, also warum noch zwei Jahre lang verbittert am Leben hängen, wenn ich doch so einfach einen Punkt setzen könnte?
Der Regen rinnt nicht mehr über meinen Kopf, meine Haut- es sind Sturzbäche, die mir die Sicht verklären, mich den Platz nicht mehr richtig sehen lassen.
Es ist so einfach...
Meine Bein schweben im Freien, mein Rücken schmerzt kurz auf, verstummt dann, und ich denke an die arme Frau Grünling, die Tag für Tag den Platz fegt und auf diese Weise versucht, die Zeit zu füllen, die sich seit dem Tod ihres Mannes, der schon so viele Jahre zurück liegt, in eine Ewigkeit zieht, die, trotz der Schmerzen, die die Gicht in ihre Gelenke schickt, seit Jahrzehnten den Besen bedient, als würde allein das ihrem Leben Sinn verleihen.
Müde und enttäuscht, den Schmerz in meinen Wirbeln wieder deutlich spürend, schwinge ich mich hinab auf die Fensterbank, die vor meinem Fenster ist und einst voller Lilien war, um zurück in mein Zimmer zu klettern.
Hier ist es immer noch dunkel, zu dunkel, doch eine fast unerträglich Wärme schlägt mir entgegen, weckt in mir den Wunsch, erneut hochzusteigen und einfach zu springen- vermutlich habe ich mir eh eine Erkältung eingefangen und werde an irgendeiner Infektion sterben.
Doch ich gehe durch die undurchdringliche Finsternis, die mich sofort umschließt, mich mein Herz und das Knistern in meinen Knochen lauter hören lässt, mich verängstigt und bedrängt, gehe hindurch, lasse mich nicht mehr aufhalten.
Ich spüre den stechenden Schmerz in meinem Rücken, die Kälte, die einfach nicht verschwinden will, obwohl die Hitze des Zimmers sie fast verbrennt, fühle meine Hilflosigkeit und denke kurz an die Messer, die blitzend und sauber in unserer Küche liegen.
Die Ungeheuer, die sich in den Ecken verstecken, kommen näher, drohen mich zu fassen, zu töten - aber ich denke an Frau Grünling, die in all den Jahren nie aufgehört hat zu warten, zu lieben - zu hoffen.
Meine starren Finger finden den Schalter, drücken drauf und erschaffen somit ein neues, lichtdurchflutetes Reich, in dem Monster keinen Platz mehr haben - bis auf eines.
Der große, glänzende Spiegel, den meine Eltern bald fortbringen wollen, zeigt einen Menschen, der keiner mehr ist.
Die Haare, die einst braungelockt bis auf die Schultern gefallen sind, sind ausgefallen, verschwunden und haben einen bloßen, glatten Schädel zurückgelassen, die langen Wimpern und die stehts peinlich genau gezupften Augenbrauen sind nicht mehr vorhanden, haben das Gesicht nackt, leer alleine gelassen.
Auch woanders haben Krankheit und Behandlung ihre Spuren hinterlassen:
Auf der Haut, weiß, fast durchsichtig, so dass man die Adern sehen kann, auf dem Körper, abgemagert und knochig geworden, und in den dunklen Augen, die tief in ihren Höhlen liegen.
Es sieht krank aus, gebrochen, schon fast tot.
Es ist ich.
Ich, die ich sterben soll, noch bevor ich siebzehn geworden bin, wenn man den Ärzten glaubt.
Aber ich will nicht sterben.
Ich werde nicht sterben.
Ich werde kämpfen, solange es noch irgendwie geht.

Der Hoffnung wegen.


Ein Plasmazytom ist eine Tumorerkrankung, die zu den Non-Hodgkin-Lymphomen zählt. Die Ursachen eines Plasmozytoms sind noch ungeklärt, das vorherrschende Symptom sind Knochenschmerzen, die aber erst in späteren Stadien auftreten.
Diese äußerst seltene Krebsart tritt fast nur bei älteren Menschen auf, Männer sind dabei anfälliger als Frauen.
Da es anfangs recht harmlos verläuft, wird ein Plasmazytom häufig erst spät und durch Zufall entdeckt, und bis zu einem gewissen Stadium der Krankheit gibt es keine Behandlung.
Danach wird meist die Chemotherapie angewendet, die allerdings nur der Verlangsamung der Krankheit dient.

Es gibt keine Heilung.
 



 
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