Der Karikaturist

Gonzo

Mitglied
Es ist 4 Uhr mittags. Henry wacht in seiner Wohnung auf, die eigentlich nur ein kleines Zimmer mit Kochnische ist. Der Fernseher läuft seit zehn Stunden, und Henry trägt noch immer seine schmutzigen Straßenklamotten von gestern Abend.

“Oh fuck...”, stöhnt er, während er vom Bett zum Wasserkocher schwankt, einen Instant-Kaffee zusammenrührt und eine Aspirin hinterher wirft. Mit seiner Tasse lässt er sich auf dem Stuhl neben den Küchentisch fallen und kritzelt mit noch halb geschlossenen Augen irgendetwas auf sein Zeichenblock.

Nach ein paar Minuten reißt er mit einem genervten “Ohhh” das Blatt heraus, zerknüllt es, und wirft den Ball gegen die Wand am anderen Ende des Zimmers. “Diese scheiß Denkblockaden”, denkt er sich, “die sind noch mein Ruin”.
Er nimmt die Tasse und trinkt ihren Inhalt in einem Zug aus. Das Telefon klingelt. Es ist Don. Don ist eine Art Mittelsmann für Henry, denn er kauft die Karikaturen für das Montagsmagazin der Ulmer Tageszeitung ein.

“Und, schon was ordentliches gekritzelt für morgen?”, fragt Don gut gelaunt.

“Nee, sorry, aber krieg\' ich bis morgen sicher hin!”, lügt Henry, der selbst nicht daran glaubt, bis zum Redaktionsschluss morgen Abend eine anständige Karikatur gezeichnet zu haben.

“Uff, ... ja O.K. Mensch lass uns später mal wieder auf ein Bier treffen, gut?”

“Alles klar. Gegen 6 am Goldenen Reiter.”

Seit Henrys Freundin, oder besser gesagt seine Ex-Freundin, ihn verlassen hatte, kriegte er nichts mehr gutes aufs Blatt. Früher sind ihm die Ideen nur so aus den Fingern gesprudelt. Er konnte alles, was er sah, mit einem gewissen Witz zeichnen: Egal ob es das aktuelle Fettnäpfchen war, in das ein Politiker trat, seine verhassten Lehrer früher in der Schule, oder der einfach Mann auf der Straße. In jeder Situation und Person erkannte er das winzige Körnchen, das überspitzt gezeichnet und gekoppelt mit Diesem und Jenem die Leute zum Brüllen brachte.
Doch jetzt dieser Kreativitätsverlust. War es die viele Sauferei? Oder doch etwas psychisches? Liebeskummer? Depressionen? War er überhaupt traurig? Henry sitzt da und weiß es selbst nicht. Das einzige, was er weiß, ist, dass er irgendwie und irgendwo in der letzten Zeit diesen speziellen Blick für das Witzige, das er in Allem sah, verloren hatte.

Tausend Gedanken schießen Henry durch den Kopf, während er noch einige Zeit verträumt am Küchentisch sitzt und Zigaretten raucht, und er ertappt sich dabei, in Selbstmitleid zu versinken.

*******

Es ist bereits Nacht, 11 Uhr, und Henry überquert schwankend die Hauptstraße. Die Ulmer Innenstadt ist wie jedes Wochenende von feierwütig umherirrenden Leuten überschwemmt.
Henry ist jetzt seit geraumen Stunden mit Don unterwegs. Don heißt nicht wirklich Don, es ist nur irgendein dummer Spitzname, auf den seine Arbeitskollegen ihn einst getauft hatten, vielleicht weil Don ein bisschen wie ein klischeehafter kleiner Italiener aussieht. Beide haben schon einiges getrunken, so wie sie es immer taten, wenn sie zusammen waren.
“Den Leuten, denen man erzählt, man sei freier Karikaturist, die stellen sich immer gleich vor, man sitze den ganzen Tag mit Baskenmütze in \'nem rießigen Altbau-Atelier mit 10 anderen durchgeknallten Künstlern herum, trinkt Espresso, und macht ab und zu ein paar Striche mit dem Bleistift”, beschwert sich der torkelnde Henry, als er und sein Kumpane gerade die Straße überqueren. Seine zersaußten blonden Haare und seine abgenutzten Klamotten sorgen dafür, dass man ihn in diesem Nachtschwärmer-Gewirr bereits auf den ersten Blick nicht zu den ansonst aufgestylten Diskogängern und schicken Cocktailschlürfern zählen würde.

“Hab dich nicht so Hen\', gibt genügend Typen, die noch viel beschissener dran sind als du”, versucht Don zu beruhigen, der eigentlich viel lieber mit seiner Freundin Zuhause rumsitzen würde, aber nun mal gar keine hatte. “Schau mich an, ich bin klein und fett, und meine Glatze wächst von Tag zu Tag”. Don tippt sich aufgeregt mit seinem wulstigen Zeigefinger auf die große haarlose Fläche am Hinterkopf. “Hätte ich \'ne Kamera, könnte ich mit diesem Zeitraffer-Modus aufnehmen, wie der Hautlappen da oben mir allmählich die Haare vom Kopf frisst”.
Eine entgegen laufende Gruppe von attraktiven Blondinen hat das gehört, macht nun einen großen Bogen um die beiden und schaut Don völlig angewidert an. Henry kann sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. “Haha, scheiße, komm ich geb einen im Wilden Barsch aus.” Die beiden steuern eine kleine Gasse abseits der Hauptstraße an.

“Ist das die da vorne links?”

“Yes.”

Aus der hölzernen Tür, über der jemand einmal einladend den Schriftzug “Zum Wilden Barsch” gepinselt hat, dröhnt eine Mischung aus lautem Gelächter, Gläserklirren und Après-Ski-Hits.
Henry drückt die Klingel neben der Tür. Der Wilde Barsch ist eine jener Spelunken, an denen man nach 10 Uhr klingeln muss, und erst hinein gelassen wird, wenn man vom kritischen Blick des Wirtes als noch nicht zu betrunken befunden wird. Ein kleiner Spalt öffnet sich. Ein alter grauer Mann mit kunstvoll hergerichtetem Kaiserbart blinzelt hindurch. Es ist der Wirt. Er heißt Bert.

“Sorry Henry, heute nicht mehr...”

“Scheiße Bert, was ist los mit dir?”

“Weist du ganz genau. Kannst dich hier nicht einfach mit irgendwelchen Typen \'rumprügeln.”

“Komm schon, das ist drei Wochen her, und ich dachte er ist der Neue von meiner Ex.”

“Es war vor zwei Wochen und es war mein Postbote, und seitdem sind meine Magazine immer nass und stinken nach Pisse. Ich glaub\' der Penner pisst seitdem auf meine Magazine. Siehst du, jetzt darf ich deine Scheiße ausbaden!”

Eine kurze peinliche Stille folgt.

“Man, das ist ja echt krank...”, wirft der etwas verblüfft daneben stehende Don ein, und erinnert sich daran, wie er letzten Donnerstagmorgen nach einer heftigen Kneipentour Henry vor lauter Lachen nicht mehr davon abhalten konnte, in den Briefkasten an der Hauptstraße zu urinieren.

Bert knallt die Tür zu und die Zwei schlendern resigniert die Gasse zurück und bleiben am steinernen Torbogen zur Hauptstraße stehen.

“Wusste gar nicht, dass das Berts Briefkasten war”, lallt Don leicht amüsiert vor sich her, “wenn das rauskommen würde, wär\'s ne gute Story für\'s Tagblatt: \'Verrückt gewordener Künstler terrorisiert Ulm mit Fäkalanschlägen\' , haha“

Die beiden brechen in lautes Gelächter aus und können sich kaum mehr auf den Beinen halten. Die vorbeilaufenden Leute werfen ihnen schiefe Blicke zu.

“Naja Hen\', ich packs dann mal...”, nuschelt Don, während er sich die Tränen aus den Augen reibt, die ihm vor lauter Lachen gekommen waren.

“O.K... Ich werd\' nochmal zu ein paar Künstler-Kollegen oben ins Sierra schauen”, erfindet Henry notgedrungen, um Don nicht das Gefühl zu geben, ihre oberflächliche Bekanntschaft sei seine einzige Möglichkeit nach menschlichem Kontakt.

Die beiden verabschieden sich mit einem Handschlag und Don watschelt wie ein betrunkener Pinguin die Hauptstraße abwärts nach Hause. Henry schaut ihn einige Zeit nach und schlendert anschließend gemächlich in die andere Richtung. Er hofft, wenigstens noch ein bekanntes Gesicht zu treffen.
Nach einigen Metern gibt er die Suche auf und setzt sich langsam auf den Bordstein. Er seufzt und zündet sich eine Zigarette an, ehe auch er die Hauptstraße abwärts nach Hause gehen wird, vorbei an den großen Altbauten, vorbei an den feiernden Jugendlichen und vorbei an den schäbigen Hintergassen-Bars, in denen er wohl schon zu viel Zeit verbracht hat.


*******

Am nächsten Tag wird Henry vom penetranten Klingeln seines Telefons geweckt. Es ist bereits 16 Uhr.

“Rrrrrrrringgggg!”

Mit einem genervten Stöhnen tastet er wie ein Blinder nach dem kreischenden Ungeheuer neben seinem Bett.

“Jaaa...”

“Hey Hen\'. Don hier. Wollte dich nur daran erinnern, dass du die Karikatur heute bis spätestens 20 Uhr zur Redaktion bringen musst.”

“Alles klar...”

“Gut. Vermassel\'s nicht, ich zähl auf dich. Hab dem Boss gesagt, dass du schon was hast, sonst hätte der gewollt, dass ich \'ne andere einkaufe. Also s p ä t e s t e n s 20 Uhr, weil die dann ihre Pressen anwerfen wollen, und so.”

Henry lässt den Hörer in die Muschel fallen und gräbt sein Gesicht tief ins Kopfkissen. Ein gedämpftes Schreien ist zu hören. “Ahh!”

Zehn Minuten später sieht man ihn aufgebracht in seinem kleinen Zimmer auf und ab traben. Heißer Kaffee schwappt wegen der enormen Fliegkräfte über den Rand der Tasse, die er in Händen hält. Er verbrennt Henrys Finger, doch dieser scheint das gar nicht wahrzunehmen.

“Scheiße”, denkt er sich, “ich brauche irgend eine Idee, irgend eine Karikatur von irgendwas”

Er sprintet zum Radio auf dem Fensterbrett und drückt auf On.

>>Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der durch amputierte Gliedmaßen entstehende \'Phantomschmerz\' durch elektrische Impulse an der betroffenen Stelle ...<<

“Nein, das ist es nicht ...”, murmelt er, während er gedankenversunken immer gleiche Bahnen durch das Zimmer zieht.

>>Italiens Ministerpräsident Monti geht wegen des Krisenmanagements inzwischen auf Konfrontationskurs zur Kanzlerin ...<<

Henry presst seine Zeigefinger gegen die Schläfen, in der Hoffnung, dieser Voodoo bränge ihm Konzentration. Das hatte ihn seine Oma jedenfalls früher immer geraten, wenn er den Faden bei den Hausaufgaben verlor: “Kind, an der Schläfe kreisen, machen auch die Weisen.”

“Oma ... Schläfen ... das bringt mich jetzt auch nicht weiter”, meckert Henry vor sich her, “wenn ich den Mist nicht bis um acht habe, kann ich einpacken, ich brauch das scheiß Geld, sonst kann ich wieder zu Mutti nach Hause ziehen, haha, wäre ja toll, mit 30 wieder zu Mami ziehen.” Der Vermieter saß Henry schon seit geraumer Zeit im Nacken und drohte bei wiederholtem Zahlungsrückstand mit dem Rauswurf.

>>Wütende Bürger haben gestern Abend zahlreiche Bankfilialen der Athener Innenstadt verwüstet. Griechenland zählt eine der größten Arbeitslosenzahlen im Raum der E ...<<

>>Tritt Griechenland aus dem Euroraum aus? Gerüchten zufolge plane das Land eine Rückkehr zur altbewährten Drachme, als Reaktion auf die enorme Krise der ...<<


*******

Stunden vergehen, und Henry macht nichts anderes, als grübelnde Bahnen durch sein Zimmer zu ziehen und dabei Radio zu hören. Es ist bereits 19.30 Uhr, da bleibt Henry plötzlich wie ein geblendetes Reh stehen. Er wirkt wie paralysiert, doch wenn man Henry kennt, kann man förmlich sehen, wie zahlreiche Zahnräder in seinem Kopf anfangen auf hochtouren zu arbeiten, wie er gerade dabei ist, unzählige Gedankenströme miteinander zu vernetzen, und er spürt, dass es gleich Klick! machen wird. Eine Art elektrische Spannung liegt in der Luft, ehe sich Henrys angespannter Gesichtsausdruck langsam in ein breites Grinsen verwandelt.
Schnell hechtet er zum Küchentisch, schmeißt mit einer schwungvollen Armbewegung alles unnütze zu Boden, und beginnt auf seinem Zeichenblock zu kritzeln.
Es dauert einige Minuten, da hebt Henry sein Werk langsam mit beiden Armen in die Luft und beäugelt es so, wie ein Vater sein frisch Geborenes beäugeln würde.

Nun ist es aber bereits schon 19.40 Uhr, und das macht Henry ziemlich nervös, denn erfahrungsgemäß braucht er eine Viertelstunde mit seinem Fahrrad zur Redaktion. Ein Auto hat er nicht. Ein Fax schon gar nicht. Hektisch stopft er das Blatt mit der Karikatur in seinen Rucksack, springt in sein einziges Paar Schuhe und eilt die Treppen hinunter zum Ausgang des Wohnkomplexes.

Man sieht Henry schweißüberströmt mit seinem Rad sämtliche Straßen und Wege entlang jagen. Er scheut kein Risiko, und rast auch durch Fußgängerzonen und an rote Ampeln vorbei, immer ab und zu auf seine Armbanduhr schielend. Dabei fühlt er sich irgendwie in seine Schulzeit zurück versetzt, denn Henry war einer jener Schüler, die fast jeden Tag verschliefen und nur durch größte körperliche Anstrengung und einem gemeingefährlichen Fahrstil die Schule noch vor acht Uhr erreichten. 19.55. Gleich ist es geschafft.
Kurz vor der Redaktion spritzen einige Gemeindearbeiter mit einem rießigen Wasserschlauch den Staub vom Asphalt. Das hat Henry gerade noch gefehlt, denn er hat durch ein lang anhaltendes bergab gut an Geschwindigkeit zugelegt, und bekommt die Falle zu spät zu Gesicht. Als er über die nasse Oberfläche schießt, gerät sein Fahrrad blitzschnell ins taumeln, und das Letzte, was Henry zu Gesicht bekommt, ist das betonfarbene Gebäude der Ulmer Tageszeitung am Ende der Straße.

*******

“Hey Hen\', alles klar bei dir?!”

Henry liegt auf dem nassen Asphalt und kommt wieder zu sich. Die Gemeindearbeiter haben sich besorgt um ihn geschart, auch Don ist unter ihnen.

“Mensch, was machst du denn, hab\'s von der Redaktion aus gesehen”, keucht er, denn er war gerade erst hergerannt, und überhaupt nicht in Form.

“Oh fuck... hier das Gekritzel.”

Henry fummelt etwas benommen das Stück Papier aus seinem Rucksack heraus und überreicht es noch im Liegen Don. Es dauert einige Sekunden, ehe der verdutzt blickende Kumpane plötzlich zu schmunzeln beginnt.

“Scheiße Hen\', du verrückter Vogel!”

Auf dem Blatt ist Angela Merkel gezeichnet, die gerade mit dem griechischen Ministerpräsidenten vor einem Arbeitsamt steht. Im Hintergrund ist die Akropolis zu erkennen. “Seitdem die Wirtschaftskrise den Leuten das Lachen verlernt hat”, erklärt Pikrammenos der verdutzten Kanzlerin, “trifft man hier auf ein ganz anderes Klientel.”. Vor dem Eingang stehen unzählige völlig abgewrackte Clowns Schlange. Ihre Kostüme sind total heruntergekommen, die Schminke verlaufen, sie haben Weinflaschen in ihren Händen, rauchen Zigaretten und blicken traurig drein.

Zufrieden legt Henry seinen Kopf zurück auf den Asphalt und grinst in den blauen Himmel. Na dann, ist ja nochmal gut gegangen, Hen\'.
 

Gonzo

Mitglied
Es ist 4 Uhr mittags. Henry wacht in seiner Wohnung auf, die eigentlich nur ein kleines Zimmer mit Kochnische ist. Der Fernseher läuft seit zehn Stunden, und Henry trägt noch immer seine schmutzigen Straßenklamotten von gestern Abend.

“Oh fuck...”, stöhnt er, während er vom Bett zum Wasserkocher schwankt, einen Instant-Kaffee zusammenrührt und eine Aspirin hinterher wirft. Mit seiner Tasse lässt er sich auf dem Stuhl neben den Küchentisch fallen und kritzelt mit noch halb geschlossenen Augen irgendetwas auf sein Zeichenblock.

Nach ein paar Minuten reißt er mit einem genervten “Ohhh” das Blatt heraus, zerknüllt es, und wirft den Ball gegen die Wand am anderen Ende des Zimmers. “Diese scheiß Denkblockaden”, denkt er sich, “die sind noch mein Ruin”.
Er nimmt die Tasse und trinkt ihren Inhalt in einem Zug aus. Das Telefon klingelt. Es ist Don. Don ist eine Art Mittelsmann für Henry, denn er kauft die Karikaturen für das Montagsmagazin der Ulmer Tageszeitung ein.

“Und, schon was ordentliches gekritzelt für morgen?”, fragt Don gut gelaunt.

“Nee, sorry, aber krieg' ich bis morgen sicher hin!”, lügt Henry, der selbst nicht daran glaubt, bis zum Redaktionsschluss morgen Abend eine anständige Karikatur gezeichnet zu haben.

“Uff, ... ja O.K. Mensch lass uns später mal wieder auf ein Bier treffen, gut?”

“Alles klar. Gegen 6 am Goldenen Reiter.”

Seit Henrys Freundin, oder besser gesagt seine Ex-Freundin, ihn verlassen hatte, kriegte er nichts mehr gutes aufs Blatt. Früher sind ihm die Ideen nur so aus den Fingern gesprudelt. Er konnte alles, was er sah, mit einem gewissen Witz zeichnen: Egal ob es das aktuelle Fettnäpfchen war, in das ein Politiker trat, seine verhassten Lehrer früher in der Schule, oder der einfach Mann auf der Straße. In jeder Situation und Person erkannte er das winzige Körnchen, das überspitzt gezeichnet und gekoppelt mit Diesem und Jenem die Leute zum Brüllen brachte.
Doch jetzt dieser Kreativitätsverlust. War es die viele Sauferei? Oder doch etwas psychisches? Liebeskummer? Depressionen? War er überhaupt traurig? Henry sitzt da und weiß es selbst nicht. Das einzige, was er weiß, ist, dass er irgendwie und irgendwo in der letzten Zeit diesen speziellen Blick für das Witzige, das er in Allem sah, verloren hatte.

Tausend Gedanken schießen Henry durch den Kopf, während er noch einige Zeit verträumt am Küchentisch sitzt und Zigaretten raucht, und er ertappt sich dabei, in Selbstmitleid zu versinken.

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Es ist bereits Nacht, 11 Uhr, und Henry überquert schwankend die Hauptstraße. Die Ulmer Innenstadt ist wie jedes Wochenende von feierwütig umherirrenden Leuten überschwemmt.
Henry ist jetzt seit geraumen Stunden mit Don unterwegs. Don heißt nicht wirklich Don, es ist nur irgendein dummer Spitzname, auf den seine Arbeitskollegen ihn einst getauft hatten, vielleicht weil Don ein bisschen wie ein klischeehafter kleiner Italiener aussieht. Beide haben schon einiges getrunken, so wie sie es immer taten, wenn sie zusammen waren.
“Den Leuten, denen man erzählt, man sei freier Karikaturist, die stellen sich immer gleich vor, man sitze den ganzen Tag mit Baskenmütze in 'nem rießigen Altbau-Atelier mit 10 anderen durchgeknallten Künstlern herum, trinkt Espresso, und macht ab und zu ein paar Striche mit dem Bleistift”, beschwert sich der torkelnde Henry, als er und sein Kumpane gerade die Straße überqueren. Seine zersaußten blonden Haare und seine abgenutzten Klamotten sorgen dafür, dass man ihn in diesem Nachtschwärmer-Gewirr bereits auf den ersten Blick nicht zu den ansonst aufgestylten Diskogängern und schicken Cocktailschlürfern zählen würde.

“Hab dich nicht so Hen', gibt genügend Typen, die noch viel beschissener dran sind als du”, versucht Don zu beruhigen, der eigentlich viel lieber mit seiner Freundin Zuhause rumsitzen würde, aber nun mal gar keine hatte. “Schau mich an, ich bin klein und fett, und meine Glatze wächst von Tag zu Tag”. Don tippt sich aufgeregt mit seinem wulstigen Zeigefinger auf die große haarlose Fläche am Hinterkopf. “Hätte ich 'ne Kamera, könnte ich mit diesem Zeitraffer-Modus aufnehmen, wie der Hautlappen da oben mir allmählich die Haare vom Kopf frisst”.
Eine entgegen laufende Gruppe von attraktiven Blondinen hat das gehört, macht nun einen großen Bogen um die beiden und schaut Don völlig angewidert an. Henry kann sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. “Haha, scheiße, komm ich geb einen im Wilden Barsch aus.” Die beiden steuern eine kleine Gasse abseits der Hauptstraße an.

“Ist das die da vorne links?”

“Yes.”

Aus der hölzernen Tür, über der jemand einmal einladend den Schriftzug “Zum Wilden Barsch” gepinselt hat, dröhnt eine Mischung aus lautem Gelächter, Gläserklirren und Après-Ski-Hits.
Henry drückt die Klingel neben der Tür. Der Wilde Barsch ist eine jener Spelunken, an denen man nach 10 Uhr klingeln muss, und erst hinein gelassen wird, wenn man vom kritischen Blick des Wirtes als noch nicht zu betrunken befunden wird. Ein kleiner Spalt öffnet sich. Ein alter grauer Mann mit kunstvoll hergerichtetem Kaiserbart blinzelt hindurch. Es ist der Wirt. Er heißt Bert.

“Sorry Henry, heute nicht mehr...”

“Scheiße Bert, was ist los mit dir?”

“Weist du ganz genau. Kannst dich hier nicht einfach mit irgendwelchen Typen 'rumprügeln.”

“Komm schon, das ist drei Wochen her, und ich dachte er ist der Neue von meiner Ex.”

“Es war vor zwei Wochen und es war mein Postbote, und seitdem sind meine Magazine immer nass und stinken nach Pisse. Ich glaub' der Penner pisst seitdem auf meine Magazine. Siehst du, jetzt darf ich deine Scheiße ausbaden!”

Eine kurze peinliche Stille folgt.

“Man, das ist ja echt krank...”, wirft der etwas verblüfft daneben stehende Don ein, und erinnert sich daran, wie er letzten Donnerstagmorgen nach einer heftigen Kneipentour Henry vor lauter Lachen nicht mehr davon abhalten konnte, in den Briefkasten an der Hauptstraße zu urinieren.

Bert knallt die Tür zu und die Zwei schlendern resigniert die Gasse zurück und bleiben am steinernen Torbogen zur Hauptstraße stehen.

“Wusste gar nicht, dass das Berts Briefkasten war”, lallt Don leicht amüsiert vor sich her, “wenn das rauskommen würde, wär's ne gute Story für's Tagblatt: 'Verrückt gewordener Künstler terrorisiert Ulm mit Fäkalanschlägen' , haha“

Die beiden brechen in lautes Gelächter aus und können sich kaum mehr auf den Beinen halten. Die vorbeilaufenden Leute werfen ihnen schiefe Blicke zu.

“Naja Hen', ich packs dann mal...”, nuschelt Don, während er sich die Tränen aus den Augen reibt, die ihm vor lauter Lachen gekommen waren.

“O.K... Ich werd' nochmal zu ein paar Künstler-Kollegen oben ins Sierra schauen”, erfindet Henry notgedrungen, um Don nicht das Gefühl zu geben, ihre oberflächliche Bekanntschaft sei seine einzige Möglichkeit nach menschlichem Kontakt.

Die beiden verabschieden sich mit einem Handschlag und Don watschelt wie ein betrunkener Pinguin die Hauptstraße abwärts nach Hause. Henry schaut ihn einige Zeit nach und schlendert anschließend gemächlich in die andere Richtung. Er hofft, wenigstens noch ein bekanntes Gesicht zu treffen.
Nach einigen Metern gibt er die Suche auf und setzt sich langsam auf den Bordstein. Er seufzt und zündet sich eine Zigarette an, ehe auch er die Hauptstraße abwärts nach Hause gehen wird, vorbei an den großen Altbauten, vorbei an den feiernden Jugendlichen und vorbei an den schäbigen Hintergassen-Bars, in denen er wohl schon zu viel Zeit verbracht hat.


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Am nächsten Tag wird Henry vom penetranten Klingeln seines Telefons geweckt. Es ist bereits 16 Uhr.

“Rrrrrrrringgggg!”

Mit einem genervten Stöhnen tastet er wie ein Blinder nach dem kreischenden Ungeheuer neben seinem Bett.

“Jaaa...”

“Hey Hen'. Don hier. Wollte dich nur daran erinnern, dass du die Karikatur heute bis spätestens 20 Uhr zur Redaktion bringen musst.”

“Alles klar...”

“Gut. Vermassel's nicht, ich zähl auf dich. Hab dem Boss gesagt, dass du schon was hast, sonst hätte der gewollt, dass ich 'ne andere einkaufe. Also s p ä t e s t e n s 20 Uhr, weil die dann ihre Pressen anwerfen wollen, und so.”

Henry lässt den Hörer in die Muschel fallen und gräbt sein Gesicht tief ins Kopfkissen. Ein gedämpftes Schreien ist zu hören. “Ahh!”

Zehn Minuten später sieht man ihn aufgebracht in seinem kleinen Zimmer auf und ab traben. Heißer Kaffee schwappt wegen der enormen Fliegkräfte über den Rand der Tasse, die er in Händen hält. Er verbrennt Henrys Finger, doch dieser scheint das gar nicht wahrzunehmen.

“Scheiße”, denkt er sich, “ich brauche irgend eine Idee, irgend eine Karikatur von irgendwas”

Er sprintet zum Radio auf dem Fensterbrett und drückt auf On.

>>Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der durch amputierte Gliedmaßen entstehende 'Phantomschmerz' durch elektrische Impulse an der betroffenen Stelle ...<<

“Nein, das ist es nicht ...”, murmelt er, während er gedankenversunken immer gleiche Bahnen durch das Zimmer zieht.

>>Italiens Ministerpräsident Monti geht wegen des Krisenmanagements inzwischen auf Konfrontationskurs zur Kanzlerin ...<<

Henry presst seine Zeigefinger gegen die Schläfen, in der Hoffnung, dieser Voodoo bränge ihm Konzentration. Das hatte ihn seine Oma jedenfalls früher immer geraten, wenn er den Faden bei den Hausaufgaben verlor: “Kind, an der Schläfe kreisen, machen auch die Weisen.”

“Oma ... Schläfen ... das bringt mich jetzt auch nicht weiter”, meckert Henry vor sich her, “wenn ich den Mist nicht bis um acht habe, kann ich einpacken, ich brauch das scheiß Geld, sonst kann ich wieder zu Mutti nach Hause ziehen, haha, wäre ja toll, mit 30 wieder zu Mami ziehen.” Der Vermieter saß Henry schon seit geraumer Zeit im Nacken und drohte bei wiederholtem Zahlungsrückstand mit dem Rauswurf.

>>Wütende Bürger haben gestern Abend zahlreiche Bankfilialen der Athener Innenstadt verwüstet. Griechenland zählt eine der größten Arbeitslosenzahlen im Raum der E ...<<

>>Tritt Griechenland aus dem Euroraum aus? Gerüchten zufolge plane das Land eine Rückkehr zur altbewährten Drachme, als Reaktion auf die enorme Krise der ...<<


*******

Stunden vergehen, und Henry macht nichts anderes, als grübelnde Bahnen durch sein Zimmer zu ziehen und dabei Radio zu hören. Es ist bereits 19.30 Uhr, da bleibt Henry plötzlich wie ein geblendetes Reh stehen. Er wirkt wie paralysiert, doch wenn man Henry kennt, kann man förmlich sehen, wie zahlreiche Zahnräder in seinem Kopf anfangen auf hochtouren zu arbeiten, wie er gerade dabei ist, unzählige Gedankenströme miteinander zu vernetzen, und er spürt, dass es gleich Klick! machen wird. Eine Art elektrische Spannung liegt in der Luft, ehe sich Henrys angespannter Gesichtsausdruck langsam in ein breites Grinsen verwandelt.
Schnell hechtet er zum Küchentisch, schmeißt mit einer schwungvollen Armbewegung alles unnütze zu Boden, und beginnt auf seinem Zeichenblock zu kritzeln.
Es dauert einige Minuten, da hebt Henry sein Werk langsam mit beiden Armen in die Luft und beäugelt es so, wie ein Vater sein frisch Geborenes beäugeln würde.

Nun ist es aber bereits schon 19.40 Uhr, und das macht Henry ziemlich nervös, denn erfahrungsgemäß braucht er eine Viertelstunde mit seinem Fahrrad zur Redaktion. Ein Auto hat er nicht. Ein Fax schon gar nicht. Hektisch stopft er das Blatt mit der Karikatur in seinen Rucksack, springt in sein einziges Paar Schuhe und eilt die Treppen hinunter zum Ausgang des Wohnkomplexes.

Man sieht Henry schweißüberströmt mit seinem Rad sämtliche Straßen und Wege entlang jagen. Er scheut kein Risiko, und rast auch durch Fußgängerzonen und an rote Ampeln vorbei, immer ab und zu auf seine Armbanduhr schielend. Dabei fühlt er sich irgendwie in seine Schulzeit zurück versetzt, denn Henry war einer jener Schüler, die fast jeden Tag verschliefen und nur durch größte körperliche Anstrengung und einem gemeingefährlichen Fahrstil die Schule noch vor acht Uhr erreichten. 19.55. Gleich ist es geschafft.
Kurz vor der Redaktion spritzen einige Gemeindearbeiter mit einem rießigen Wasserschlauch den Staub vom Asphalt. Das hat Henry gerade noch gefehlt, denn er hat durch ein lang anhaltendes bergab gut an Geschwindigkeit zugelegt, und bekommt die Falle zu spät zu Gesicht. Als er über die nasse Oberfläche schießt, gerät sein Fahrrad blitzschnell ins taumeln, und das Letzte, was Henry zu Gesicht bekommt, ist das betonfarbene Gebäude der Ulmer Tageszeitung am Ende der Straße.

*******

“Hey Hen', alles klar bei dir?!”

Henry liegt auf dem nassen Asphalt und kommt wieder zu sich. Die Gemeindearbeiter haben sich besorgt um ihn geschart, auch Don ist unter ihnen.

“Mensch, was machst du denn, hab's von der Redaktion aus gesehen”, keucht er, denn er war gerade erst hergerannt, und überhaupt nicht in Form.

“Oh fuck... hier das Gekritzel.”

Henry fummelt etwas benommen das Stück Papier aus seinem Rucksack heraus und überreicht es noch im Liegen Don. Es dauert einige Sekunden, ehe der verdutzt blickende Kumpane plötzlich zu schmunzeln beginnt.

“Scheiße Hen', du verrückter Vogel!”

Auf dem Blatt ist Angela Merkel gezeichnet, die gerade mit dem griechischen Ministerpräsidenten vor einem Arbeitsamt steht. Im Hintergrund ist die Akropolis zu erkennen. “Seitdem die Wirtschaftskrise den Leuten das Lachen verlernt hat”, erklärt Pikrammenos der verdutzten Kanzlerin, “trifft man hier auf ein ganz anderes Klientel.”. Vor dem Eingang stehen unzählige völlig abgewrackte Clowns Schlange. Ihre Kostüme sind total heruntergekommen, die Schminke verlaufen, sie haben Weinflaschen in ihren Händen, rauchen Zigaretten und blicken traurig drein.

Zufrieden legt Henry seinen Kopf zurück auf den Asphalt und grinst in den blauen Himmel. Na dann, ist ja nochmal gut gegangen, Hen'.
 



 
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