Der Klang des Winters

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LilyaLou

Mitglied
Der Winter ist unberechenbar.
Er ist gefährlich, still und doch so wunderschön. Und wenn Freya wieder einmal am Bahnsteig gestanden hatte, die Hände in den Jackentaschen, einen Wollschal um den Hals gewickelt, dann wusste Corrie, dass dies ein schöner Winter werden würde. Freya verließ selten das Haus, aber wenn sie es tat, dann hatte das alles seinen Sinn. Und meist an den kalten Tagen, an denen sie alle in ihre Decken eingehüllt vor dem Kamin saßen und ein Buch lasen, ließ sie sich blicken und wartete auf ihren Zug. Corrie hatte sie so oft beobachtet, wie die Schneeflocken auf ihr bleiches Gesicht fielen und ihren dunklen Haaren weiße Punkte verliehen.
„Du“, hatte er einmal gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Ist dir kalt?“
Und Freya hatte nur den Kopf geschüttelt und nichts gesagt, kein Wunder, das tat sie nie. Aber Corrie wusste, dass sie nicht stumm war. Sonst würde sie nicht mit den Schneeflocken sprechen, wenn es dunkel wurde. Aber Freya war nicht verrückt, das konnte Corrie in ihren Augen sehen, die im Mondlicht hell und wie das Eis auf den Bergen aufblitzen. Freya hatte ihn nie bemerkt, wenn er ihr gefolgt war; still wie ein Reh schwebte er über den Boden. Er war durch den tiefen Schnee gelaufen und hatte Spuren hinterlassen, die von dem heftigen Schneesturm gleich wieder zugedeckt wurden. Und er wusste, dass das gefährlich war und natürlich konnte er sich verlaufen, aber Corrie kannte sich gut aus.
Und dann stand Freya wieder am Bahnsteig und Corrie hatte sie ein zweites Mal angesprochen.
„Du“, hatte er wieder gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Magst du den Winter?“
Und Freya hatte genickt, aber wieder nicht geantwortet, sondern war in ihren Zug eingestiegen und hatte lange Zeit aus dem Fenster hinausgesehen.
Bis die Räder sich ratternd in Bewegung setzten.
Und Corrie hatte die nächste Bahn genommen.
Er mochte es, wenn die Sonne auf dem kalten Schnee glitzerte. Es wirkte alles so friedlich und geheimnisvoll. Und Corrie liebte den Winter wie Freya es tat.
Irgendwann am Bahnsteig fand Corrie die Spuren von kleinen Füßen. Und wieder entdeckte er Freya, ihr langes Haar zu einem Zopf geflochten, eine Mütze auf dem Kopf.
„Du“, hatte er gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Gefällt es dir hier?“
Und Freya hatte den Kopf geschüttelt, kein Wort von sich gegeben und hatte weiter gewartet. Und Corrie mit ihr. Er hatte sie angesehen, sie aber nicht ihn.
Der Zug hatte sie davongetragen und Corrie hatte die Landschaft vorbeiziehen sehen, die Wälder, einen See, der von der Kälte des Winters erstarrt war und die Berge, die mit einer weißen, weichen Decke überzogen waren.
„Du bist nicht allein“, hatte Freya ihm erklärt und ihn angesehen und Corrie hatte gesagt, dass er das wüsste.
Ihre Wege trennten sich.
Corrie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, wie er es sonst tat.
Es war notwendig.
Ein Jahr war vergangen und Freya stand am Bahnsteig, die Hände in den Taschen, den Blick geradeaus gerichtet. Und Corrie beobachtete sie.
„Du“, hatte er gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Bist du einsam?“
Und sie hatte den Kopf geschüttelt und geantwortet: „Niemand ist alleine.“
Am nächsten Tag sah er sie nicht wieder. Und auch nicht am Tag darauf. Für eine lange Zeit nicht. Und er vermisste sie, doch der Schnee war so friedlich, dass Corrie nicht traurig war.
Und jeden Tag nahm er den Zug und sah aus dem Fenster hinaus. Manchmal erblickte er Freya. Manchmal nicht. Aber trotzdem sah er sie nicht. Sie war der Schnee, die Kälte, die Schönheit und die Sonne im Winter. Corrie hatte sie gerne.
„Du“, hatte sie gesagt, ihn von der Seite angetippt und gefragt: „Hast du Angst?“
Und Corrie hatte den Kopf geschüttelt, in ihr blasses Gesicht gesehen und geantwortet: „Es schneit.“
Freya hatte zum ersten Mal gelächelt. Sie hatte Corrie an der Hand genommen und war mit ihm an der nächsten Station ausgestiegen.
Sie hatte in den Himmel gedeutet.
„Ich bin eine dieser Schneeflocken. Niemals alleine.“
„Ich bin der Klang des Winters“, hatte Corrie gesagt.
„Wie klingt der Winter?“
Freyas Augen blickten fragend.
„Wie du ihn hörst.“
Und Freya hatte genickt und verstanden.
Und dann war sie fortgelaufen und Corrie hatte ihr hinterhergesehen, doch der Winter war grausam und gefährlich und die Kälte konnte sie verschlucken. Doch Corrie wusste, dass es schlimmer war, dass die Kälte keine Rolle mehr spielte und dass allein der Klang des Zuges den des Winters auslöschen konnte.
Freya wusste es genauso.
Und sie rührte sich nicht von der Stelle und Corrie sah die Träne, die ihr die Wange hinunterlief und wie sich ihre Lippen blau färbten. Und die Kälte hatte sie gefangen und sie rührte sich nicht mehr.
„Du“, hatte Corrie gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Hast du Angst?“
Und Freya hatte traurig gelächelt, während die Träne in den weißen Schnee fiel und geantwortet: „Ja.“
Und Corrie hatte bloß genickt und sie verlassen. Und der Zug kam angerollt.
Immer weiter, immer schneller.
Und Freya hatte nur noch die Augen geschlossen und ihre Haare im Wind wehen lassen, die Arme zur Seite ausgestreckt.
„Freya“, hatte Corrie gerufen und sie hatte ihn angesehen, weil er ihren Namen kannte.
„Du bist eine Schneeflocke“, hatte Corrie ihr gesagt und sie hatte genickt und dann war er gegangen.
Am nächsten Tag stand sie nicht am Bahnsteig. Und Corrie sah sie nie wieder und er wusste, was mit ihr geschehen war. Jetzt war sie der Schnee, der leise auf ihn herabfiel, den er so liebte.
Sie war hier.
Er hörte den Klang des Winters und wusste, dass er nicht alleine war.
„Du“, flüsterte er, als könnte ihm jemand antworten und sagte: „Kannst du mich hören?“
Und die Kälte antwortete mit ihrem Schweigen, doch er wusste, dass Freya ihn ganz genau verstanden hatte.
 

liwola

Mitglied
Liebe LilyaLou,
ich finde es sehr schön wie du das Verhältnis zwischen den beiden Kindern beschrieben hast. Dennoch sind mir 2 Sachen aufgefallen, die du eventuell in deiner Überarbeitung einbringen könntest.
1. Du hast ziemlich oft die Sätze mit "und" angefangen, was sich, finde ich, nicht so schön anhört. Nutze andere Satzanfänge damit sich dein Text fließender lesen lässt.
2. Am Anfang hast du den Winter als ruhig und friedlich dargestellt und am Ende als grausam. Dieser Widerspruch verwirrt etwas.
Viele Grüße
liwola
 
U

USch

Gast
Hallo LilyaLou,
ein sehr poetischer schön zu lesender Text, der sich sehr ruhig entwickelt.
Ab und an kannst du das [blue]Und [/blue]am Satzanfang streichen, da völlig überflüssig. Die Titelüberschrift würde ich etwas vom Text absetzen und am besten fett markieren.
LG USch
 

LilyaLou

Mitglied
Der Winter ist unberechenbar.
Er ist gefährlich, still und doch so wunderschön. Und wenn Freya wieder einmal am Bahnsteig gestanden hatte, die Hände in den Jackentaschen, einen Wollschal um den Hals gewickelt, dann wusste Corrie, dass dies ein schöner Winter werden würde. Freya verließ selten das Haus, aber wenn sie es tat, dann hatte das alles seinen Sinn.Meist an den kalten Tagen, an denen sie alle in ihre Decken eingehüllt vor dem Kamin saßen und ein Buch lasen, ließ sie sich blicken und wartete auf ihren Zug. Corrie hatte sie so oft beobachtet, wie die Schneeflocken auf ihr bleiches Gesicht fielen und ihren dunklen Haaren weiße Punkte verliehen.
„Du“, hatte er einmal gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Ist dir kalt?“
Freya hatte nur den Kopf geschüttelt und nichts gesagt, kein Wunder, das tat sie nie. Aber Corrie wusste, dass sie nicht stumm war. Sonst würde sie nicht mit den Schneeflocken sprechen, wenn es dunkel wurde. Aber Freya war nicht verrückt, das konnte Corrie in ihren Augen sehen, die im Mondlicht hell und wie das Eis auf den Bergen aufblitzen. Freya hatte ihn nie bemerkt, wenn er ihr gefolgt war; still wie ein Reh schwebte er über den Boden. Er war durch den tiefen Schnee gelaufen und hatte Spuren hinterlassen, die von dem heftigen Schneesturm gleich wieder zugedeckt wurden. Er wusste, dass das gefährlich war und natürlich konnte er sich verlaufen, aber Corrie kannte sich gut aus.
Und dann stand Freya wieder am Bahnsteig und Corrie hatte sie ein zweites Mal angesprochen.
„Du“, hatte er wieder gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Magst du den Winter?“
Und Freya hatte genickt, aber wieder nicht geantwortet, sondern war in ihren Zug eingestiegen und hatte lange Zeit aus dem Fenster hinausgesehen.
Bis die Räder sich ratternd in Bewegung setzten.
Corrie hatte die nächste Bahn genommen.
Er mochte es, wenn die Sonne auf dem kalten Schnee glitzerte. Es wirkte alles so friedlich und geheimnisvoll. Corrie liebte den Winter wie Freya es tat.
Irgendwann am Bahnsteig fand Corrie die Spuren von kleinen Füßen. Und wieder entdeckte er Freya, ihr langes Haar zu einem Zopf geflochten, eine Mütze auf dem Kopf.
„Du“, hatte er gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Gefällt es dir hier?“
Und Freya hatte den Kopf geschüttelt, kein Wort von sich gegeben und hatte weiter gewartet.
Corrie mit ihr. Er hatte sie angesehen, sie aber nicht ihn.
Der Zug hatte sie davongetragen und Corrie hatte die Landschaft vorbeiziehen sehen, die Wälder, einen See, der von der Kälte des Winters erstarrt war und die Berge, die mit einer weißen, weichen Decke überzogen waren.
„Du bist nicht allein“, hatte Freya ihm erklärt und ihn angesehen und Corrie hatte gesagt, dass er das wüsste.
Ihre Wege trennten sich.
Corrie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, wie er es sonst tat.
Es war notwendig.
Ein Jahr war vergangen und Freya stand am Bahnsteig, die Hände in den Taschen, den Blick geradeaus gerichtet. Und Corrie beobachtete sie.
„Du“, hatte er gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Bist du einsam?“
Und sie hatte den Kopf geschüttelt und geantwortet: „Niemand ist alleine.“
Am nächsten Tag sah er sie nicht wieder. Und auch nicht am Tag darauf. Für eine lange Zeit nicht. Und er vermisste sie, doch der Schnee war so friedlich, dass Corrie nicht traurig war.
Jeden Tag nahm er den Zug und sah aus dem Fenster hinaus. Manchmal erblickte er Freya. Manchmal nicht. Aber trotzdem sah er sie nicht. Sie war der Schnee, die Kälte, die Schönheit und die Sonne im Winter. Corrie hatte sie gerne.
„Du“, hatte sie gesagt, ihn von der Seite angetippt und gefragt: „Hast du Angst?“
Und Corrie hatte den Kopf geschüttelt, in ihr blasses Gesicht gesehen und geantwortet: „Es schneit.“
Freya hatte zum ersten Mal gelächelt. Sie hatte Corrie an der Hand genommen und war mit ihm an der nächsten Station ausgestiegen.
Sie hatte in den Himmel gedeutet.
„Ich bin eine dieser Schneeflocken. Niemals alleine.“
„Ich bin der Klang des Winters“, hatte Corrie gesagt.
„Wie klingt der Winter?“
Freyas Augen blickten fragend.
„Wie du ihn hörst.“
Und Freya hatte genickt und verstanden.
Dann war sie fortgelaufen und Corrie hatte ihr hinterhergesehen, doch der Winter war grausam und gefährlich und die Kälte konnte sie verschlucken. Doch Corrie wusste, dass es schlimmer war, dass die Kälte keine Rolle mehr spielte und dass allein der Klang des Zuges den des Winters auslöschen konnte.
Freya wusste es genauso.
Sie rührte sich nicht und Corrie sah die Träne, die ihr die Wange hinunterlief und wie sich ihre Lippen blau färbten. Und die Kälte hatte sie gefangen und sie bewegte sich nicht mehr.
„Du“, hatte Corrie gesagt, sie von der Seite angetippt und gefragt: „Hast du Angst?“
Und Freya hatte traurig gelächelt, während die Träne in den weißen Schnee fiel und geantwortet: „Ja.“
Und Corrie hatte bloß genickt und sie verlassen.
Der Zug kam angerollt.
Immer weiter, immer schneller.
Und Freya hatte nur noch die Augen geschlossen und ihre Haare im Wind wehen lassen, die Arme zur Seite ausgestreckt.
„Freya“, hatte Corrie gerufen und sie hatte ihn angesehen, weil er ihren Namen kannte.
„Du bist eine Schneeflocke“, hatte Corrie ihr gesagt und sie hatte genickt und dann war er gegangen.
Am nächsten Tag stand sie nicht am Bahnsteig. Corrie sah sie nie wieder und er wusste, was mit ihr geschehen war. Jetzt war sie der Schnee, der leise auf ihn herabfiel, den er so liebte.
Sie war hier.
Er hörte den Klang des Winters und wusste, dass er nicht alleine war.
„Du“, flüsterte er, als könnte ihm jemand antworten und sagte: „Kannst du mich hören?“
Und die Kälte antwortete mit ihrem Schweigen, doch er wusste, dass Freya ihn ganz genau verstanden hatte.
 

LilyaLou

Mitglied
Hallo liwola!
Vielen Dank für deine Rückmeldung. Du hast recht - das häufige "Und" hätte ich weglassen sollen.
Der Widerspruch ist Absicht-der Winter hat zwei Seiten.
Trotzdem: Danke, dass du mich auf beides aufmerksam gemacht hast. Das hilft mir weiter.
Liebe Grüße
LilyaLou
 

LilyaLou

Mitglied
Hallo USch!
Vielen Dank für dein Feedback und deine Hilfe. Das schätze ich. Wie im vorherigen Kommentar erwähnt: Das "Und" ist tatsächlich überflüssig, ich habe es nun oft gestrichen.
Liebe Grüße
LilyaLou
 



 
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