Der Singende Brunnen

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Rejtely

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Es war immer noch keine Musik zu hören, obwohl wir schon richtig nah gekommen waren. Der Singende Brunnen funktioniert bestimmt nicht mehr, sagte der pessimistische Teil meines Ichs, seine letzte Vorstellung liegt vermutlich Jahre zurück, du kommst viel zu spät, um nach seinen Klängen und Lichtern zu suchen. Wie so oft, schämte ich mich für meine Unkenntnis über die Veränderungen meiner Heimatstadt, für mein Vergessen des unverändert Gebliebenen und nun, dass ich um den Tod des glorreichen Brunnens nicht Bescheid wusste und selbst seine Beerdigung verpasst hatte.

Entmutigte Schritte trugen mich mechanisch weiter, bis die Töne einer Melodie mir entgegenflogen, und zwar nicht zunächst ganz leise und sich allmählich zu einem erkennbaren Lied formend, sondern mit einem Mal trafen sie mich mit beachtlicher Kraft. Gleich darauf ließen die Baumkronen auch die farbigen Lichtstrahlen zu mir durch. Der Singende Brunnen hatte noch seine Stimme und Juwelen, triumphierte ich. Der pessimistische Besserwisser verkroch sich beschämt ins Innere meines Ichs, während mein Gang sich wieder belebte.

Die Attraktion des Stadtparks war in einem unscheinbaren quadratischen Betonbecken untergebracht, das noch vor meiner Geburt ohne jegliche Fantasie und Originalität erbaut worden war. Keine einzige Figur und kein Ornament verzierten seine Kanten, die sieben Wasserstrahlbündel umrandeten – ein großes rundes im Zentrum, das seine Wassersäulen hoch hinaus in die Luft schleuderte und sechs kleinere, sich wie ein Karussell drehende, die das große umkreisten und spiralförmige Wassergirlanden glitzern ließen. Bei Tageslicht kaum mehr als einen flüchtigen Blick wert, verwandelte sich der Brunnen nach Einbruch der Dunkelheit in einen beliebten Schauplatz. In den Sommernächten begann zu dieser Stunde der Brunnen zu singen und während beflügelte Musik den Ort erfüllte, erstrahlte die Fontäne in leuchtenden Farben, wobei Nuancen und Intensität der Wasserstrahlen sich dem Rhythmus und der Stimmung der Melodie fügten.

Der Singende Brunnen war inmitten eines künstlichen Sees angelegt, dessen Wasseroberfläche seine farbigen Strahlen spiegeln und seine Leuchtkraft vervielfachen sollte. Wasser war aber nur noch in dem quadratischen Brunnenbecken im Zentrum des Sees vorhanden, ringsherum war sein Betonbett leer gepumpt und trocken, sehr zur Freude einer Schar munterer Kinder, die auf seinem Boden herumliefen und tanzten oder ungehindert das farbige Wasserspiel aus nächster Nähe bewundern konnten.

Um den leeren See herum saßen Menschen auf einzelnen Parkbänken und auf Steinstufen, die kleine Tribünen aus nicht mehr als drei bis vier Sitzreihen bildeten, und genossen die Atmosphäre. Wir suchten uns einen Platz zwischen den Zuschauern. An diesem Abend erklangen bekannte Lieder aus der Zeit, in der ich noch hier gelebt hatte. Froh darüber, dass mein Begleiter das Gespräch mit mir nicht suchte, gab ich mich dem Zauber des Singenden Brunnens hin. Die herrliche Sommernacht verdeckte mit ihrem dunklen Schleier die hässlichen Graffiti, die die Umrandung des Betonsees schändeten, sie machte den Schmutz, die zerbrochenen Bodenplatten und die sonstigen Zeichen des Verfalls unsichtbar. Mit einfachen Mitteln verwandelte die veraltete Brunnenanlage diesen Teil des Parks in einen verheißungsvollen Ort der Hoffnung und der Träume.

Wann war ich zum letzten Mal hier gewesen? Mit siebzehn, als ich zum ersten Mal allein ans Meer fahren durfte? Damals war der betonierte See voll mit Wasser und sogar kleine Boote schwammen darauf. Es war noch Zeit bis zur Abfahrt des Nachtzuges und als Vorgeschmack auf das richtige Meer hatte auch ich mit meinen Schulfreunden ein Boot gemietet. Auch damals war es eine zauberhafte Nacht der hoffnungsvollen und ungeduldigen Erwartung gewesen. Vor der Bootsfahrt um den Singenden Brunnen hatte ich mir im Kino die „Wilde Orchidee“ mit der atemberaubenden Carré Otis angeschaut, die – genauso wie ich es auch vorhatte – im Film ihren Heimatort verlassen hatte, um sich auf den Weg zu traumhaften Stränden zu machen, wo aufregende Abenteuer auf sie warteten. Mensch, wie war das damals möglich gewesen, dass ich nach dem Kofferpacken noch so viel Zeit übrig hatte, dass ein Kinobesuch, ein entspannter Spaziergang durch den Stadtpark und sogar eine Bootsfahrt vor der Abreise noch machbar gewesen waren? Warum war dies heute undenkbar? Warum beanspruchte mich heute die Reisevorbereitung bis zur letzten Sekunde, so dass ich meistens atemlos und entnervt meinen Zug oder mein Flugzeug erreichte? Auf aufregende Abenteuer wartete ich zwar jetzt immer noch, nur wurde die Vorfreude jedes Mal durch die Hetzerei getrübt. Die Leichtigkeit der damaligen Zeit schien verloren, so wie Carré Otis auch ihre Schönheit verloren und ihre Aussichten auf den großen Erfolg verspielt hatte, wie ich neulich in einem Bericht las.

In diesem Augenblick schienen mir dennoch die verschüttete Sorglosigkeit und Muße wieder fast greifbar. Nur fast, denn die verträumte Idylle wurde leider massiv gestört; ein sehr junger Mann, höchstens zwanzig und vermutlich Zigeuner, stellte sich vor mir auf die unterste Treppenstufe an der Balustrade hin und schrie lauthals inhaltslose Sätze, die an seine in einiger Entfernung sitzenden Bekannten gerichtet waren. Er machte keinen Schritt auf sie zu, um sich vernünftiger mit ihnen unterhalten zu können, hielt kaum Pausen, wartete nicht auf eine Antwort, sondern brüllte seine sinnentrückten Botschaften, die niemand hören wollte, ununterbrochen weiter und zerriss damit die schönen Lieder des Singenden Brunnens. Nebenbei fing er immer wieder aufs Neue an zu tanzen, was halbwegs eine Entschädigung für die Lärmbelästigung dargestellt hätte – denn er konnte seinen jungen Körper hinreißend im Rhythmus der Musik bewegen – nur führte er leider kaum eine Figur zu Ende aus, dauernd unterbrach er das Tanzen, um wild mit den Armen zu fuchteln, unkoordiniert zu zappeln, zu springen oder trotzig mit den Füßen zu stampfen. Der missglückte Tänzer verströmte überdies starken Schweißgeruch um sich, der Tag war furchtbar heiß gewesen, die wenigen Schritte, die uns trennten, reichten nicht aus, um die Intensität der Duftstoffe zu verringern. Durch die Ruhelosigkeit erhitzt zog er nach einer Weile sein T-Shirt aus, was den Gestank vervielfachte und bis ins Unerträgliche steigerte.

Nach und nach verjagte der Störenfried immer mehr Zuschauer, die sich von meiner Umgebung auf die benachbarten Tribünen retteten, aber niemand tadelte offen sein Benehmen oder sprach ein Wort zu ihm. Je mehr Menschen vor ihm flüchteten, umso lauter wurde sein Gebrüll, umso gehetzter seine Bewegungen, umso mehr strengte er sein ganzes Wesen an, die Reichweite seiner Belästigungen auszudehnen.

Auch mein Begleiter war empört und forderte mich auf, den Platz zu wechseln.
„Meinst du nicht, dass wir uns in dem Alter manchmal auch so dämlich benommen haben?“, fragte ich.
„Nein, so unzivilisiert bin ich niemals gewesen“ lehnte er entschlossen ab. „Den Nervtöter hier kann kein Mensch ausstehen!“, fügte er hinzu und machte sich auf, einen weit entfernten Sitzplatz zu suchen. Ich wollte ihm nicht folgen, was bei ihm völliges Unverständnis auslöste.

Bald saß niemand mehr außer mir in diesem Sektor, ich war die einzige Person, die die kleine Tribüne mit dem Zigeuner noch teilte. Er verteidigte seinen Platz an der Balustrade mit noch durchdringenderen Schreien, obwohl keiner ihn ihm streitig machte. Verzweifelt griff er nach dem Leben der Anderen, an dem er trotz steigender Distanz gewaltsam weiter teilhaben wollte. Es kostete mich Mut, den Barbaren zu ertragen, aber der optimistische Teil meines Ichs, wohl aufgrund des kürzlich gewonnen Zweikampfes zur Waghalsigkeit geneigt, bestärkte mich darin zu bleiben. Ich wusste, dass es den Jungen noch mehr Mut kostete, die zerstörerische Art aufzugeben, mit der er um Aufmerksamkeit rang; so viel Mut hatte er noch nicht, er brauchte auch meinen. Wenn ich nur lange genug durchhielte, so hoffte ich, wenn ich nicht aufhörte, daran zu glauben, dass er mehr als nur ein schrecklicher, stinkender, asozialer Brüllaffe war, würde sich mein Vertrauen vielleicht auch auf ihn übertragen.

Unterdessen sorgte ich mich darum, ob ich mit meinem kleinen Schwarzen die richtige Sitzposition auf der Steinstufe eingenommen hatte. Der Gedanke, dass die Dunkelheit und meine gekreuzten Beine dem Zigeuner vielleicht den Blick unter mein Kleid nicht vollkommen verwehrten, machte mich nervös, brach aber nicht meinen Willen zum Bleiben.

Meine Barmherzigkeit schien wirkungslos zu bleiben und da wurde wohl selbst die Geduld des Singenden Brunnens aufgebraucht, denn er versiegte plötzlich ohne sein letztes Lied zu Ende vorzuführen.

Nach kurzem Abwarten begriffen die Menschen um den See, dass die Vorstellung beendet war und verließen ihre Plätze, um den Heimweg anzutreten. Auch mein Begleiter erschien wieder, um mich zum Aufbruch zu bewegen.

„Du kannst das Auto holen, ich bleibe derweil hier sitzen“, erwiderte ich.
„Du scheinst in all den Jahren der Abwesenheit vergessen zu haben, dass deine Stadt nicht sicher ist. Der Park wird zunehmend menschenleer. Es ist gefährlich für eine Frau spät abends allein an diesem Ort zu sitzen. “
„Es wird mir in den paar Minuten schon nichts passieren. Gehe ruhig.“

Wenige Augenblicke, nachdem ich meine Begleitung aus den Augen verloren hatte, wirbelte ein Anflug von Angst meine Gedanken auf. Der gestörte Junge hätte auch gewalttätig sein können – was tun, wenn er seinen Frust gegen mich richtete, schließlich war ich trotz all meiner aufopfernden Beharrlichkeit nicht fähig gewesen, ihn von seiner Verzweiflung zu erlösen. Nun bemerkte ich aber, dass auch er sich von mir abgewendet hatte. Er musste über den Beckenrand gesprungen sein, während ich durch die Unterhaltung abgelenkt gewesen war, denn ich sah ihn jetzt über den Boden des ausgetrockneten Sees laufen, in Richtung des verstummten Brunnens, gerade noch bevor die Dunkelheit ihn verschluckte. Am Rande des Brunnens, dessen farbige Lichter erloschen waren, verlor sich seine Silhouette, aber ich hörte ihn weiter rufen, den abgeschnittenen Teil des letzten Lieds in entstelltem Englisch weitersingen und dann mit Wassergeplätscher vermischtes Gekreische, das aber zum ersten Mal nicht mehr gefrustet, sondern fast freudig erklang. Vielleicht war es aber auch nur die Entfernung, die die Wellen seiner Stimme täuschend krümmte.

Einige Minuten später erblickte ich ihn wieder. Er näherte sich der bescheidenen Tribüne, die dank seines abstoßenden Treibens zuvor nur mir gehörte, kletterte die Betonumrandung hoch und blieb an seinem ursprünglichen Platz vor mir stehen, barfuß, tropfend und still. Unzählige Tropfen Brunnenwasser lösten sich von seinen nassen Haaren und glitten über seine nackte Brust, da wo vorher Schweißperlen ein feuchtes Netz gezeichnet hatten. Kein penetranter Lärm mehr, kein abgehacktes Umherzappeln, kein stechender Körpergeruch – das Übel war verschwunden, wie der Schmutz von einer Glasscheibe weggewischt, hinter der man ein glänzendes Bild erkennt, dessen Schimmer nicht nur durch die Nässe an Haut und Haaren entstanden war.

Regungs- und lautlos schauten wir eine ganze Weile einander an. Dann richtete ich mich auf. Die breiten Steinstufen, die mir als Sitzbank gedient hatten, waren immer noch durch die Glut des abgelaufenen Tages erhitzt. Der Saum meines kurzen Sommerkleides klebte an meiner Haut. Ich zupfte es wieder in Form und ging an dem jungen Zigeuner vorbei, gleichmäßigen Schrittes und ohne mich nach ihm umzudrehen. Nur eine Sorge trug ich mit mir auf dem Weg zu den zwei Autoscheinwerfern, die am Rande des Parks aufleuchteten: hoffentlich fängt er nur nicht wieder an zu brüllen, wenn ich mich entferne, und zersplittert damit seine neugewonnene Aura. Kein Laut drängte sich aber mehr meinen Ohren auf und mit einer verloren geglaubten Leichtigkeit setzte ich meinen Weg fort.
 

Val Sidal

Mitglied
Wie gehe ich mit dem Fremden um? Was macht es mit mir? Was tue ich? Gehen? Bleiben? Mich zu wenden?

Am Anfang der Geschichte ist der Junge VIELLEICHT Zigeuner. In der Mitte wurde er Zigeuner. Am Ende hatte er sich seine Aura gewaschen.

Nein - ich finde deine Erzählung wird dem Thema weder inhaltlich, noch erzählerisch gerecht.
 



 
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