Der Spiegel

Das Erste, was Lou sah, als sie an diesem Morgen aufwachte, waren Scherben. Der ganze Boden vor ihrem Schreibtisch war voll von ihnen. Mühsam richtete sie sich auf und blickte auf den zerbrochenen Spiegel. Der Spiegel ihrer verstorbenen Großmutter mit all seinen Scherben um ihn herum. Es passte. Dieser Anblick passte nur zu gut. Lou machte sich gar nicht erst die Mühe, es aufzuräumen. Die Scherben würden bleiben, egal was sie tat. Sie ging ins Badezimmer und suchte nach ihren Tabletten.

Als sie angezogen war und sich einigermaßen bereit dazu fühlte, verließ sie ihre Wohnung und machte sich auf den Weg zur Uni. Lou wusste, sie würde keine Vorlesung am Stück durchhalten. Dennoch wollte sie es heute wenigstens versuchen. Der Anblick der Scherben hatte etwas in ihr ausgelöst. Etwas, was sie zwar nicht erklären konnte, aber was zu etwas Großem werden konnte, wenn sie es zuließ. Der heutige Tag war einfach anders. Das spürte sie.

Und so saß Lou in der Vorlesung, versuchte zu begreifen, um was es ging und spürte die Blicke der Anderen in ihrem Nacken. Sie kannte diese Blicke nur zu gut. Es waren Blicke des Mitleids, vermischt mit einem Hauch von Abscheu. Dabei kannten all diese Leute sie gar nicht. Sie kannten bloß ihre Krankheit.

Seltsamerweise machte ihr das alles heute nichts aus. Im Gegenteil. Sie fühlte sich dadurch lebendiger und aufgekratzter als je zuvor. Dieser Tag war anders. Anders war gut. So saß Lou also in dem Hörsaal auf ihrem Stuhl und zappelte wie ein Kind. Sie wusste plötzlich nicht mehr wohin mit ihrer Energie, ihrem Tatendrang. Lou merkte, dass sich etwas veränderte. Hier, jetzt, in diesem Augenblick.

Das Adrenalin schoss durch ihren Körper und sie fühlte sich wie elektrisiert. Und in diesem Moment kam ihr ein Gedanke. Nein, es war der Gedanke! Es war, als hätte jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt. Sie sprang auf, ließ alles stehen und liegen und stürmte aus dem Hörsaal, aus dem Gebäude, einfach raus. Das Wichtigste hatte sie bei sich: Autoschlüssel, Geldbeutel, Personalausweis. Eilig stieg sie in ihr Auto und fuhr los. Sie hatte ein Ziel vor Augen. Etwas, was ihr jahrelang gefehlt hatte und sie dadurch zu jemandem gemacht hatte, der sie nicht war und auch nicht sein wollte, war wieder da: ein Ziel. Und ihr Ziel hieß Flughafen.

Dort angekommen ging sie entschlossen auf den Schalter zu. Sie hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, sondern sagte sofort, sie wolle ein Ticktet für den nächsten Flug in Richtung Süden. Egal wohin und ohne Rückflug. Skeptisch musterte die Frau hinter dem Schalter sie und fragte, ob denn alles in Ordnung mit ihr sei. Da musste Lou lachen und sagte, es sei ihr noch nie besser gegangen.

Schon wenige Minuten später saß Lou in einem Flugzeug nach Asunción. Das Witzige war, dass sie noch nie in ihrem Leben von dieser Stadt gehört hatte und nur wusste, dass sie in Paraguay lag. Doch das war ihr egal. Sie war völlig entspannt und sorglos. Das Adrenalin und die Aufregung der letzten Minuten hatten einer inneren Ruhe Platz gemacht, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es war ein tolles Gefühl.

Als das Flugzeug hoch über den Wolken war, blickte Lou aus dem Fenster und sah den Atlantik, der sich wie ein riesiger, blaugefärbter Spiegel unter ihr ausbreitete. Dieser Spiegel, war neu, unbeschädigt und völlig anders, als ihr alter. Er wartete nur darauf, dass von ihm Gebrauch gemacht wurde und dass seinem Benutzer gefiel, was er sah, wenn er sich in ihm betrachtete. Das waren Lous letzte Gedankengänge bevor sie lächelnd einschlief.
 
P

Paul Schubert

Gast
Hallo Ichversuchsmal,

ist gelungen, Dein erster Versuch. Ist sogar besser als der x-te Text manches alten Hasen.

Allen Mut zusammenraufen und dem Leben eine Wende geben, nicht nur träumen, sondern tatsächlich handeln, der zerbrochene Spiegel weist den Weg. -- Das ist eine gute Idee, die Du auch gut umsetzt.

Zwei Kleinigkeiten, leicht zu beheben, will ich dennoch anmerken. Du schreibst:

»Sie hatte ein Ziel vor Augen. Etwas, was ihr jahrelang gefehlt hatte und sie dadurch zu jemandem gemacht hatte, der sie nicht war und auch nicht sein wollte, war wieder da: ein Ziel. Und ihr Ziel hieß Flughafen.«

Lous Ziel ist nicht der Flughafen; der liegt nur auf dem Weg zu ihrem Ziel.

Und es ist unmöglich, nicht die zu sein, die man ist. Man kann aber sehr wohl jemand sein, der man nicht sein will. Mein Vorschlag wäre zu schreiben:

»... sie dadurch zu einer gemacht hatte, die sie nicht sein wollte. ...« und den Flughafen zu streichen.

Ein Ziel haben heißt seinem Leben einen Sinn geben. Auch wenn unbekannt bleibt, was Lou im Süden will, wird doch ihre Hoffnung auf ein besseres Leben deutlich.

Weiter so!

Gruß,

Paul
 
Hallo Paul,

es freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat. Für Deine Kritik bin ich Dir sehr dankbar! Ich denke, ich überarbeite den Text noch einmal.

Danke, dass du Dir die Zeit genommen hast, Dich mit meinem Text zu befassen.

Liebe Grüße,

Ichversuchsmal
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der Text ist gut geschrieben und liest sich flüssig. Ich habe allerdings Schwierigkeiten mit der Glaubwürdigkeit Deiner Idee. Von einer Minute zur anderen plötzliche Gewissheit, was sie nun mit ihrem Leben anfangen will? Ohne Gepäck sofort einen Flug zu ergattern? Sie hat zwar ein sicheres Gefühl, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Realität in einem anderen Land standhält.
Für mich wäre es glaubwürdiger gewesen, wenn die Protagonistin nur einen kurzen Versuch unternommen hätte, ihrer Krankheit zu entfliehen, aber letztendlich dazu zurückgekehrt wäre.
LG Doc
 
P

Paul Schubert

Gast
Hallo Doc,

würden Dich die folgenden drei Stellen auch veranlassen, von den Herrn mehr Realismus zu fordern?

»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigem Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen, ...« (Franz Kafka, Die Verwandlung)

»... Ich weiß überhaupt nicht viel, offengestanden. Über den Tod meiner Mutter zum Beispiel. War sie schon tot, als ich ankam? Oder ist sie erst später gestorben? Ich meine, tot wie jemand, den man begräbt. Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man sie noch nicht begraben. Wie dem auch sei, jetzt bewohne ich ihr Zimmer. Ich schlafe in ihrem Bett. Ich benutze ihr Nachtgeschirr. Ich habe ihren Platz eingenommen. Ich werde ihr gewiss immer ähnlicher. Es fehlt mir nur noch ein Sohn. Irgendwo habe ich vielleicht einen. ...« (Samuel Beckett, Molloy)

»... Und wenn der alte Mann dann aus dem Karren geklettert wäre und sich gereckt hätte (die Dinge beschleunigen sich jetzt), die Stelle betrachtend, wo die Pumpe gestanden hatte, die von den Soldaten gesprengt worden war, so daß nichts mehr von ihr übrig bleiben sollte, und er sich beklagt hätte mit den Worten: ›Wie sollen wir hier an Wasser kommen?‹, dann würde er, Michael K., einen Teelöffel aus der Tasche holen, einen Teelöffel und eine dicke Rolle Schnur. Er würde das Geröll von der Mündung des Schachtes entfernen, er würde den Stiel des Löffels einwärts zu einem Haken biegen und die Schnur daran befestigen, er würde den Löffel durch den Schacht tief hinunterlassen in die Erde, und wenn er ihn wieder hinaufzöge, würde Wasser sein in der Schale des Löffels; und so, würde er sagen, kann man leben.« (J. M. Coetzee, Leben und Zeit des Michael K.)

Wenn ich mir deren literarische Wirkung vor Augen führe, vermute ich, dass Du Deine Forderung nach mehr Realismus kaum verteidigen könntest.

Dass Dein literarischer Geschmack nach mehr Realismus dürstet, ist eine ganz andere Sache, die Dir unbenommen bleibt, die Du aber, so vermute ich, nicht zur Forumsnorm machen möchtest.

Fiktionale Texte erheben keinen Wahrheitsanspruch. U. a. das unterscheidet sie von Zeitungsberichten. Die Kritik, die Du an ›Der Spiegel‹ äußerst, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Offenbar leidet Lou an psychischen Problemen. Wieso kann sie der zerbrochene Spiegel nicht in einer manische Phase steuern, in der sie absolute Gewissheit über all ihre Entscheidungen empfindet? Dass sie nicht ins Reisebüro rennt und sich beraten lässt, dass sie keinen Koffer packt, dass sie ihr Ticket bezahlen kann, usw. sind das Deiner Meinung nach qualitätsmindernde Versäumnisse, die unbedingt hätten erwähnt werden müssen? ›Der Spiegel‹ ist eine Kurzgeschichte, also ein fiktionaler Text, kein Ratgeber für Last-Minute-Touristen.

Zudem brauchen Kurzgeschichten keine Lösung für das angesprochene Problem anzubieten. U. a. das unterscheidet sie von Anekdoten und Erzählungen. Was aus Lou in Paraguay wird, ist eine andere Geschichte. Hier wird eben nur erzählt, wie Lou nach Paraguay kommt. Das gelingt Ichversuchsmal gut.

Gruß

Paul
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Paul, es ist schön, dass Du die Weltliteratur bemühst, um mich von Deiner Meinung zu überzeugen, aber der Vergleich hinkt doch sehr.
Die Autorin schreibt: "Seltsamerweise machte ihr das alles heute nichts aus. Im Gegenteil. Sie fühlte sich dadurch lebendiger und aufgekratzter als je zuvor."

Ab da beginnt dann ihr Aufbruch, ihre plötzlich völlig andere Stimmung, ihr anderes Gehabe. Die Veränderung wird nicht behutsam eingeführt, sondern Lou ist auf einmal brachial anders.

Das verwirrt mich als Leser zu sehr.

Das ist alles. Natürlich erhebe ICH nichts zur Forumsnorm. Im übrigen glaube ich, dass die Autorin durchaus Potenzial besitzt, denn wie gesagt, der Text liest sich im ganzen flüssig.

LG Doc
 
E

eisblume

Gast
Hallo ichversuchs mal,

also mir geht es mit dieser Verwandlung auch zu flott. Nicht jetzt, weil ich meine, dass es so etwas nicht geben könnte, sondern was die Umsetzung betrifft.

Der Anblick der Scherben hatte etwas in ihr ausgelöst. Etwas, was sie zwar nicht erklären konnte, aber was zu etwas Großem werden konnte, wenn sie es zuließ. Der heutige Tag war einfach anders. Das spürte sie.
Das ist mir einfach zu sehr „dahingesagt“. Es bräuchte jetzt natürlich keine hieb- und stichfeste Erklärung, aber vielleicht könntest du es nur ein wenig konkreter formulieren, wie sich anfühlte, dass es heute anders war.

Beim ersten Satz komme ich schon ins Grübeln. Wie ist der Spiegel zerbrochen? Der muss ja irgendwo heruntergefallen sein, mit einem ziemlichen Geschepper. Hätte Lou das dann nicht hören müssen?

Ein anderer Grübelpunkt ist Lous Krankheit. Sie nimmt Tabletten. Welche? Die anderen kennen sie nicht, kennen nur ihre Krankheit. Eine Krankheit, die augenscheinlich ist? Warum die Abscheu? Ich brauche da jetzt keinen Krankheitsbericht, aber vielleicht einen Ansatzpunkt, in welche Richtung das geht.

Sprachlich gibt es ein paar Stellen, die du ändern könntest, bei Interesse kann ich gern ausführen, welche Stellen ich meine.

Das Bild Atlantik – neuer, unbeschädigter Spiegel gefällt mir im Übrigen sehr gut, damit schließt du den Bogen zum Anfang sehr passend.

Lieben Gruß
eisblume
 
P

Paul Schubert

Gast
Hallo Doc,

vor allem weil ich meine, dass Ichversuchsmal es auch weiterhin versuchen sollte, habe ich Kafka & Co. bemüht. Die verlangen eine sehr viel größere Anstrengung von Leserin und Leser, als uns Ichversuchsmal abverlangt.

Du schreibst, »Die Veränderung wird nicht behutsam eingeführt, sondern Lou ist auf einmal brachial anders.« Dem will ich zunächst nicht widersprechen, sondern frage: Was ist daran unglaubwürdig?

Wenn ich mir Lou als Manisch-Depressive vorstelle, habe ich keinerlei Probleme mit ihrem Verhalten. Ihr emotionales Pendel schlägt von einem Augenblick zum nächsten ins andere Extrem um. Und Lou tut etwas, was sie womöglich bitter bereut, wenn sie in Asunción aus dem Flugzeug steigt und es in Strömen regnet. Oder ihre Hochphase dauert an, weil sie endlich den Mut aufgebracht hat, ihrem Leben die entscheidende Wende zu geben.

Wie dem auch sei, tatsächlich gibt es im Text eine Vorbereitung auf den Bruch:

1. Absatz: »Lou machte sich gar nicht erst die Mühe, es aufzuräumen.«

2. Absatz: »Der Anblick der Scherben hatte etwas in ihr ausgelöst. Etwas, ... was zu etwas Großem werden konnte, wenn sie es zuließ.«

3. Absatz, Dein Zitat: »Seltsamerweise machte ihr das alles heute nichts aus. Im Gegenteil. Sie fühlte sich dadurch lebendiger und aufgekratzter als je zuvor. Dieser Tag war anders. Anders war gut.«

Die Schilderung des veränderten Verhaltens nimmt dann mehr Raum ein als die des auslösenden Ereignisses, des zerbrochenen Spiegels. Insofern könnte man die Frage aufwerfen, ob der Titel glücklich gewählt ist. Angesichts der Umsetzung der Idee, scheint mir diese Frage jedoch eher nebensächlich. Wesentlicher ist, dass der Text nicht nur alle Kriterien einer Kurzgeschichte erfüllt, sondern -- wie auch Du sagst -- gut geschrieben ist und sich flüssig liest.

Zurück zur für Dich schwierigen Verwandlung von Lou. Selbst wenn ich mir Lou nicht als Manisch-Depressive vorstelle, habe ich keine Probleme mit ihrer Verhaltensänderung. Physiologisch scheint mir Lous Verhalten nicht unmöglich. Wie verändert z. B. ein Schuss Dopamin die Persönlichkeit? Wie Ecstasy oder LSD? Binnen einer Stunde wirken diese Drogen. Warum sollte der Text diese Plötzlichkeit nicht brüsk nachbilden? -- Dabei kommt sie ja nicht wirklich so plötzlich.

Noch ein formaler Aspekt: Könnte man einen Bruch nicht auch gezielt als Stilmittel einsetzen, um Verwirrung zu stiften und das Lesepublikum zum Nachdenken anzuregen?

Dabei bestände zwar die Gefahr, missverstanden zu werden. Doch wenn ich mir z. B. anschaue, was unter meine Texte geschrieben wurde, dann scheint mir das Missverständnis kein seltenes Ereignis zu sein und sich nicht allein infolge von Brüchen in der Handlungsweise der Figuren einzustellen. Aber Missverständnisse lassen sich aus der Welt schaffen.

Gruß

Paul
 



 
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