Der Spiegel

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Der Spiegel

Es war wie immer. Marlon war gerade aufgestanden und stand nun schläfrig vorm Spiegel im Bad. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass das Gesicht im Spiegel nicht sein Eigenes war.
„Mist!“, murmelte er, noch immer nicht ganz wach. „So schlimm habe ich morgens noch nie ausgesehen.“
Er drehte den Wasserkran auf um sich mit einem Schwall kaltes Wasser wach zu bekommen. Da hörte er die Stimme zum ersten Mal.
„Was soll denn der Quatsch?“
Marlon sah auf und schaute sich unsicher um. Wo war die Stimme hergekommen? Als er schließlich wieder zum Spiegel sah, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er sah nicht sein Spiegelbild, sondern ein völlig fremdes Gesicht vor sich.
Der Unbekannte starrte genauso überrascht zurück. Eine Weile sagte keiner etwas, bis es Marlon zu dumm wurde.
„Ähm, hallo!“, brummte er in seinen morgendlichen Stoppelbart. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah, daher zuckte er geschockt zusammen, als prompt eine Antwort kam.
„Selber Hallo“, kam es zurück. „Wer bist du denn und vor allem, was machst du in meinem Spiegel.“
„Moment mal! Erstens unterhalte ich mich nicht mit einem Spiegel. Zweitens, wenn es denn doch so wäre, könnte ich Sie genau das Gleiche fragen.“
Wieder herrschte für einen Moment Stille. Dann kam es unsicher von der anderen Seite: „Du siehst mich also auch durch einen Spiegel, hä?“
„Allerdings.“
„Kann ja wohl nicht wahr sein. Ich …, warte mal!“
Das Gesicht verschwand und Marlon konnte eine Zeitlang nur einen Teil des fremden Badezimmers sehen. Dann tauchte der Fremde wieder im Spiegel auf.
„Ich kann zwar nichts finden, aber ich glaube trotzdem, dass hier irgendjemand einen verdammt dämlichen Scherz macht. Vorsicht Kamera, oder?“
„Was mich angeht, bin ich mir nicht ganz sicher“, murmelte Marlon. „Ich glaube, ich geh wieder ins Bett.“
„Oho, so haben wir nicht gewettet!“, rief der Fremde aus. „Ich will wissen, was ihr mit diesem Scheiß-Spiegel gemacht habt. Ist das klar, Mann?“
„Ich habe nichts gemacht. Fertig! Jetzt entschuldigen Sie mich.“
Damit drehte sich Marlon um und rannte aus dem Bad. Mit beängstigend rasendem Herzklopfen setzte er sich auf die Bettkante und schüttelte den Kopf.
Habe ich mich gerade mit dem Spiegel unterhalten, überlegte er. Kann ja wohl kaum möglich sein. Er versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Ich bin überarbeitet. Das ist es. Ich werde mal mit Marianne über unseren ständig verschobenen Urlaub reden. Genau! Und jetzt, auf ins Bad.
Er stand auf und redete sich selber Mut zu, indem er laut vor sich her plapperte: „Ich war noch nicht wach. Noch am träumen. Aber jetzt – jetzt bin ich wach.“ Er machte ein paar halbherzige Turnübungen und ging wieder in Richtung Bad. „Wollen doch mal sehen, ob dieser Typ immer noch in meinem Spiegel herum geistert.“
Marlon setzte ein Grinsen auf, welches sein nervöses Unterbewusstsein zum Schweigen bringen sollte, und stieß die Tür zum Bad auf. Er hatte vorhin das Licht brennen lassen, daher konnte er genau sehen, was sich vor ihm abspielte.
Die Hand kam direkt aus dem Spiegelschrank. Sie bewegte sich, schien nach etwas greifen zu wollen. Marlons Grinsen blieb wie festgefroren auf seinen Lippen kleben. Angst schlich, wie ein unheimliches Monster aus den Tiefen seiner Seele, unaufhaltsam durch seinen Körper, bis sie das Hirn erreichte und eine Panik auslöste.
Im ersten Reflex wollte er flüchten, doch da war auch noch die Neugierde, die sich ebenso unaufhaltsam unter die Panik mischte. Was, zum Teufel, ist hier los, dachte er.
Die Hand zog sich zurück und hinterließ keine Spur auf der Oberfläche des Spiegels. Vorsichtig tappte Marlon näher. Er spürte mit jedem Herzschlag, wie das Blut immer schneller in seinen Ohren rauschte. Sein Magen schien sich der aufgewühlten Umgebung anzupassen – Brechreiz kam hoch. Doch Marlon wollte sich nicht Kleinkriegen lassen. Er wollte wissen, was da in seinem Badezimmer passierte. Er schluckte ein paar Mal, atmete tief durch und ging einen Schritt weiter. Er spürte, wie seine Hände zitterten, als er seine Finger auf den Spiegel legte.
Es war nicht die gewohnte, kalte Oberfläche des Spiegels, sondern etwas anderes. Marlon hatte das Gefühl, als würde er seine Finger in warmes Wasser tauchen. Erschrocken zog er seine Hand zurück und musste für einen Moment wieder gegen seine Panik ankämpfen. Doch dann hörte er Stimme von vorhin.
„He, bist du wieder da?“
Die zugeschnürte Kehle Marlons ließ es nicht zu, dass er antwortete. Stattdessen trat er einen Schritt vor und sah in den Spiegel.
„Tatsächlich! Er ist wieder da. Wo warst du, verdammt noch mal?“
„Ich, ich musste mal weg.“ Marlon brauchte eine Weile, bis er seine eigene Stimme erkannte.
„Soll das ein Witz sein?“, brüllte das fremde Spiegelbild ihn an. „Was kann wichtiger sein, wie diese Scheiße hier? Sag mir erst einmal wer du bist.“
„Ich heiße Marlon.“ Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er seinen Nachnamen lieber nicht preisgeben sollte.
„Marlon, so, so. Ich bin Gregor. Gregor Gedora.“
„Schön, Sie kennen zu lernen.“ Marlon fand allmählich seine Fassung wieder. „Jetzt erklären Sie mir zunächst, was Sie da tun. Falls es sich um eine neue Art von Werbung handeln sollte, können Sie sofort abbrechen. Ich kaufe grundsätzlich nichts an der Haustür, ich meine natürlich, an Spiegeln.“
„Kleiner Scherzkeks, wa? Hör zu, Alter. Ich bin genauso down wie du. Wir tun jetzt einfach so, als wäre das alles real, klar? Keine Kameras, keine Werbung, oder sonst einen Scheiß. Alles logo soweit?“
„Mal sehen.“
„Wohl der übervorsichtige Typ, wa? Na ja, egal. Versuch mal, ob du deine Hand durch den Spiegel stecken kannst.“
„Bitte?“
„Mann, nun mach schon.“
Marlon zögerte noch. Er wollte zwar wissen, was hier vorging, doch Risiken solcher Art gehörten nicht zu seinem Alltag. Sein Gegenüber schien da völlig anders zu sein, wofür Marlon ihn heimlich beneidete, obwohl ihn Gregors ganze Art eigentlich abstieß.
Gregor verdrehte kurz die Augen, als er Marlons Zögern sah und hob die Hand. Langsam schob er sie vor und die Hand tauchte direkt vor Marlon auf. Er wich argwöhnisch zurück.
„Siehst du, es passiert nichts. Probier das mal von deiner Seite. Na los doch“, forderte Gregor, während er seine Hand wieder zurück zog.
Marlon nahm seinen gesamten Mut zusammen, doch er hatte nicht das Gefühl, als hätte er nun genug davon. Trotzdem tastete er behutsam den Spiegel ab. Plötzlich wurde seine Hand gepackt und durch den Spiegel gerissen.
„Nun mach schon!“, polterte Gregors Stimme ganz nah an seinem Ohr, während er die Hand Marlons festhielt und weiter durch den Spiegel zog.
Voller Entsetzen riss Marlon seine Hand zurück. „Was soll denn das?“, schrie er.
„Hör zu, Mann. Ich habe weder Zeit noch Lust, dir bei deinen was-soll-ich-denn-in-den-nächsten-Wochen-tun Überlegungen zu zusehen“, blaffte Gregor. „Ich will wissen was hier los ist. Jetzt! Nicht erst nächste Woche.“
„Machen Sie das nicht noch einmal.“ Marlon versuchte seiner Stimme Festigkeit zu geben, was allerdings kläglich scheiterte.
„Mann, hör mir doch mal zu.“ Gregor tat plötzlich sehr vertraut und kumpelhaft. „Hier passiert etwas ganz Großes und ich, ich meine, wir sind dabei. Verstehst du? Wir müssen heraus bekommen, was das hier zu bedeuten hat. Ich bin sicher, dass damit eine Menge Moos zu machen ist.“
„Mit einem Spiegel?“, ächzte Marlon begriffsstutzig.
„Verstehst du denn nicht? Das hier ist kein Spiegel. Das ist irgendeine Art Tor. Ein Durchlass oder so was Ähnliches.“
„Sie haben zuviel Science Fiktion gesehen“, winkte Marlon ab, obwohl ihm genau dieser Gedanke auch schon die ganze Zeit durchs Hirn geisterte.
„Science Fiktion? Ist das Science Fiktion?“
Gregors Hand zuckte vor, packte Marlons Nase und verdrehte sie so weit, dass Marlon aufschrie. Er schlug nach der Hand, doch Gregor hatte sie schon wieder zurückgezogen.
„Wenn du das noch einmal machst, komme ich dir da rüber und schieb dir deinen Spiegel sonst wo hin“, schrie Marlon aufgebracht.
„Aha, werden wir endlich munter? Na, dann komm mal rüber“, lachte Gregor. „Ich warte schon auf dich.“
Wütend sah Marlon sich um. Sein Blick fiel auf eine schwere Glaskaraffe, worin einmal Badesalz eingefüllt war. Jetzt waren nur noch bunte Steinchen zur Dekoration darin. Ohne zu überlegen packte er die Flasche und warf sie durch den Spiegel.
Gregor lachte wieder und fing die Flasche geschickt auf. „Was sollte das denn? Wenn du nicht vernünftig werfen kannst, dann lass es, Alter. He, bist du eigentlich verheiratet? Klar bist du das. Schick deine Alte mal rüber. Sie ist bestimmt froh, wenn sie mal Spaß hat. Den hat sie dann, natürlich mit mir, versteht sich. Das ist bei Frauen so. Die stehen auf Männer, nicht auf Weichsemmeln.“
„Halt endlich die Klappe!“, schrie Marlon.
„Warum denn? Jetzt wird es doch erst richtig nett. Schließlich bin ich doch auch ein netter Mensch. Oder etwa nicht?“ Gregor lachte jetzt aus vollen Hals. „Sag schon. Bin ich nicht ein netter Mensch?“
Außer sich vor Wut, packte Marlon einen Holzschemel und schlug mitten in das feixende Gesicht vor ihm.
Das fürchterliche Scheppern ernüchterte Marlon und stoppte seinen Wutausbruch. Er stand vor dem zerbrochenen Spiegel, den Hocker in der Hand, und sah sich fassungslos um. Scherben, umgeworfene Flaschen und Cremtöpfchen um ihn herum. Es sah aus, als wäre eine Handgranate explodiert.
Verwirrt strich Marlon sich das Haar aus der Stirn. Das jetzt spiegellose Schränkchen, grinste ihn mit den verbliebenen Spiegelscherben höhnisch an. Er merkte nicht, dass er blutete. Er merkte nicht, wie seine Frau aufgeregt aus dem Keller kam und ihn fassungslos fragte, was los sei. Er merkte nichts mehr.
Es dauerte Tage, bis er endlich einen Psychologen um Rat fragte, was allerdings auf die Initiative seiner Frau zurückging. Irgendwann beruhigte er sich jedoch. Er schenkte dem studierten Mann sein Vertrauen und glaubte letztendlich, dass es nur Überarbeitung war. Das der Mann im Spiegel nur sein eigenes Ich war. Das verborgene Innere, was einfach raus wollte.
Erst Wochen später hängte er einen neuen Spiegelschrank auf, bereit allem und jedem ins Auge zu sehen. Doch Gregor kam nie wieder.
Nur eins ließ ihn nicht los. Warum fragte seine Frau ständig nach einer, mit irgendwelchen Steinen gefüllten, Glaskaraffe?
 
F

Franziska Franke

Gast
Ich würde keine Deutung liefern. Der leser sollte sich selbst überlegen, was da real ist.
 

sternsucher

Mitglied
Hallo Franziska,

meinst du mit, 'ich würde keine Deutung liefern', die Glaskaraffe? Hatte ich eigentlich extra als Schlußpunkt ohne deutlichen Hinweis gedacht.
Kommt das rüber als Hinweis, dass die Geschichte genauso sein muss, dann wäre das nicht so gut.

Schöne Grüße, sternsucher
 
F

Franziska Franke

Gast
Hallo Sternsucher,
kommt bei mir aber rüber als Hinweis, dass der Protagonist nicht völlig gaga ist
Viele liebe Grüße Fanziska
 

sternsucher

Mitglied
Hallo Franziska,

ganz wegnehmen möchte ich den Hinweis nicht, dazu kamen schon zuviele Anfragen (von Testlesern), warum ich die Geschichte so langweilig aufhören lasse.
Wie wäre es, wenn ich nicht die Frau nach der Karaffe fragen lasse, sondern Marlon sich selbst fragt, ob da mal eine Karaffe gestanden hat?

Schöne Grüße, sternsucher
 
F

Franziska Franke

Gast
Ja, das finde ich besser, denn dann bleibt eine gewisse Ambivalenz erhalten.
 

sternsucher

Mitglied
Der Spiegel

Es war wie immer. Marlon war gerade aufgestanden und stand schläfrig vorm Spiegel im Bad. Es dauerte eine Weile bis er begriff, dass das Gesicht im Spiegel nicht sein Ei-genes war.
„Mist!“, murmelte er, noch immer nicht ganz wach. „So schlimm habe ich morgens noch nie ausgesehen.“
Er drehte den Wasserkran auf um sich mit einem Schwall kaltes Wasser wach zu be-kommen. Da hörte er die Stimme zum ersten Mal.
„Was soll denn der Quatsch?“
Marlon sah auf und schaute sich unsicher um. Wo war die Stimme hergekommen? Als er schließlich wieder zum Spiegel sah, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er sah nicht sein Spiegelbild, sondern ein völlig fremdes Gesicht vor sich.
Der Unbekannte starrte genauso überrascht zurück. Eine Weile sagte keiner etwas, bis es Marlon zu dumm wurde.
„Ähm, hallo!“, brummte er in seinen morgendlichen Stoppelbart. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah, daher zuckte er geschockt zusammen, als prompt eine Ant-wort kam.
„Selber Hallo“, kam es zurück. „Wer bist du denn und vor allem, was machst du in meinem Spiegel.“
„Moment mal! Erstens unterhalte ich mich nicht mit einem Spiegel. Zweitens, wenn es denn doch so wäre, könnte ich Sie genau das Gleiche fragen.“
Wieder herrschte für einen Moment Stille. Dann kam es unsicher von der anderen Seite: „Du siehst mich also auch durch einen Spiegel, hä?“
„Allerdings.“
„Kann ja wohl nicht wahr sein. Ich …, warte mal!“
Das Gesicht verschwand und Marlon konnte eine Zeitlang ein fremdes Badezimmer be-trachten. Dann tauchte der Fremde wieder im Spiegel auf.
„Ich kann zwar nichts finden, aber ich glaube trotzdem, dass hier irgendjemand einen verdammt dämlichen Scherz macht. Vorsicht Kamera, oder?“
„Was mich angeht, bin ich mir nicht ganz sicher“, murmelte Marlon. „Ich glaube, ich geh wieder ins Bett.“
„Oho, so haben wir nicht gewettet!“, rief der Fremde aus. „Ich will wissen, was ihr mit diesem Scheiß-Spiegel gemacht habt. Ist das klar, Mann?“
„Ich habe nichts gemacht. Fertig! Jetzt entschuldigen Sie mich.“
Damit drehte sich Marlon um und rannte aus dem Bad. Mit beängstigend rasendem Herzklopfen setzte er sich auf die Bettkante und schüttelte den Kopf.
Habe ich mich gerade mit dem Spiegel unterhalten, überlegte er. Kann ja wohl kaum möglich sein. Er versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Ich bin überarbeitet. Das ist es. Ich werde mal mit Marianne über unseren ständig verschobenen Urlaub reden. Ge-nau! Und jetzt, auf ins Bad.
Er stand auf und redete sich selber Mut zu, indem er laut vor sich her plapperte: „Ich war noch nicht wach. Noch am träumen. Aber jetzt – jetzt bin ich wach.“ Er machte ein paar halbherzige Turnübungen und ging wieder in Richtung Bad. „Wollen doch mal se-hen, ob dieser Typ immer noch in meinem Spiegel herum geistert.“
Marlon setzte ein Grinsen auf, welches sein nervöses Unterbewusstsein zum Schweigen bringen sollte, und stieß die Tür zum Bad auf. Er hatte vorhin das Licht brennen lassen, daher konnte er genau sehen, was sich vor ihm abspielte.
Die Hand kam direkt aus dem Spiegelschrank. Sie bewegte sich, schien nach etwas greifen zu wollen. Marlons Grinsen blieb wie festgefroren auf seinen Lippen kleben. Angst schlich, wie ein unheimliches Monster aus den Tiefen seiner Seele, unaufhaltsam durch seinen Körper, bis sie das Hirn erreichte und eine Panik auslöste.
Im ersten Reflex wollte er flüchten, doch da war auch noch die Neugierde, die sich e-benso unaufhaltsam unter die Panik mischte. Was, zum Teufel, ist hier los, dachte er.
Die Hand zog sich zurück und hinterließ keine Spur auf der Oberfläche des Spiegels. Vorsichtig tappte Marlon näher. Er spürte mit jedem Herzschlag, wie das Blut immer schneller in seinen Ohren rauschte. Sein Magen schien sich der aufgewühlten Umgebung anzupassen – Brechreiz kam hoch. Doch Marlon wollte sich nicht Kleinkriegen lassen. Er wollte wissen, was da in seinem Badezimmer passierte. Er schluckte ein paar Mal, atmete tief durch und ging einen Schritt weiter. Er spürte, wie seine Hände zitterten, als er seine Finger auf den Spiegel legte.
Es war nicht die gewohnte, kalte Oberfläche des Spiegels, sondern etwas anderes. Mar-lon hatte das Gefühl, als würde er seine Finger in warmes Wasser tauchen. Erschrocken zog er seine Hand zurück und musste für einen Moment wieder gegen seine Panik an-kämpfen. Doch dann hörte er Stimme von vorhin.
„He, bist du wieder da?“
Die zugeschnürte Kehle Marlons ließ es nicht zu, dass er antwortete. Stattdessen trat er einen Schritt vor und sah in den Spiegel.
„Tatsächlich! Er ist wieder da. Wo warst du, verdammt noch mal?“
„Ich, ich musste mal weg.“ Marlon brauchte eine Weile, bis er seine eigene Stimme er-kannte.
„Soll das ein Witz sein?“, brüllte das fremde Spiegelbild ihn an. „Was kann wichtiger sein, wie diese Scheiße hier? Sag mir erst einmal wer du bist.“
„Ich heiße Marlon.“ Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er seinen Nachnamen lieber nicht preisgeben sollte.
„Marlon, so, so. Ich bin Gregor. Gregor Gedora.“
„Schön, Sie kennen zu lernen.“ Marlon fand allmählich seine Fassung wieder. „Jetzt erklären Sie mir zunächst, was Sie da tun. Falls es sich um eine neue Art von Werbung handeln sollte, können Sie sofort abbrechen. Ich kaufe grundsätzlich nichts an der Haus-tür, ich meine natürlich, an Spiegeln.“
„Kleiner Scherzkeks, wa? Hör zu, Alter. Ich bin genauso down wie du. Wir tun jetzt einfach so, als wäre das alles real, klar? Keine Kameras, keine Werbung, oder sonst ei-nen Scheiß. Alles logo soweit?“
„Mal sehen.“
„Wohl der übervorsichtige Typ, wa? Na ja, egal. Versuch mal, ob du deine Hand durch den Spiegel stecken kannst.“
„Bitte?“
„Mann, nun mach schon.“
Marlon zögerte noch. Er wollte zwar wissen, was hier vorging, doch Risiken solcher Art gehörten nicht zu seinem Alltag. Sein Gegenüber schien da völlig anders zu sein, wofür Marlon ihn heimlich beneidete, obwohl ihn Gregors ganze Art eigentlich abstieß.
Gregor verdrehte kurz die Augen, als er Marlons Zögern sah und hob die Hand. Lang-sam schob er sie vor und die Hand tauchte direkt vor Marlon auf. Er wich argwöhnisch zurück.
„Siehst du, es passiert nichts. Probier das mal von deiner Seite. Na los doch“, forderte Gregor, während er seine Hand wieder zurück zog.
Marlon nahm seinen gesamten Mut zusammen, doch er hatte nicht das Gefühl, als hätte er nun genug davon. Trotzdem tastete er behutsam den Spiegel ab. Plötzlich wurde seine Hand gepackt und durch den Spiegel gerissen.
„Nun mach schon!“, polterte Gregors Stimme ganz nah an seinem Ohr, während er die Hand Marlons festhielt und weiter durch den Spiegel zog.
Voller Entsetzen riss Marlon seine Hand zurück. „Was soll denn das?“, schrie er.
„Hör zu, Mann. Ich habe weder Zeit noch Lust, dir bei deinen was-soll-ich-denn-in-den-nächsten-Wochen-tun Überlegungen zu zusehen“, blaffte Gregor. „Ich will wissen was hier los ist. Jetzt! Nicht erst nächste Woche.“
„Machen Sie das nicht noch einmal.“ Marlon versuchte seiner Stimme Festigkeit zu ge-ben, was allerdings kläglich scheiterte.
„Mann, hör mir doch mal zu.“ Gregor tat plötzlich sehr vertraut und kumpelhaft. „Hier passiert etwas ganz Großes und ich, ich meine, wir sind dabei. Verstehst du? Wir müssen heraus bekommen, was das hier zu bedeuten hat. Ich bin sicher, dass damit eine Menge Kohle zu machen ist.“
„Mit einem Spiegel?“, ächzte Marlon begriffsstutzig.
„Verstehst du denn nicht? Das hier ist kein Spiegel. Das ist irgendeine Art Tor. Ein Durchlass oder so was Ähnliches.“
„Sie haben zuviel Science Fiktion gesehen“, winkte Marlon ab, obwohl ihm genau die-ser Gedanke auch schon die ganze Zeit durchs Hirn geisterte.
„Science Fiktion? Ist das Science Fiktion?“
Gregors Hand zuckte vor, packte Marlons Nase und verdrehte sie so weit, dass Marlon aufschrie. Er schlug nach der Hand, doch Gregor hatte sie schon wieder zurückgezogen.
„Wenn du das noch einmal machst, komme ich dir da rüber und schieb dir deinen Spie-gel sonst wo hin“, schrie Marlon aufgebracht.
„Aha, werden wir endlich munter? Na, dann komm mal rüber“, lachte Gregor. „Ich warte schon auf dich.“
Wütend sah Marlon sich um. Sein Blick fiel auf eine schwere Glaskaraffe, in der einmal Badesalz eingefüllt war. Jetzt funkelten darin nur noch bunte Glasperlen als Dekoration. Ohne zu überlegen packte er die Flasche und warf sie durch den Spiegel.
Gregor lachte wieder und fing die Flasche geschickt auf. „Was sollte das denn? Wenn du nicht vernünftig werfen kannst, dann lass es, Alter. He, bist du eigentlich verheiratet? Klar bist du das. Schick deine Alte mal rüber. Sie ist bestimmt froh, wenn sie mal Spaß hat. Den hat sie dann, natürlich mit mir, versteht sich. Das ist bei Frauen so. Die stehen auf Männer, nicht auf Weichsemmeln.“
„Halt endlich die Klappe!“, schrie Marlon.
„Warum denn? Jetzt wird es doch erst richtig nett. Schließlich bin ich doch auch ein netter Mensch. Oder etwa nicht?“ Gregor lachte jetzt aus vollen Hals. „Sag schon. Bin ich nicht ein netter Mensch?“
Außer sich vor Wut, packte Marlon einen Holzschemel und schlug mitten in das fei-xende Gesicht vor ihm.
Das fürchterliche Scheppern ernüchterte ihn und stoppte seinen Wutausbruch. Er stand vor dem zerbrochenen Spiegel, den Hocker in der Hand, und sah sich fassungslos um. Scherben, umgeworfene Flaschen und Cremtöpfchen um ihn herum.
Verwirrt strich Marlon sich das Haar aus der Stirn. Das jetzt spiegellose Schränkchen, grinste ihn mit den verbliebenen Spiegelscherben höhnisch an. Er merkte nicht, dass er blutete. Er merkte nicht, wie seine Frau aufgeregt aus dem Keller kam und ihn fassungs-los fragte, was los sei. Er merkte nichts mehr.
Es dauerte Tage, bis er endlich einen Psychologen um Rat fragte, was allerdings auf die Initiative seiner Frau zurückging. Irgendwann beruhigte er sich jedoch. Er schenkte dem studierten Mann sein Vertrauen und glaubte ihm letztendlich, dass es nur Überarbeitung war. Das der Mann im Spiegel nur sein eigenes Ich war. Das verborgene Innere, was einfach raus wollte.
Wochen später hängte er einen neuen Spiegelschrank auf, bereit allem und jedem ins Auge zu sehen. Doch Gregor kam nie wieder.
Aber eine Frage ließ ihn nicht los. Eine Frage, die der Psychologe nicht beantwortet hatte, nicht beantworten konnte, weil Marlon nicht gewagt hatte, davon zu sprechen. Wo war die Glaskaraffe? Wo die vielen bunten Glaskugeln? Wo?
 



 
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