Der Weg

kio

Mitglied
Ich bin heute morgen um 4:00 aufgestanden, hatte vorher alte Träume weggeträumt, danach alles schön sauber aufgeräumt. Wie man eine Wohnung eben aufräumt, um danach zu verreisen. Ist die Kaffeemaschine auch aus, die Heizung richtig eingestellt, habe ich mein Ticket? Ja, alles,... wie immer, in Ordnung. Es ist ein seltsames Gefühl, wegzufahren. Das Ziel der Reise ist meist bekannt, doch dazwischen liegt der Weg. Mein Ziel steht auf dem Ticket, doch heute ist mir ein wenig bange vor dem Weg und das Ziel ist bekannt, doch nicht vertraut. Ich gehe in den Morgen, es ist Winter, kalt, dunkel, mich fröstelt ein wenig. Ich suche das Gespräch mit dem Taxifahrer, denn ich fühle mich allein. Es ist beruhigend, auch im Hinblick auf die Reise, die vor mir liegt, ein unbefangenes Gespräch führen zu können. Ich stehe vor den Gleisen, die Freude und Erregung vor der Reise wird immer mehr. Bahnhöfe: Seit meiner frühesten Jugend bekomme ich in Bahnhöfen Gänsehaut. Manche gehen zu den kalten Gleisen, um sie zu spüren, weil sie ihre letzte Reise antreten wollen. Drumherum gibt es Leben, pures Leben, mit Abschied, Trauer, aber auch mit Ankunft, Freude. Doch heute möchte ich an meinem Abfahrtsort zunächst nur über den Weg nachdenken. Ich taste nach meinem Bildband von Manray, er ist mein Begleiter. Seine Perspektive beruhigt mich, sie ist mir vertraut und doch wünsche ich mir, ganz heimlich, eines Tages meine eigene Perspektive entwickeln zu können. Kaum ein Mensch im Zug, ich bin ganz allein, möchte Manray jetzt auch noch nicht herausholen. Es fängt an, zu regnen, der Regen schmiert schräge Schlieren über das Fenster. Eine Weile beobachte ich das unregelmäßige Muster der Regenschlieren, es ist ein Tanz,"... wie der Regen sich hinwegschmiert über das schmutzige Zugfenster..." und ich würde gerne wissen, wie hier Regen, Schwerkraft und Bewegung des Zuges zusammenwirken. Draußen alles dunkel und ruhig. Das Fahrtgeräusch schläfert mich ein, es sind unruhige Träume. Umsteigen: Die Kälte macht mich langsam wach, die Menschen interessieren mich, ich beobachte sie, versuche bei manchen zu ergründen, warum sie jetzt hier und nicht woanders sind. Natürlich werde ich es nie ergründen, wie auch. Der Zug fährt wieder an, es entwickelt sich ein nettes Gespräch mit einer Mitreisenden, doch bin ich auch wieder froh, als sie aussteigt und ich mit meinen Gedanken alleine bin. Manray bleibt heute unbeachtet, ich fühle mich zu schwer, um ihm meine Aufmerksamkeit widmen zu können. Die Ankunft: Das Leben ist wieder um mich, warum eigentlich nicht in mir? Das Hotel liegt gleich um die Ecke. Eine nette Dame am Empfang; es sieht alles sauber aus. Das Hotelzimmer: Freundlich, alles vorhanden...Dusche, TV, weiße, unschuldige Wäsche. Hier soll es passieren? Der Blick aus dem Hotelzimmer: Gleise, das leuchtende Rot einer Bahngleisampel blendet mich, ich hör' das Rattern eines einfahrenden Zuges, das Signal für einen abfahrenden Zug und weiß, ich bin angekommen, ...bin ich angekommen? Der Weg ist beendet...zunächst...doch schon in der nächsten Sekunde geht er weiter, mein Weg....zur Ankunft...wie immer, wie bei jedem....
 

Neziri

Mitglied
Orientierungslosigkeit?
Zumindest ist es das, was mir diese Kurzgeschichte vermittelt. Vielleicht auch ein wenig Angst vor der Ungewissheit dessen, was da auf einen zu kommt, auf dem Weg, der vielleicht das Leben ist, auf dem man wandelt, der jedoch seltsam von der eigenen Existenz getrennt ist. Das vermittelt die Geschichte mir.
 

Andrea

Mitglied
4 von10 Punkten

Wieso bringt sich dein Ich um? Zumindest lese ich das aus deinem Text heraus. Naja, im Prinzip wären die Gründe auch eher unwichtig, wenn denn die Gefühlswelt des potentiellen Selbstmord-Ichs übertragen würde.

Ich schätze mal, die kurzen Sätze (entweder gleich kurze Hauptsätze oder eine Satzreihe, deren einzelne Teile auch nicht gerade lang sind), viele davon mit Ich beginnend, sollen die Einsamkeit, Verwirrung und den Kampf, seinen Weg durchzustehen beschreiben. Bei mir wirkt es allerdings sehr steif und ungelenk. Der sprachliche Schliff fehlt mir einfach.

Ach, und wer, was oder wo ist Manray?
 

kio

Mitglied
Sicher hast du schon mal was von Emmanuel Radnitsky gehört. Ein Photograph, Dadaist und Surrealist. Er hat sich " Man Ray" genannt. Ich finde seine Photos absolut gigantisch und faszinierend. "Violin d'ingres", aber auch "èvèlateur" sind meine absoluten Highlights. Aber auch sein Portrait von Jean Cocteau finde ich sehr interessant.
Sicher, mein Stil ist ungeschliffen, aber wäre er geschliffen....aus welcher Richtung auch immer, wäre es nicht mein Stil.
 
Y

Yamiko

Gast
Hallo

Du hast es genau erfasst, und ich war dort in deiner geschichte und konnte alles genauso sehen. Nichts ist ungeschliffen, alles pefekt, so ein quatsch von wegen ungeschliffen! Wenn es dir darauf ankam den leser in sie zu versetzen, dann hast du es wirklich geschafft...
 
L

loona

Gast
Re: 4 von10 Punkten

Ursprünglich veröffentlicht von Andrea
Wieso bringt sich dein Ich um? Zumindest lese ich das aus deinem Text heraus. Naja, im Prinzip wären die Gründe auch eher unwichtig, wenn denn die Gefühlswelt des potentiellen Selbstmord-Ichs übertragen würde.

Ich schätze mal, die kurzen Sätze (entweder gleich kurze Hauptsätze oder eine Satzreihe, deren einzelne Teile auch nicht gerade lang sind), viele davon mit Ich beginnend, sollen die Einsamkeit, Verwirrung und den Kampf, seinen Weg durchzustehen beschreiben. Bei mir wirkt es allerdings sehr steif und ungelenk. Der sprachliche Schliff fehlt mir einfach.
Als ob eine Geschichte in Punkten zu erfassen wäre?

Hi Andrea, erstmal...

Also ich habe dem Text nicht entnommen, daß die Protagonistin sich umbringt. Es ist nur eine Interpretation von einigen möglichen. Und das macht die Geschichte für mich schön: meine eigenen Ideen und Gedanken finden Raum, ich kann meine eigene Sichtweise entwickeln und bekomme sie nicht tafelfertig serviert.

Um mit den Worten eines Kollegen zu sprechen: die meistgehaßte Frage des Malers ist: was haben Sie sich bei dem Bild gedacht? Viel interessanter ist doch das Statement: das habe ich darin gesehen...

Insofern ist Deine Interpretation natürlich ein interessantes Feedback, ebenso, wie die Ausführungen zur Schreibtechnik... Allerdings glaube ich (diskutierender weise ;)), daß die Reihung der Sätze eher instinktiv war, ebenso Kürze und wiederkehrende Momente/Worte... Vielleicht ein Ansatzpunkt, der Geschichte ebenso (und nicht analysierend) zu begegnen?

Es grüßt

loona
 



 
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