Der Weg KG von Thom Delißen

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Der Weg



Michael Turbank hatte sich feste Halbschuhe angezogen, in seinen alten Jeans und einem Baumwollhemd, im Rucksack auf dem Rücken eine Goretexjacke, hatte er sich von Doris, seiner Frau verabschiedet.
Ihr Kuss war flüchtig, wie alles in ihrer Beziehung flüchtig geworden war.
„Ich gehe wandern.“ sagte er. „Den Kopf ein wenig frei bekommen.“
Sie nickte nur und räumte dann weiter den Frühstückstisch ab.
Er öffnete die Fahrertür des alten VW Golfs, warf den Rucksack, in dem sich auch eine Thermoskanne und ein lieblos hergerichtetes Sandwich befanden, auf den Rücksitz.
Stieg ein, sorgfältig darauf achtend, nicht auf den durchgerosteten Einstieg zu treten.
Das nahezu schrottreife Auto sprang widerwillig an – ein neues war längst überfällig.
Er lenkte den Wagen etwa 50 Kilometer die Bundesstraße entlang, fuhr gemütlich, störte sich nicht an den anderen Wagen, die ihn, teilweise bösartig hupend, überholten.
Schließlich war er an seinem Ziel angekommen, parkte auf einem großen Kiesplatz, schulterte den Rucksack und begann den Pfad, den er schon so oft beschritten hatte, er lief leicht bergan, hinauf zu steigen.
Er dachte an den Kuss, den ihm seine Frau gegeben hatte, als er sich verabschiedete.
So lieblos.
Natürlich hatte sie keinen Grund, ihm, gerade jetzt, besonders zärtlich zu begegnen.
Angefangen hatte alles vor zwei Jahren, als Toby, der sechsjährige Sohn, vor einen Traktor stolperte. Der betrunkene Bauer hatte nichts bemerkt.
Er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, doch das brachte Toby nicht zurück.
Seit diesem Tag hatte sich Doris geweigert, ihn zu lieben. Ihn körperlich zu lieben. Ob sie ihn wohl noch irgendwie anders liebte?
Der Weg stieg jetzt steiler bergan, war gesäumt von Ginsterbüschen, die ihn teilweise überwuchert hatten, die Zweige schlugen ihm ins Gesicht.
Er war sehr lange nicht mehr in den Bergen gewandert und spürte nun, wie sein Herz heftig pochte, einzelne Schweißtropfen von seiner Stirn auf die Nase liefen und von dort auf den steinigen Boden tropften.
Es war schwül, der Himmel bewölkt.
Doris hatte damals wochenlang kein Wort mehr gesprochen.
Es war ein furchtbares Zusammenleben gewesen.
Dann war die Sache mit der Schraube passiert. Klar, es war seine Schuld gewesen.
Er arbeitete als Maschinenführer eines Polstereibetriebes für Autoinnenaustattung.
Die Maschine, die er bediente war neu, teuer und hatte zwei Arbeitsplätze gekostet.
Drei Arbeitsplätze, korrigierte er sich, während er einen Fuß nach dem anderen zwischen die Steine des Gerölls setzte, mit beiden Händen die Finger der Büsche auseinander bog.
Die Schraube. Eine sehr große Schraube aus festem Edelstahl.
Er hatte sie neben den Einzugsschacht gelegt und vergessen.
Klar, - er hatte andere Dinge im Kopf.
Der Grabstein für Toby, die Schweigsamkeit seiner Frau, ihr bleiches abgehärmtes Gesicht.
Als er sich umdrehte um ein neues Stück Seidenbezug von der Palette zu nehmen, hatte er ein silbernes Klicken gehört, sich aber nichts weiter dabei gedacht.
Dann, als er die Konstruktion mit einem Knopfdruck zu einem weiteren Arbeitsgang aufforderte, war es passiert. Ein unsinniger Kreischton drang aus dem Werkzeug, Funken sprühten, eine kleine Rauchwolke stieg auf.
Die Edelstahlschraube.
Man hatte ihn befragt, ein leitender Angestellter mit zornesrotem Gesicht, sein Vorarbeiter. Hatte ihm die deformierte Schraube vorgelegt.
Schließlich hatte man seinen Blutalkoholgehalt festgestellt.
Zuviel, viel zuviel.
Doch wer sollte das aushalten, eine Frau daheim, die fast genauso tot war wie ihr Sohn, der fehlende Sex, die fehlende Ansprache?
Er war ohne Abfindung gekündigt worden.
Nun hatte er Zeit zum Bergwandern.
All das lief einen Staffellauf in seinem Gehirn, einen Rundkurs, der schrecklich schmerzte.
Der Pfad war schmaler und steiler geworden, verkrüppelte Fichten säumten ihn jetzt.
Vielleicht sollte er sich von Doris trennen. Ein neues Leben beginnen.
Ganz von vorne anfangen.
Doch da war noch etwas übrig, von der Liebe zu seiner Frau, da war seine Selbstachtung. Versuchte er sich einzureden.
Ein neues Auto. Wenn Miete und Heizung, Strom bezahlt waren, blieb nicht mehr viel. Das Arbeitslosengeld lief aus, bald würden sie von der Sozialhilfe abhängig sein.
Seine Wadenmuskeln begannen zu schmerzen.
„Keinen Krampf jetzt!“
Er hatte die Baumgrenze erreicht, musste schon gute zwei Stunden unterwegs sein.
Da waren nur noch große Steine, Findlinge, loses Geröll.
Wie in seinem Leben.
Nicht mehr weit bis zum Ende.
Die letzten tausend Meter hinauf ging er schneller, vernachlässigte seinen keuchenden Atem, die schmerzenden Muskelfasern.
Schließlich stand er am Rand der Felswand, die hier vielleicht fünfhundert Meter steil auf einen Schutthang abfiel.
Dann ging er weiter.







© t, Delißen 112007
 



 
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