Der Zug

3,00 Stern(e) 1 Stimme
Graue Wolkenschleier bedecken die Stadt. Sintflutartig strömt der Regen nieder. Gerade noch rechtzeitig erwische ich den Bus zum Bahnhof. Meine Lungen brennen noch von der Anstrengung. Der Bus ist ziemlich leer für diese Uhrzeit, aber das ist mir nur recht. Meine nasse Kleidung klebt unangenehm an meinem Körper. Durch die warme Raumluft fühlt es sich noch schlimmer an. Ich versuche möglichst ruhig zu sitzen, damit meine Kleidung nicht zu sehr an meiner Haut zieht. Um mich abzulenken schaue ich aus dem Fenster. Das Wasser flieht von den Scheiben, als wäre etwas Beunruhigendes hinter ihm her. Dieses verdammte Wetter macht mich schwermütiger als mir lieb ist. Als ich endlich am Bahnhof angekommen bin, wirkt das Gebäude auf mich, als wäre es der Welt entrückt. Eine breite Straße liegt zwischen der Bushaltestelle und dem Bahnhofsgebäude, welches zu beiden Seiten von Bäumen, Sträuchern und verschiedenen Pflanzen umgeben ist. Die in dem Gebäude verarbeiteten Backsteine und die Spitzbogenfenster lassen darauf schließen, dass es schon sehr alt ist. Nur vereinzelt befindet sich der Putz noch an der Fassade. Mehrere – im Vergleich zum Gebäude – neu aussehende Glastüren lassen einen Blick auf die Eingangshalle zu. Wie gewohnt öffne ich eine der Türen und betrete die Eingangshalle. Ich muss feststellen, dass immer noch alles genauso verwahrlost ist wie früher. Es enttäuscht mich, da das Gebäude doch schon vor Monaten den Besitzer gewechselt hat. Die Unterführung zu den Gleisen sieht auch nicht besser aus. Zudem stinkt es dort immer so abscheulich nach Schweiß, Alkohol und Exkrementen.
Nur ein paar Minuten muss ich warten bis der Zug kommt, der ausnahmsweise mal keine Verspätung hat. Es ist ein alter Zug, aber das finde ich nicht so schlimm, denn manche dieser Züge haben ihren ganz eigenen Charme. Wir rollen los. Wie immer sitze ich am Fenster. Die triste Landschaft hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Obwohl ich diese Strecke nicht zum ersten Mal fahre, habe ich vorher noch nie so gefühlt. Es ist wie eine Lethargie, die einen plötzlich befällt. Ich spüre meinen Körper, trotzdem fühlt es sich so an, als würde er schlafen. Als würde mein Körper schlafen, obwohl mein Geist hellwach ist. Er wirkt hellwach. Er ist hellwach. Ich bin hellwach. Ich atme die frische Luft, die durch die geöffneten Fenster dringt, kann die anderen Züge vorbei fahren hören. Ich kann durch die Fensterscheibe sehen, wie sie vorbei rasen. Mein Verstand ist nicht verwirrt. Zumindest scheint er klar zu sein. Und doch. Ich nehme alles sehr klar, sehr bewusst war. Alles erscheint mir so real, fast zu real. Ich bin doch bei vollem Bewusstsein, träume nicht. Denn wenn es ein Traum wäre, dann würde ich den kalten Wind, der aus den geöffneten Fenstern zu mir dringt, nicht so genau, so bewusst wahrnehmen können. Nur mein Körper fühlt sich irgendwie kalt an. Nicht leblos, aber kalt. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, geschweige denn aufstehen. Nur meine Augen und auch meinen Kopf kann ich bewegen. Trotzdem spüre ich den Zug mit all meinen Sinnen. Ich spüre das kalte Metall der Zuginnenwand, das harte Polster, auf dem ich sitze, die Plastiklehne, auf der mein Arm ruht. Ich kann sogar spüren, wie der Zug sich nach vorne bewegt, wie er durch die Landschaft rast. Es fühlt sich fast so an, als wäre ich ein Teil des Zuges. Auch diesen typischen, muffigen Geruch, der in allen Zügen herrscht, ganz besonders in den älteren, kann ich riechen. Eigentlich mag ich diesen Geruch nicht, jedoch nehme ich ihn heute anders war als jemals zuvor.

Der Bahnhof liegt jetzt einige Kilometer hinter uns. Immer schneller und schneller fahren wir. Ich habe das Gefühl im Sitz nach hinten gedrückt zu werden. Und wie es aussieht, fühlen auch die anderen Mitreisenden so wie ich, denn jeder sitzt starr in seinem Sitz. Niemand steht mehr. Niemand unterhält sich mehr. Alles ist still. Vollkommen still. Totenstill. Auf manchen Gesichtern kann ich sehen, wie unwohl sich die Personen in diesem Augenblick fühlen. Und dennoch. Dieses Gefühl in den Sitz gedrückt zu werden scheint sehr, sehr weit entfernt zu sein. Es erscheint mir der Nachhall eines Traumes zu sein, den ich einmal hatte, viele Jahre zuvor. Viel näher, viel wirklicher ist ein anderes Gefühl. Ein ganz anderes. Ich habe das Gefühl zu schweben. Nicht zu fliegen, aber durchaus zu schweben. Dieses Gefühl macht einem weiß, dass man keinen Boden mehr unter seinen Füßen hat. Aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Vorwärts, immer weiter vorwärts rollen wir. Erbarmungslos, ohne ein einziges Mal zu halten prescht der Zug nach vorne. Noch nicht einmal der Wind kann ihn stoppen. Uns stoppen.
Düster ist es draußen geworden. Wolken hängen über dem Himmel. Dunkle Wolken. Regenwolken. Es fängt an zu regnen. In strömen. Dieses Wetter macht meine Seele melancholisch. Sie sehnt sich nach Schönheit. Nach innerer, ehrlicher Schönheit. Nach Schönheit, die dem Verstand entspringt. Nach Schönheit, die aus dem Herzen kommt. Nicht nach gekünstelter, nur nach Erfolg orientierter „Schönheit“. Auf diese trifft man ja in diesen Zeiten nur allzu oft. Leider. Es macht mich traurig. Die wenigen Schätze, die es gibt, werden gar nicht oder viel zu wenig beachtet. Diese Leere in meinem Herzen ist unerträglich. Nur der Himmel scheint mich zu verstehen. Vielleicht ist für ihn diese Oberflächlichkeit genauso unerträglich wie für mich. Diese strahlende, glitzernde Welt, die man uns vorgaukelt, in die wir eingebettet sind, ist nichts weiter als bloßer Schein. Schein und Macht, das ist alles, was in dieser kalten, herzlosen Welt zählt. Es ist das Einzige, was in dieser Welt überhaupt noch zählt.

Seit einigen Minuten ist unsere Geschwindigkeit konstant geblieben. Das Gefühl zu schweben ist immer noch da. Ich kann den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren. Und auch den Sitz, indem ich sitze, kann ich nicht mehr spüren. Kein Bahnhof ist in Sicht. Wir fahren immer weiter. Immer weiter vorwärts durch diese unwirkliche Welt. Der Regen peitscht unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Aus den geöffneten Fenstern dringt immer kältere Luft hinein. Kalte Luft in den sowieso schon kalten Raum. Ein Mann vor mir schließt die Fenster. Das traurige Wetter scheint die Lethargie der Menschen aufgehoben zu haben. Überall im Zug hört man Gespräche, Gelächter. Manche Menschen stehen auch. Die Wolken ziehen sich zu, werden immer größer. Immer dunkler. Sie formen sich in hohen Türmen zu riesigen, fast schon gespenstisch anmutenden Gewitterwolken. Von weit her ertönt ein tiefes, dunkles Grollen. Es ist fast nicht wahrnehmbar und doch… Ich spüre es mehr, als dass ich es wirklich höre. Es schleicht sich mir durch Mark und Bein. Dann ertönt ein weiteres Grollen, ein weiterer Donner. Ich kann ihn fast nicht wahrnehmen, so weit entfernt ist er, fast noch weiter, als das Grollen gerade eben, aber ich spüre auch diesen. Ich spüre ihn durch den Zug hindurch. Ein Gefühl streift mich. So plötzlich, wie der Donner nieder kam. Ich schaue aus dem Fenster. Nicht nach oben zu den Wolken, sondern nach unten. Dorthin, wo der Boden seien müsste. Dorthin, wo die Städte seien sollten. Dort ist nichts. Stattdessen fahren wir auf einer Brücke, die sich einige Meter über dem Boden befindet. Was für eine das ist, kann ich nicht sagen. Ich kann nur ihren äußersten Rand sehen. Er sieht aus, als sei er aus Stahl geformt. Um uns herum ist weit und breit nichts. Nur graue Felsen und gelber Sand. Eine gähnende Einöde durchzieht dieses Land. Dort, wo sich eine Stadt befinden sollte. Nein, dort, wo sich mehrere Städte befinden sollten. Wo wir bloß sind? Bisher habe ich so eine Landschaft immer nur in alten Western gesehen. Es kann doch unmöglich in unseren Breitengraden so aussehen. Das ist doch überhaupt nicht möglich! Vielleicht etwa doch? Vielleicht sieht es hier mittlerweile so aus. Vielleicht habe ich es einfach nur nicht mitbekommen. Vielleicht weiß ich auch nicht, was in der Welt sonst noch geschehen ist, wie sie sich sonst verändert hat. Vielleicht schreiben wir mittlerweile ein ganz anderes Jahr, als ich in Erinnerung habe. Komisch, niemand scheint sich an dieser Landschaft zu stören. Alle sind gelassen. Wirken gelassen, kein Stück an unserer Umwelt interessiert. Sie sind alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie auch nur ein klein bisschen von dem, was um sie herum geschieht, mitbekommen würden. Sie müssten doch auch sehen, was ich sehe! Schließlich ist doch niemand von ihnen blind! Aber niemand von den hier anwesenden Personen macht Anstalten, sich über unsere Umwelt zu wundern. Sie lesen Zeitung, unterhalten sich oder schauen gelangweilt aus dem Fenster. Aber niemand ist nervös. Niemand scheint auch nur irgendetwas zu sehen. Wie gerne würde ich doch wissen, was sie sehen, was sie denken, ja sogar, was sie fühlen.
Plötzlich zieht diese trostlose Landschaft immer schneller an uns vorbei. Ich werde noch stärker in den Sitz gepresst. Langsam bekomme ich Angst. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist wieder zurück. Wird immer stärker. Aber es ist kein beruhigendes Gefühl mehr. Es fördert die Angst, die in meinem Herzen gedeiht. Ein Gefühl wie ein innerer Blitz durchzieht meinen Körper. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, welches mir durch Mark und Bein zieht. Von meinem Herzen geht es aus, raubt mir fast den Atem. Ich will schreien. Ich versuche zu schreien, aber es geht nicht. Ich kann noch nicht einmal meinen Mund öffnen. Ich spüre meinen Körper nicht. Ich habe ihn die ganze Fahrt über nicht gespürt. Jetzt erst wird es mir wirklich bewusst. Wo sind wir nur? Warum stört sich keiner an der Landschaft, die dort draußen liegt? Die dort draußen vor unser aller Augen liegt! Bin ich etwa die Einzige, die diese trostlose Landschaft dort sieht? Das kann nicht sein! Die Menschen in diesem Zug müssten doch genügend Verstand haben, um zu erkennen, wie die Welt da draußen aussieht. Um zu erkennen, dass die Welt direkt vor uns unwirklich, wie aus einem Film, aus der Phantasie entsprungen, aussieht! Plötzlich wird meine Atmung flacher. Angst hat sich in mir breit gemacht, durchzieht mich durch und durch. Wir fahren immer schneller. Es ist kein Ende in Sicht. Aber wer sagt, dass es kein Ende gibt? Wir fahren ja schließlich so schnell, dass man kaum noch etwas erkennen kann. Die vielen Regentropfen auf den Scheiben werden vom Fahrtwind hinweggefegt, wie Blätter vom Herbstwind fort getragen werden. Wir fahren schneller, immer und immer schneller. Plötzlich beginnt der Zug zu wackeln. Es hat den Anschein, als ob wir über Kies und Schotter fahren würden. Die Deckenlampen fangen an zu flackern. Der Zug wackelt immer heftiger, bis er fürchterlich wackelt und rumpelt. Es wird immer schlimmer. Hier und da fallen die Deckenlampen hinunter. Überall lösen sich Schrauben, fallen aus ihren Löchern. Der ganze Zug droht auseinander zu bersten. Durch die trockenen Fensterscheiben ist die Landschaft wieder erkennbar. Das Erste, was ich sehe, ist ein Abgrund. Hilfe ihr Götter, wir fahren über einen Abgrund! Niemand stört sich daran! Ich kann nicht genau erkennen, wie weit er in die Tiefe geht. Das einzige, was ich klar erkennen kann ist, dass die Brücke aufhört! Sie hört einfach so auf, als wäre sie nie fertig gestellt worden. Sie hört einfach so auf, ohne jede Vorwarnung. Der Lokführer hätte doch schon von weitem sehen müssen, dass die Brücke mitten über dem Abgrund aufhört. Alle hier können es sehen, dennoch unternimmt niemand etwas. Außer mir sind alle gelassen. Ruhig und gelassen. Wie können die nur? Mir stockt der Atem, meine Kehle schnürt sich zu. Immer weiter und weiter. Ich bekomme kaum noch Luft. Die Angst in mir ist unerträglich. Die Angst abzustürzen. Abzustürzen und ins Leere zu fallen. Ins Nichts zu fallen. Der Zug bremst nicht ab. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende der Brücke hinzu. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende von allem zu. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Ohne auch nur langsamer zu werden. Ohne zu bremsen. Ich kann deutlich spüren, wie der Zug weiter, immer weiter rast! Ich japse nach Luft, aber ich kann nicht atmen. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Angstschweiß überströmt meinen Körper. Gleich werden wir fallen, fallen, fallen! Hilfe ihr Götter, wir fallen! Ich habe so schreckliche Angst, will mich irgendwo festklammern, aber ich finde einfach keinen Halt! Diese unerträgliche Angst. Ich zittere, bin Schweiß überströmt. Der Sturz kommt mir vor wie Tausend unerträgliche Jahre. Mein Herz pocht so heftig. Es fühlt sich an, als würde es jeden Moment aus meiner Brust hüpfen. Die Umgebung geht so langsam an mir vorbei. Ich kann nicht anders, ich muss meine Augen schließen. Jetzt habe ich noch mehr das Gefühl zu schweben als vorher. Ich habe das Gefühl, in meinem Angstschweiß zu ertrinken bevor wir überhaupt in die Nähe des Bodens gelangen. Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Die Angst überrennt mich, füllt mich aus. Mein Geist schwimmt in meinem Körper. Versucht sich dort zu verstecken. Versucht sich dort vor der Wirklichkeit zu verstecken. Plötzlich geht ein heftiger Ruck durch den Zug, ein lautes Krachen erschallt und viele Menschen Schreien. Auch ich schreie. Vor Angst. Ich falle nach vorne, kann mich aber noch an einer Stange in der Nähe der Türen festhalten. Neben mir kann sich noch eine Frau festhalten. Ich wage es nicht, hinunter zuschauen, aber ich tue es trotzdem. Ich kann nichts genaues erkennen, nur ein großer Knubbel schreiender Menschen ist dort. Jeder versucht über möglichst viele Menschen zu klettern und so nach oben zu kriechen. Den meisten gelingt das nicht. Nur einige wenige schaffen das. Einige dieser wenigen Menschen finden keinen Halt. Sie fallen wieder in diesen Knubbel zurück, in diesen Haufen schreiender und wild um sich schlagender Menschen. Dieses Geschrei ist Ohrenbetäubend. Nur mein Herz ist fast noch lauter. Ich kann es hören. Kann fühlen, wie es in meiner Brust pulsiert. Ich zittere. Langsam verlässt mich meine Kraft. Ich kann mich nicht mehr sehr viel länger festhalten. Wenn der Zug nicht bald abstürzt, dann werde auch ich sehr bald ein Teil dieses menschenfressenden Mobs sein, der dort unten wütet. Meine Hände sind nass geschwitzt. Langsam aber sicher lösen sie sich von der Stange. Ich kann nichts dagegen tun. Die Zeit kommt mir so unerträglich lang vor. Vielleicht hat sich der Zug ja in der Brücke verkeilt. Vielleicht hängen wir in der Luft. Ich habe Angst. Unbeschreiblich große Angst. Plötzlich höre ich ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen. Meine Angst ist unerträglich groß. Mein Herz rast noch wilder als jemals zuvor. Mein Verstand weiß, ich weiß, dass der Zug in diesem Moment den Boden des Abgrundes berührt. Alles ist so schnell vorbei. Es kommt mir wie ein verschwindend kleiner Bruchteil einer Sekunde vor. Im einen Moment werde ich von dem Mob verschlungen, im Nächsten bin ich in einem Tunnel. Ein warmes, weißes Licht taucht plötzlich vor meinen Augen auf. Stille. Endlose Stille. Beruhigende Stille.
 
S

Steky

Gast
Die ersten paar Sätze klingen alle gleich und machen den Anfang deiner Geschichte plump. Der Anfang ist das Wichtigste einer Geschichte, weil sich darin entscheidet, ob man weiterliest oder nicht.
LG Steky
 
Gerade noch rechtzeitig erwische ich den Bus zum Bahnhof. Meine Lungen brennen noch von der Anstrengung. Der Bus ist ziemlich leer für diese Uhrzeit, aber das ist mir nur recht. Meine vom Regen durchnässte Kleidung klebt unangenehm an meinem Körper. Durch die warme Raumluft fühlt es sich noch schlimmer an. Ich versuche möglichst ruhig zu sitzen, damit meine Kleidung nicht zu sehr an meiner Haut zieht. Um mich abzulenken schaue ich aus dem Fenster. Das Wasser flieht von den Scheiben, als wäre etwas Beunruhigendes hinter ihm her. Dieses verdammte Wetter macht mich schwermütiger als mir lieb ist. Als ich endlich am Bahnhof angekommen bin, wirkt das Gebäude auf mich, als wäre es der Welt entrückt. Eine breite Straße liegt zwischen der Bushaltestelle und dem Bahnhofsgebäude, welches zu beiden Seiten von Bäumen, Sträuchern und verschiedenen Pflanzen umgeben ist. Die in dem Gebäude verarbeiteten Backsteine und die Spitzbogenfenster lassen darauf schließen, dass es schon sehr alt ist. Nur vereinzelt befindet sich der Putz noch an der Fassade. Mehrere – im Vergleich zum Gebäude – neu aussehende Glastüren lassen einen Blick auf die Eingangshalle zu. Wie gewohnt öffne ich eine der Türen und betrete die Eingangshalle. Ich muss feststellen, dass immer noch alles genauso verwahrlost ist wie früher. Es enttäuscht mich, da das Gebäude doch schon vor Monaten den Besitzer gewechselt hat. Die Unterführung zu den Gleisen sieht auch nicht besser aus. Zudem stinkt es dort immer so abscheulich nach Schweiß, Alkohol und Exkrementen.
Nur ein paar Minuten muss ich warten bis der Zug kommt, der ausnahmsweise mal keine Verspätung hat. Es ist ein alter Zug, aber das finde ich nicht so schlimm, denn manche dieser Züge haben ihren ganz eigenen Charme. Wir rollen los. Wie immer sitze ich am Fenster. Die triste Landschaft hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Obwohl ich diese Strecke nicht zum ersten Mal fahre, habe ich vorher noch nie so gefühlt. Es ist wie eine Lethargie, die einen plötzlich befällt. Ich spüre meinen Körper, trotzdem fühlt es sich so an, als würde er schlafen. Als würde mein Körper schlafen, obwohl mein Geist hellwach ist. Er wirkt hellwach. Er ist hellwach. Ich bin hellwach. Ich atme die frische Luft, die durch die geöffneten Fenster dringt, kann die anderen Züge vorbei fahren hören. Ich kann durch die Fensterscheibe sehen, wie sie vorbei rasen. Mein Verstand ist nicht verwirrt. Zumindest scheint er klar zu sein. Und doch. Ich nehme alles sehr klar, sehr bewusst war. Alles erscheint mir so real, fast zu real. Ich bin doch bei vollem Bewusstsein, träume nicht. Denn wenn es ein Traum wäre, dann würde ich den kalten Wind, der aus den geöffneten Fenstern zu mir dringt, nicht so genau, so bewusst wahrnehmen können. Nur mein Körper fühlt sich irgendwie kalt an. Nicht leblos, aber kalt. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, geschweige denn aufstehen. Nur meine Augen und auch meinen Kopf kann ich bewegen. Trotzdem spüre ich den Zug mit all meinen Sinnen. Ich spüre das kalte Metall der Zuginnenwand, das harte Polster, auf dem ich sitze, die Plastiklehne, auf der mein Arm ruht. Ich kann sogar spüren, wie der Zug sich nach vorne bewegt, wie er durch die Landschaft rast. Es fühlt sich fast so an, als wäre ich ein Teil des Zuges. Auch diesen typischen, muffigen Geruch, der in allen Zügen herrscht, ganz besonders in den älteren, kann ich riechen. Eigentlich mag ich diesen Geruch nicht, jedoch nehme ich ihn heute anders war als jemals zuvor.

Der Bahnhof liegt jetzt einige Kilometer hinter uns. Immer schneller und schneller fahren wir. Ich habe das Gefühl im Sitz nach hinten gedrückt zu werden. Und wie es aussieht, fühlen auch die anderen Mitreisenden so wie ich, denn jeder sitzt starr in seinem Sitz. Niemand steht mehr. Niemand unterhält sich mehr. Alles ist still. Vollkommen still. Totenstill. Auf manchen Gesichtern kann ich sehen, wie unwohl sich die Personen in diesem Augenblick fühlen. Und dennoch. Dieses Gefühl in den Sitz gedrückt zu werden scheint sehr, sehr weit entfernt zu sein. Es erscheint mir der Nachhall eines Traumes zu sein, den ich einmal hatte, viele Jahre zuvor. Viel näher, viel wirklicher ist ein anderes Gefühl. Ein ganz anderes. Ich habe das Gefühl zu schweben. Nicht zu fliegen, aber durchaus zu schweben. Dieses Gefühl macht einem weiß, dass man keinen Boden mehr unter seinen Füßen hat. Aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Vorwärts, immer weiter vorwärts rollen wir. Erbarmungslos, ohne ein einziges Mal zu halten prescht der Zug nach vorne. Noch nicht einmal der Wind kann ihn stoppen. Uns stoppen.
Düster ist es draußen geworden. Wolken hängen über dem Himmel. Dunkle Wolken. Regenwolken. Es fängt an zu regnen. In strömen. Dieses Wetter macht meine Seele melancholisch. Sie sehnt sich nach Schönheit. Nach innerer, ehrlicher Schönheit. Nach Schönheit, die dem Verstand entspringt. Nach Schönheit, die aus dem Herzen kommt. Nicht nach gekünstelter, nur nach Erfolg orientierter „Schönheit“. Auf diese trifft man ja in diesen Zeiten nur allzu oft. Leider. Es macht mich traurig. Die wenigen Schätze, die es gibt, werden gar nicht oder viel zu wenig beachtet. Diese Leere in meinem Herzen ist unerträglich. Nur der Himmel scheint mich zu verstehen. Vielleicht ist für ihn diese Oberflächlichkeit genauso unerträglich wie für mich. Diese strahlende, glitzernde Welt, die man uns vorgaukelt, in die wir eingebettet sind, ist nichts weiter als bloßer Schein. Schein und Macht, das ist alles, was in dieser kalten, herzlosen Welt zählt. Es ist das Einzige, was in dieser Welt überhaupt noch zählt.

Seit einigen Minuten ist unsere Geschwindigkeit konstant geblieben. Das Gefühl zu schweben ist immer noch da. Ich kann den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren. Und auch den Sitz, indem ich sitze, kann ich nicht mehr spüren. Kein Bahnhof ist in Sicht. Wir fahren immer weiter. Immer weiter vorwärts durch diese unwirkliche Welt. Der Regen peitscht unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Aus den geöffneten Fenstern dringt immer kältere Luft hinein. Kalte Luft in den sowieso schon kalten Raum. Ein Mann vor mir schließt die Fenster. Das traurige Wetter scheint die Lethargie der Menschen aufgehoben zu haben. Überall im Zug hört man Gespräche, Gelächter. Manche Menschen stehen auch. Die Wolken ziehen sich zu, werden immer größer. Immer dunkler. Sie formen sich in hohen Türmen zu riesigen, fast schon gespenstisch anmutenden Gewitterwolken. Von weit her ertönt ein tiefes, dunkles Grollen. Es ist fast nicht wahrnehmbar und doch… Ich spüre es mehr, als dass ich es wirklich höre. Es schleicht sich mir durch Mark und Bein. Dann ertönt ein weiteres Grollen, ein weiterer Donner. Ich kann ihn fast nicht wahrnehmen, so weit entfernt ist er, fast noch weiter, als das Grollen gerade eben, aber ich spüre auch diesen. Ich spüre ihn durch den Zug hindurch. Ein Gefühl streift mich. So plötzlich, wie der Donner nieder kam. Ich schaue aus dem Fenster. Nicht nach oben zu den Wolken, sondern nach unten. Dorthin, wo der Boden seien müsste. Dorthin, wo die Städte seien sollten. Dort ist nichts. Stattdessen fahren wir auf einer Brücke, die sich einige Meter über dem Boden befindet. Was für eine das ist, kann ich nicht sagen. Ich kann nur ihren äußersten Rand sehen. Er sieht aus, als sei er aus Stahl geformt. Um uns herum ist weit und breit nichts. Nur graue Felsen und gelber Sand. Eine gähnende Einöde durchzieht dieses Land. Dort, wo sich eine Stadt befinden sollte. Nein, dort, wo sich mehrere Städte befinden sollten. Wo wir bloß sind? Bisher habe ich so eine Landschaft immer nur in alten Western gesehen. Es kann doch unmöglich in unseren Breitengraden so aussehen. Das ist doch überhaupt nicht möglich! Vielleicht etwa doch? Vielleicht sieht es hier mittlerweile so aus. Vielleicht habe ich es einfach nur nicht mitbekommen. Vielleicht weiß ich auch nicht, was in der Welt sonst noch geschehen ist, wie sie sich sonst verändert hat. Vielleicht schreiben wir mittlerweile ein ganz anderes Jahr, als ich in Erinnerung habe. Komisch, niemand scheint sich an dieser Landschaft zu stören. Alle sind gelassen. Wirken gelassen, kein Stück an unserer Umwelt interessiert. Sie sind alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie auch nur ein klein bisschen von dem, was um sie herum geschieht, mitbekommen würden. Sie müssten doch auch sehen, was ich sehe! Schließlich ist doch niemand von ihnen blind! Aber niemand von den hier anwesenden Personen macht Anstalten, sich über unsere Umwelt zu wundern. Sie lesen Zeitung, unterhalten sich oder schauen gelangweilt aus dem Fenster. Aber niemand ist nervös. Niemand scheint auch nur irgendetwas zu sehen. Wie gerne würde ich doch wissen, was sie sehen, was sie denken, ja sogar, was sie fühlen.
Plötzlich zieht diese trostlose Landschaft immer schneller an uns vorbei. Ich werde noch stärker in den Sitz gepresst. Langsam bekomme ich Angst. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist wieder zurück. Wird immer stärker. Aber es ist kein beruhigendes Gefühl mehr. Es fördert die Angst, die in meinem Herzen gedeiht. Ein Gefühl wie ein innerer Blitz durchzieht meinen Körper. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, welches mir durch Mark und Bein zieht. Von meinem Herzen geht es aus, raubt mir fast den Atem. Ich will schreien. Ich versuche zu schreien, aber es geht nicht. Ich kann noch nicht einmal meinen Mund öffnen. Ich spüre meinen Körper nicht. Ich habe ihn die ganze Fahrt über nicht gespürt. Jetzt erst wird es mir wirklich bewusst. Wo sind wir nur? Warum stört sich keiner an der Landschaft, die dort draußen liegt? Die dort draußen vor unser aller Augen liegt! Bin ich etwa die Einzige, die diese trostlose Landschaft dort sieht? Das kann nicht sein! Die Menschen in diesem Zug müssten doch genügend Verstand haben, um zu erkennen, wie die Welt da draußen aussieht. Um zu erkennen, dass die Welt direkt vor uns unwirklich, wie aus einem Film, aus der Phantasie entsprungen, aussieht! Plötzlich wird meine Atmung flacher. Angst hat sich in mir breit gemacht, durchzieht mich durch und durch. Wir fahren immer schneller. Es ist kein Ende in Sicht. Aber wer sagt, dass es kein Ende gibt? Wir fahren ja schließlich so schnell, dass man kaum noch etwas erkennen kann. Die vielen Regentropfen auf den Scheiben werden vom Fahrtwind hinweggefegt, wie Blätter vom Herbstwind fort getragen werden. Wir fahren schneller, immer und immer schneller. Plötzlich beginnt der Zug zu wackeln. Es hat den Anschein, als ob wir über Kies und Schotter fahren würden. Die Deckenlampen fangen an zu flackern. Der Zug wackelt immer heftiger, bis er fürchterlich wackelt und rumpelt. Es wird immer schlimmer. Hier und da fallen die Deckenlampen hinunter. Überall lösen sich Schrauben, fallen aus ihren Löchern. Der ganze Zug droht auseinander zu bersten. Durch die trockenen Fensterscheiben ist die Landschaft wieder erkennbar. Das Erste, was ich sehe, ist ein Abgrund. Hilfe ihr Götter, wir fahren über einen Abgrund! Niemand stört sich daran! Ich kann nicht genau erkennen, wie weit er in die Tiefe geht. Das einzige, was ich klar erkennen kann ist, dass die Brücke aufhört! Sie hört einfach so auf, als wäre sie nie fertig gestellt worden. Sie hört einfach so auf, ohne jede Vorwarnung. Der Lokführer hätte doch schon von weitem sehen müssen, dass die Brücke mitten über dem Abgrund aufhört. Alle hier können es sehen, dennoch unternimmt niemand etwas. Außer mir sind alle gelassen. Ruhig und gelassen. Wie können die nur? Mir stockt der Atem, meine Kehle schnürt sich zu. Immer weiter und weiter. Ich bekomme kaum noch Luft. Die Angst in mir ist unerträglich. Die Angst abzustürzen. Abzustürzen und ins Leere zu fallen. Ins Nichts zu fallen. Der Zug bremst nicht ab. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende der Brücke hinzu. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende von allem zu. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Ohne auch nur langsamer zu werden. Ohne zu bremsen. Ich kann deutlich spüren, wie der Zug weiter, immer weiter rast! Ich japse nach Luft, aber ich kann nicht atmen. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Angstschweiß überströmt meinen Körper. Gleich werden wir fallen, fallen, fallen! Hilfe ihr Götter, wir fallen! Ich habe so schreckliche Angst, will mich irgendwo festklammern, aber ich finde einfach keinen Halt! Diese unerträgliche Angst. Ich zittere, bin Schweiß überströmt. Der Sturz kommt mir vor wie Tausend unerträgliche Jahre. Mein Herz pocht so heftig. Es fühlt sich an, als würde es jeden Moment aus meiner Brust hüpfen. Die Umgebung geht so langsam an mir vorbei. Ich kann nicht anders, ich muss meine Augen schließen. Jetzt habe ich noch mehr das Gefühl zu schweben als vorher. Ich habe das Gefühl, in meinem Angstschweiß zu ertrinken bevor wir überhaupt in die Nähe des Bodens gelangen. Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Die Angst überrennt mich, füllt mich aus. Mein Geist schwimmt in meinem Körper. Versucht sich dort zu verstecken. Versucht sich dort vor der Wirklichkeit zu verstecken. Plötzlich geht ein heftiger Ruck durch den Zug, ein lautes Krachen erschallt und viele Menschen Schreien. Auch ich schreie. Vor Angst. Ich falle nach vorne, kann mich aber noch an einer Stange in der Nähe der Türen festhalten. Neben mir kann sich noch eine Frau festhalten. Ich wage es nicht, hinunter zuschauen, aber ich tue es trotzdem. Ich kann nichts genaues erkennen, nur ein großer Knubbel schreiender Menschen ist dort. Jeder versucht über möglichst viele Menschen zu klettern und so nach oben zu kriechen. Den meisten gelingt das nicht. Nur einige wenige schaffen das. Einige dieser wenigen Menschen finden keinen Halt. Sie fallen wieder in diesen Knubbel zurück, in diesen Haufen schreiender und wild um sich schlagender Menschen. Dieses Geschrei ist Ohrenbetäubend. Nur mein Herz ist fast noch lauter. Ich kann es hören. Kann fühlen, wie es in meiner Brust pulsiert. Ich zittere. Langsam verlässt mich meine Kraft. Ich kann mich nicht mehr sehr viel länger festhalten. Wenn der Zug nicht bald abstürzt, dann werde auch ich sehr bald ein Teil dieses menschenfressenden Mobs sein, der dort unten wütet. Meine Hände sind nass geschwitzt. Langsam aber sicher lösen sie sich von der Stange. Ich kann nichts dagegen tun. Die Zeit kommt mir so unerträglich lang vor. Vielleicht hat sich der Zug ja in der Brücke verkeilt. Vielleicht hängen wir in der Luft. Ich habe Angst. Unbeschreiblich große Angst. Plötzlich höre ich ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen. Meine Angst ist unerträglich groß. Mein Herz rast noch wilder als jemals zuvor. Mein Verstand weiß, ich weiß, dass der Zug in diesem Moment den Boden des Abgrundes berührt. Alles ist so schnell vorbei. Es kommt mir wie ein verschwindend kleiner Bruchteil einer Sekunde vor. Im einen Moment werde ich von dem Mob verschlungen, im Nächsten bin ich in einem Tunnel. Ein warmes, weißes Licht taucht plötzlich vor meinen Augen auf. Stille. Endlose Stille. Beruhigende Stille.
 
A

Architheutis

Gast
Hallo und Willkommen Drachenprinzessin,

einige Anregungen zu Deinem Text:

- Kommaregeln beachten

Das Wasser flieht von den Scheiben, als wäre etwas Beunruhigendes hinter ihm her.
Ein an sich guter Satz. Du hast eine gute Beobachtungsgabe und kannst sie auch in treffende Worte fassen. Wir müssen halt immer aufpassen, dass der Gedanke, den wir für unglaublich toll halten, zum Kontext passt.

Hier passt er nicht - meine Meinung. Aber toll ist der Satz trotzdem. ;-)

Mehrere – im Vergleich zum Gebäude – neu aussehende Glastüren lassen einen Blick auf die Eingangshalle zu.
Gedankenstriche setzen eine gewichtige Pause. Hier reichten Kommas.

Die Unterführung zu den Gleisen sieht auch nicht besser aus. Zudem stinkt es dort immer so abscheulich nach Schweiß, Alkohol und Exkrementen.
Unterführungen riechen nie gut, aber nach Schweiß?

usw...

Stekys Einwand ist berechtigt, Dein Satzbau wirkt etwas hölzern. Gut finde ich aber Dein grundsätzliches Beobachtungsgeschick. Da lässt sich was draus machen. ;-)

Lieben Gruß,
Archi
 
Gerade noch rechtzeitig erwische ich den Bus zum Bahnhof. Meine Lungen brennen noch von der Anstrengung. Der Bus ist ziemlich leer für diese Uhrzeit, aber das ist mir nur recht. Meine vom Regen durchnässte Kleidung klebt unangenehm an meinem Körper. Durch die warme Raumluft fühlt es sich noch schlimmer an. Ich versuche möglichst ruhig zu sitzen, damit meine Kleidung nicht zu sehr an meiner Haut zieht. Um mich abzulenken schaue ich aus dem Fenster. Das Wasser flieht von den Scheiben, als wäre etwas Beunruhigendes hinter ihm her. Dieses verdammte Wetter macht mich schwermütiger als mir lieb ist. Als ich endlich am Bahnhof angekommen bin, wirkt das Gebäude auf mich, als wäre es der Welt entrückt. Eine breite Straße liegt zwischen der Bushaltestelle und dem Bahnhofsgebäude, welches zu beiden Seiten von Bäumen, Sträuchern und verschiedenen Pflanzen umgeben ist. Die in dem Gebäude verarbeiteten Backsteine und die Spitzbogenfenster lassen darauf schließen, dass es schon sehr alt ist. Nur vereinzelt befindet sich der Putz noch an der Fassade. Mehrere, im Vergleich zum Gebäude, neu aussehende Glastüren lassen einen Blick auf die Eingangshalle zu. Wie gewohnt öffne ich eine der Türen und betrete die Eingangshalle. Ich muss feststellen, dass immer noch alles genauso verwahrlost ist wie früher. Es enttäuscht mich, da das Gebäude doch schon vor Monaten den Besitzer gewechselt hat. Die Unterführung zu den Gleisen sieht auch nicht besser aus. Zudem stinkt es dort immer so abscheulich nach Alkohol und Exkrementen.
Nur ein paar Minuten muss ich warten bis der Zug kommt, der ausnahmsweise mal keine Verspätung hat. Es ist ein alter Zug, aber das finde ich nicht so schlimm, denn manche dieser Züge haben ihren ganz eigenen Charme. Wir rollen los. Wie immer sitze ich am Fenster. Die triste Landschaft hat eine eigenartige Wirkung auf mich. Obwohl ich diese Strecke nicht zum ersten Mal fahre, habe ich vorher noch nie so gefühlt. Es ist wie eine Lethargie, die einen plötzlich befällt. Ich spüre meinen Körper, trotzdem fühlt es sich so an, als würde er schlafen. Als würde mein Körper schlafen, obwohl mein Geist hellwach ist. Er wirkt hellwach. Er ist hellwach. Ich bin hellwach. Ich atme die frische Luft, die durch die geöffneten Fenster dringt, kann die anderen Züge vorbei fahren hören. Ich kann durch die Fensterscheibe sehen, wie sie vorbei rasen. Mein Verstand ist nicht verwirrt. Zumindest scheint er klar zu sein. Und doch. Ich nehme alles sehr klar, sehr bewusst war. Alles erscheint mir so real, fast zu real. Ich bin doch bei vollem Bewusstsein, träume nicht. Denn wenn es ein Traum wäre, dann würde ich den kalten Wind, der aus den geöffneten Fenstern zu mir dringt, nicht so genau, so bewusst wahrnehmen können. Nur mein Körper fühlt sich irgendwie kalt an. Nicht leblos, aber kalt. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen, geschweige denn aufstehen. Nur meine Augen und auch meinen Kopf kann ich bewegen. Trotzdem spüre ich den Zug mit all meinen Sinnen. Ich spüre das kalte Metall der Zuginnenwand, das harte Polster, auf dem ich sitze, die Plastiklehne, auf der mein Arm ruht. Ich kann sogar spüren, wie der Zug sich nach vorne bewegt, wie er durch die Landschaft rast. Es fühlt sich fast so an, als wäre ich ein Teil des Zuges. Auch diesen typischen, muffigen Geruch, der in allen Zügen herrscht, ganz besonders in den älteren, kann ich riechen. Eigentlich mag ich diesen Geruch nicht, jedoch nehme ich ihn heute anders war als jemals zuvor.

Der Bahnhof liegt jetzt einige Kilometer hinter uns. Immer schneller und schneller fahren wir. Ich habe das Gefühl im Sitz nach hinten gedrückt zu werden. Und wie es aussieht, fühlen auch die anderen Mitreisenden so wie ich, denn jeder sitzt starr in seinem Sitz. Niemand steht mehr. Niemand unterhält sich mehr. Alles ist still. Vollkommen still. Totenstill. Auf manchen Gesichtern kann ich sehen, wie unwohl sich die Personen in diesem Augenblick fühlen. Und dennoch. Dieses Gefühl in den Sitz gedrückt zu werden scheint sehr, sehr weit entfernt zu sein. Es erscheint mir der Nachhall eines Traumes zu sein, den ich einmal hatte, viele Jahre zuvor. Viel näher, viel wirklicher ist ein anderes Gefühl. Ein ganz anderes. Ich habe das Gefühl zu schweben. Nicht zu fliegen, aber durchaus zu schweben. Dieses Gefühl macht einem weiß, dass man keinen Boden mehr unter seinen Füßen hat. Aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Vorwärts, immer weiter vorwärts rollen wir. Erbarmungslos, ohne ein einziges Mal zu halten prescht der Zug nach vorne. Noch nicht einmal der Wind kann ihn stoppen. Uns stoppen.
Düster ist es draußen geworden. Wolken hängen über dem Himmel. Dunkle Wolken. Regenwolken. Es fängt an zu regnen. In strömen. Dieses Wetter macht meine Seele melancholisch. Sie sehnt sich nach Schönheit. Nach innerer, ehrlicher Schönheit. Nach Schönheit, die dem Verstand entspringt. Nach Schönheit, die aus dem Herzen kommt. Nicht nach gekünstelter, nur nach Erfolg orientierter „Schönheit“. Auf diese trifft man ja in diesen Zeiten nur allzu oft. Leider. Es macht mich traurig. Die wenigen Schätze, die es gibt, werden gar nicht oder viel zu wenig beachtet. Diese Leere in meinem Herzen ist unerträglich. Nur der Himmel scheint mich zu verstehen. Vielleicht ist für ihn diese Oberflächlichkeit genauso unerträglich wie für mich. Diese strahlende, glitzernde Welt, die man uns vorgaukelt, in die wir eingebettet sind, ist nichts weiter als bloßer Schein. Schein und Macht, das ist alles, was in dieser kalten, herzlosen Welt zählt. Es ist das Einzige, was in dieser Welt überhaupt noch zählt.

Seit einigen Minuten ist unsere Geschwindigkeit konstant geblieben. Das Gefühl zu schweben ist immer noch da. Ich kann den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spüren. Und auch den Sitz, indem ich sitze, kann ich nicht mehr spüren. Kein Bahnhof ist in Sicht. Wir fahren immer weiter. Immer weiter vorwärts durch diese unwirkliche Welt. Der Regen peitscht unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Aus den geöffneten Fenstern dringt immer kältere Luft hinein. Kalte Luft in den sowieso schon kalten Raum. Ein Mann vor mir schließt die Fenster. Das traurige Wetter scheint die Lethargie der Menschen aufgehoben zu haben. Überall im Zug hört man Gespräche, Gelächter. Manche Menschen stehen auch. Die Wolken ziehen sich zu, werden immer größer. Immer dunkler. Sie formen sich in hohen Türmen zu riesigen, fast schon gespenstisch anmutenden Gewitterwolken. Von weit her ertönt ein tiefes, dunkles Grollen. Es ist fast nicht wahrnehmbar und doch… Ich spüre es mehr, als dass ich es wirklich höre. Es schleicht sich mir durch Mark und Bein. Dann ertönt ein weiteres Grollen, ein weiterer Donner. Ich kann ihn fast nicht wahrnehmen, so weit entfernt ist er, fast noch weiter, als das Grollen gerade eben, aber ich spüre auch diesen. Ich spüre ihn durch den Zug hindurch. Ein Gefühl streift mich. So plötzlich, wie der Donner nieder kam. Ich schaue aus dem Fenster. Nicht nach oben zu den Wolken, sondern nach unten. Dorthin, wo der Boden seien müsste. Dorthin, wo die Städte seien sollten. Dort ist nichts. Stattdessen fahren wir auf einer Brücke, die sich einige Meter über dem Boden befindet. Was für eine das ist, kann ich nicht sagen. Ich kann nur ihren äußersten Rand sehen. Er sieht aus, als sei er aus Stahl geformt. Um uns herum ist weit und breit nichts. Nur graue Felsen und gelber Sand. Eine gähnende Einöde durchzieht dieses Land. Dort, wo sich eine Stadt befinden sollte. Nein, dort, wo sich mehrere Städte befinden sollten. Wo wir bloß sind? Bisher habe ich so eine Landschaft immer nur in alten Western gesehen. Es kann doch unmöglich in unseren Breitengraden so aussehen. Das ist doch überhaupt nicht möglich! Vielleicht etwa doch? Vielleicht sieht es hier mittlerweile so aus. Vielleicht habe ich es einfach nur nicht mitbekommen. Vielleicht weiß ich auch nicht, was in der Welt sonst noch geschehen ist, wie sie sich sonst verändert hat. Vielleicht schreiben wir mittlerweile ein ganz anderes Jahr, als ich in Erinnerung habe. Komisch, niemand scheint sich an dieser Landschaft zu stören. Alle sind gelassen. Wirken gelassen, kein Stück an unserer Umwelt interessiert. Sie sind alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie auch nur ein klein bisschen von dem, was um sie herum geschieht, mitbekommen würden. Sie müssten doch auch sehen, was ich sehe! Schließlich ist doch niemand von ihnen blind! Aber niemand von den hier anwesenden Personen macht Anstalten, sich über unsere Umwelt zu wundern. Sie lesen Zeitung, unterhalten sich oder schauen gelangweilt aus dem Fenster. Aber niemand ist nervös. Niemand scheint auch nur irgendetwas zu sehen. Wie gerne würde ich doch wissen, was sie sehen, was sie denken, ja sogar, was sie fühlen.
Plötzlich zieht diese trostlose Landschaft immer schneller an uns vorbei. Ich werde noch stärker in den Sitz gepresst. Langsam bekomme ich Angst. Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, ist wieder zurück. Wird immer stärker. Aber es ist kein beruhigendes Gefühl mehr. Es fördert die Angst, die in meinem Herzen gedeiht. Ein Gefühl wie ein innerer Blitz durchzieht meinen Körper. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, welches mir durch Mark und Bein zieht. Von meinem Herzen geht es aus, raubt mir fast den Atem. Ich will schreien. Ich versuche zu schreien, aber es geht nicht. Ich kann noch nicht einmal meinen Mund öffnen. Ich spüre meinen Körper nicht. Ich habe ihn die ganze Fahrt über nicht gespürt. Jetzt erst wird es mir wirklich bewusst. Wo sind wir nur? Warum stört sich keiner an der Landschaft, die dort draußen liegt? Die dort draußen vor unser aller Augen liegt! Bin ich etwa die Einzige, die diese trostlose Landschaft dort sieht? Das kann nicht sein! Die Menschen in diesem Zug müssten doch genügend Verstand haben, um zu erkennen, wie die Welt da draußen aussieht. Um zu erkennen, dass die Welt direkt vor uns unwirklich, wie aus einem Film, aus der Phantasie entsprungen, aussieht! Plötzlich wird meine Atmung flacher. Angst hat sich in mir breit gemacht, durchzieht mich durch und durch. Wir fahren immer schneller. Es ist kein Ende in Sicht. Aber wer sagt, dass es kein Ende gibt? Wir fahren ja schließlich so schnell, dass man kaum noch etwas erkennen kann. Die vielen Regentropfen auf den Scheiben werden vom Fahrtwind hinweggefegt, wie Blätter vom Herbstwind fort getragen werden. Wir fahren schneller, immer und immer schneller. Plötzlich beginnt der Zug zu wackeln. Es hat den Anschein, als ob wir über Kies und Schotter fahren würden. Die Deckenlampen fangen an zu flackern. Der Zug wackelt immer heftiger, bis er fürchterlich wackelt und rumpelt. Es wird immer schlimmer. Hier und da fallen die Deckenlampen hinunter. Überall lösen sich Schrauben, fallen aus ihren Löchern. Der ganze Zug droht auseinander zu bersten. Durch die trockenen Fensterscheiben ist die Landschaft wieder erkennbar. Das Erste, was ich sehe, ist ein Abgrund. Hilfe ihr Götter, wir fahren über einen Abgrund! Niemand stört sich daran! Ich kann nicht genau erkennen, wie weit er in die Tiefe geht. Das einzige, was ich klar erkennen kann ist, dass die Brücke aufhört! Sie hört einfach so auf, als wäre sie nie fertig gestellt worden. Sie hört einfach so auf, ohne jede Vorwarnung. Der Lokführer hätte doch schon von weitem sehen müssen, dass die Brücke mitten über dem Abgrund aufhört. Alle hier können es sehen, dennoch unternimmt niemand etwas. Außer mir sind alle gelassen. Ruhig und gelassen. Wie können die nur? Mir stockt der Atem, meine Kehle schnürt sich zu. Immer weiter und weiter. Ich bekomme kaum noch Luft. Die Angst in mir ist unerträglich. Die Angst abzustürzen. Abzustürzen und ins Leere zu fallen. Ins Nichts zu fallen. Der Zug bremst nicht ab. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende der Brücke hinzu. Er fährt mit derselben Geschwindigkeit auf das Ende von allem zu. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Ohne auch nur langsamer zu werden. Ohne zu bremsen. Ich kann deutlich spüren, wie der Zug weiter, immer weiter rast! Ich japse nach Luft, aber ich kann nicht atmen. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Angstschweiß überströmt meinen Körper. Gleich werden wir fallen, fallen, fallen! Hilfe ihr Götter, wir fallen! Ich habe so schreckliche Angst, will mich irgendwo festklammern, aber ich finde einfach keinen Halt! Diese unerträgliche Angst. Ich zittere, bin Schweiß überströmt. Der Sturz kommt mir vor wie Tausend unerträgliche Jahre. Mein Herz pocht so heftig. Es fühlt sich an, als würde es jeden Moment aus meiner Brust hüpfen. Die Umgebung geht so langsam an mir vorbei. Ich kann nicht anders, ich muss meine Augen schließen. Jetzt habe ich noch mehr das Gefühl zu schweben als vorher. Ich habe das Gefühl, in meinem Angstschweiß zu ertrinken bevor wir überhaupt in die Nähe des Bodens gelangen. Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Die Angst überrennt mich, füllt mich aus. Mein Geist schwimmt in meinem Körper. Versucht sich dort zu verstecken. Versucht sich dort vor der Wirklichkeit zu verstecken. Plötzlich geht ein heftiger Ruck durch den Zug, ein lautes Krachen erschallt und viele Menschen Schreien. Auch ich schreie. Vor Angst. Ich falle nach vorne, kann mich aber noch an einer Stange in der Nähe der Türen festhalten. Neben mir kann sich noch eine Frau festhalten. Ich wage es nicht, hinunter zuschauen, aber ich tue es trotzdem. Ich kann nichts genaues erkennen, nur ein großer Knubbel schreiender Menschen ist dort. Jeder versucht über möglichst viele Menschen zu klettern und so nach oben zu kriechen. Den meisten gelingt das nicht. Nur einige wenige schaffen das. Einige dieser wenigen Menschen finden keinen Halt. Sie fallen wieder in diesen Knubbel zurück, in diesen Haufen schreiender und wild um sich schlagender Menschen. Dieses Geschrei ist Ohrenbetäubend. Nur mein Herz ist fast noch lauter. Ich kann es hören. Kann fühlen, wie es in meiner Brust pulsiert. Ich zittere. Langsam verlässt mich meine Kraft. Ich kann mich nicht mehr sehr viel länger festhalten. Wenn der Zug nicht bald abstürzt, dann werde auch ich sehr bald ein Teil dieses menschenfressenden Mobs sein, der dort unten wütet. Meine Hände sind nass geschwitzt. Langsam aber sicher lösen sie sich von der Stange. Ich kann nichts dagegen tun. Die Zeit kommt mir so unerträglich lang vor. Vielleicht hat sich der Zug ja in der Brücke verkeilt. Vielleicht hängen wir in der Luft. Ich habe Angst. Unbeschreiblich große Angst. Plötzlich höre ich ein lautes, ohrenbetäubendes Krachen. Meine Angst ist unerträglich groß. Mein Herz rast noch wilder als jemals zuvor. Mein Verstand weiß, ich weiß, dass der Zug in diesem Moment den Boden des Abgrundes berührt. Alles ist so schnell vorbei. Es kommt mir wie ein verschwindend kleiner Bruchteil einer Sekunde vor. Im einen Moment werde ich von dem Mob verschlungen, im Nächsten bin ich in einem Tunnel. Ein warmes, weißes Licht taucht plötzlich vor meinen Augen auf. Stille. Endlose Stille. Beruhigende Stille.
 



 
Oben Unten