Hallo maerchenhexe,
Der Text hat etliche Stärken, aber auch einige Schwächen. Wie gewohnt befindet er sich auf hohem Niveau und weiß als Ganzes zu überzeugen.
Folgende Punkte sind mir aufgefallen: Der Titel ist zwar gut gewählt, spätestens aber nach den Sätzen "...sprangen ihr entgegen" "von Kind auf" und "...zögerte einen Moment..." war es klar, worum es ging. Es wäre vielleicht besser zu sagen, dass sie keine Lust hat, um den Leser etwas in die Irre zu führen (genauso wie mit dem Alkoholismus später in der Geschichte) und das "von Kind auf" zu streichen. Der Übergang zwischen Morgens und Abends ist für meinen Geschmack etwas hart, vermutlich aber kaum bei dieser Dichte anders machbar.
Das Problem Tochter-Mutter gefällt mir.
"wie er von den Nachbarskindern stets genannt wurde" würde ich ebenfalls streichen -> zu viele Brotkrumen.
Dass sich die Protagonistin im Hintergund hält würde ich etwas dezenter umsetzen, vielleicht mit einem "erst zum Schluss kam Marianne..." oder du machst dem Leser klar, dass sie nur ganz kurz verweilt. Nach diesem Satz fehlt noch ein Füllsatz, der eine Überleitung zum nächsten Punkt stellt, nämlich dass ein paar Leute fehlen: seine Familie. Ich finde es sehr gut, dass du das nicht sofort zu Beginn der Szene erwähnt hast. Was allerdings etwas unglaubwürdig klingt, ist das Vermissen des Jugendfreundes. So wie es dasteht fehlt etwas. Möglicherweise könnte ein "sie fragte sich, was aus ihm in all den Jahren geworden ist" dasProblem beheben, ohne dass man die Teilszene komplett umstricken muss.
Frau KRÄMER = Tante Emma = Klatschbase finde ich prima.
Den Hinweis auf das Dachgeschoß hätte ich anders verpackt. Es kann sein, dass du damit meinst, dass er sie nicht "vernünftig" untergebracht hat, es kann sein, dass du meinst, dass sie sehr beengt gewohnt haben. Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, die Information auf zwei Sätze zu splitten. Jahrelang bei sich wohnen. Und dann die Information mit dem Dachgeschoß im zweiten Satz. Denn wenn der Ort klein ist, weiß jeder, dass sie im Dachgeschoß untergebracht haben und ich als Leser weiß sofort, dass du das nur geschrieben hast, damit ICH es als Leser weiß. Objektiv danke ich dir für die Information, subjektiv wünsche ich mir, du hättest mich die Bedeutung im Text entdecken lassen.
Stopfte herunter etc.: Frau Krämer ist also keine nette Frau. Das "spülte mit einer Tasse Kaffe herunter" ist etwas übertrieben, geht aus meiner Sicht aber noch, zumindest wenn man schnell liest.
Was ich nicht ganz verstehe ist das "hier ändert sich nichts... alles wie früher". Fast wirkt es auf den ersten Augenblick, als würde die Protagonistin nicht im Ort wohnen. Falls sie es dennoch tut, wäre ein Umformulierung vielleicht nicht verkehrt, sodass der Eindruck nicht entsteht. Die Botschaft hinter der Botschaft erkennt man natürlich als Hinweis erst beim zweiten Lesen. Gut!
Die "Geschichtchen" über den Toten sind dir gut gelungen, genau die richtige Mischung, um ihn als Alkoholiker dastehen zu lassen und den Leser vermuten zu lassen, dass er ein Schläger war. Die "sanfte Gewalt" wirkt subtil GEGEN ihn und verstärkt das Bild. Die roten Haare der Ehefrau gefallen mir auch. Rundet das Bild schön ab (rot = Konflikt) Schön!
Mariannes Erlebnisse hingegen reissen die Punkte wieder herunter. Die Geschichte wäre viel besser, wenn das Innerste der Protagonistin noch etwas länger verborgen bleibt bzw. noch nicht erwähnt wird. Garten und Tob-Raum könnten auch weniger direkt ins Spiel kommen, zum Beispiel dass man gerne zum Jungen zum Spielen ging, weil ihm Onkel August all die tollen Sachen gebaut hat. Wobei ich schwanke, ob es sinnvoll wäre, das Bild des "Onkels" mit einem Schaukelpferd (oder irgendwas in Richtung -> "rittlings") zu verstärken, oder nicht. Vermutlich ist es besser, man lässt es draussen.
Die Szene mit dem sexuellen Mißbrauch ist dir nicht überragend gelungen, sie hinkt vom Niveau dem restlichen Text hinterher. Vielleicht wäre es besser, nicht so sehr direkt zu werden (muss nicht unbedingt an der Verdrängung des Kindes liegen, kann auch gezieltes Stilmittel sein -> mir ist die Szene zu bildhaft). Seine Reaktion auf die Entdeckung finde ich klasse.
Die Reaktion der Eltern ist hervorragend und wie ich finde ziemlich gut gelungen. Ohne dass ich eine Stelle genau bezeichnen könnte finde ich, dass einige kleine Kratzer auspoliert werden müssten, gesamtheitlich aber sehr schön gemacht.
Das "Wie erwachend blickte sie sich um" könntest du streichen. Dem Leser ist klar, was gerade passiert ist. Auch wenn es in anderem Kontext ziemlich platt klingt, wäre ein "heisse Tränen schossen ihr..." vielleicht nicht verkehrt gewesen. Auch fehlt mir ein Übergang zwischen Doppelmoral und dem Teil davor. Zum Beispiel, dass eben dieser Nachbar ganz genau weiß, was der Onkel für einer war -> SEIN Sohn durfte auch nicht mehr dort spielen... Das würde den Ausbruch realistischer gestalten. "Aber sie erkannte... Sinnlosigkeit... Unterfangens": Dieser Satz ist zu vernünftig, um in so einem Moment geschrieben zu werden. Besser wäre ein Rückgriff auf den Spruch "nie ändert sich etwas" -> eh sinnlos, würden sie eh nicht ändern...
Du kannst sie auch hastig aufstehen lassen, die Frau Krämer kann ganz mitgenommen sein, wenn sie ihre Tränen entdeckt, das arme Ding... Onkel hatte sie besonders gemocht (klingt fast hämisch und dem Leser bleibt überlassen zu urteilen, ob sie es ernst meint oder ob es Zufall ist).
Der Schluss gefällt mir sehr gut. Die Vermutung wird bestätigt: Sie lebt auch nicht mehr dort.
Kurzum: Ich mag die Geschichte. Weiter so!
Aaron Caelis