Der letzte Tag

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Der letzte Tag

Heute ist es soweit, das Kunterbunt wird geschlossen. Nach zwanzig Jahren ist Schluss. Natalina, von allen Natti genannt, hat zur großen Abschiedsfete geladen. In der Finkenstraße an der Ecke zum Pariser Platz, einst beste Lage, war es jahrelang der Treffpunkt für Streuner, Musiker, Künstler, Studienabbrecher, Alt-Hippies und alle Nicht-Konformisten, die gerne auch 2014 noch 'nen Kaffee für 'ne Mark trinken. Den gibt es nämlich noch im Kunterbunt, besser gesagt, wird es im Kunterbunt gegeben haben. Der Kaffee für 'ne Mark ist derweil zukünftiger Schnee von gestern. Ein Minimarkt kommt da jetzt hin, vielleicht auch ein Puff. Letztere gibt es hier neuerdings im Überfluss, der Franzosen wegen, die haben sowas nämlich gar nicht; deshalb kommen sie rüber und gehen einkaufen wegen der niedrigeren Mehrwertsteuer, gehen tanken weil hier immernoch billiger ist, gehen bumsen - weil man das hier nämlich darf - für das Geld, das sie beim Einkaufen und Tanken sparen konnten.

Im Kunterbunt gibt es zum Kaffee für 'ne Mark auch ein Küchlein für 'ne Halbe. Auch wenn aus der längst Euro und aus der halben fünfzig Cent geworden sind; aber wo bekommt man noch 'nen Kaffee für einen Euro? Das gibt es nur im Kunterbunt. Die Natti macht das alles, macht den Kaffee, backt den Kuchen. Ab nächster Woche, sagen die, die es wissen müssen, wird sie in einer Kantine arbeiten, dort Brötchen belegen, morgens um halb fünf, für fünf Euro die Stunde. „Aber besser als gar nichts“, sagt Karl. „Was ist eigentlich mit dem Mindestlohn?“ „Mindestlohn?“, höhnt der Karl, „den gibt es doch nur im Fernsehen. Geh für fünf oder geh gar nicht arbeiten, so sieht's doch wohl aus.“

Der alte Manu, eigentlich Michael, warum man ihn Manu nennt weiß keiner, weint schon seit einer Woche. Mittags isst er immer Suppe im Kunterbunt. Mal Kürbis, mal Kartoffel, mal dick mal dünn. Meist dünn. Für eins fünfzig, früher Mark jetzt Euro. „Du bist zu billig“, konstatiert Flo, meint natürlich nicht Natti sondern die Suppe und den Kaffee. „Klar, dass du die Miete nicht mehr zahlen kannst.“ Flo ist hip, nein kein Hippie, nicht wie in den Sechzigern, sondern Hipster, nein auch nicht wie in den Fünfzigern. Natti kann damit nichts anfangen: Hippie, Hipster, hip? Flo ist arm, arbeitslos, mal studiert er, dann doch wieder nicht. Bekommt hin und wieder was von den Eltern: I-Pod, -Pad, -Phone, I-irgendwas aber keine Kohle und trinkt immer 'nen Kaffee für 'ne Mark. Isst aber nie. Keine Suppe. Suppe sei nicht hip meint Manu, und Hippies oder Hipster essen nur hippe Sachen. Natti lacht, sie lacht immer, sogar jetzt noch obwohl Manu weint, weil er nicht weiß, wo er ab morgen hin soll. Alle haben Natti lieb und sind traurig. Natti selbst ist gar nicht so traurig - sie wirkt gelassen -, dabei ist das Kunterbunt doch ihr Leben. Damals mit ihrem Mann hat sie es aufgebaut. Ein Café aufzubauen mit Büchern und Kaffee und Suppe und allem was dazu gehört, war das nicht ihr gemeinsamer Traum? Sie hatten Geld, kauften das Haus; dann starb Harry, Nattis Mann, hatte ein Aneurysma. Keine Chance. Nach zehn Minuten war er innerlich verblutet. Natti kam darüber hinweg, glauben diejenigen zu wissen, die Natti zu kennen glauben, weil sie den Traum, den sie mit ihrem Mann gemeinsam erträumt hatte, nun lebt: Ausgestattet mit gelben Tischen, roten und grünen Stühlen, kleinen rosa-roten Bilderrahmen, braunen Türrahmen, türkisen Vorhängen, auberginefarbener Theke und knallbuntem Geschirr, so ist das Kunterbunt. Farbenfrohes Chaos gefüllt mit schrulligen Gästen. Bei Natti herrscht immer Unordnung, leider auch in der Kasse, deshalb stimmt es nie so richtig, vielleicht ist ihr darum nicht aufgefallen, dass sie so viele Schulden hat. Einen guten Preis habe sie für das Kunterbunt bekommen, es ist groß und hat einen Keller und die Wohnung darüber gehört auch dazu. Und das Haus ist in einem hervorragenden Zustand. „Bist du traurig?“, frage ich Natti. „Nein“, sagt sie bestimmt.

Gegen Nachmittag sind alle da, weniger als erwartet. Überwiegend Stammgäste. Man kennt sich. Der dicke Alfons, dessen gruselige Schnauzerspitzen im Kaffee planschen. Die dumme Tina in Leggings und Katzenpullover, selbst fünfzig und irgendwo in den Achtzigern geparkt. Der Flo und der Manu, die Michi und die Dani. Und ein paar mehr oder weniger farbenfrohe Gestalten geben dem Kunterbunt die letzte Ehre: Natürlich trinken alle 'nen Kaffee für 'ne Mark. Fröhliche Musik läuft, man erzählt sich von früher, als es noch einfach war ein Café zu betreiben, die Menschen noch auswärts aßen und Kaffee tranken und sowieso alles grün und heiter war. Natti hält sich raus, will nichts wissen von alten Zeiten. Sie alleine, frisch verwitwet, mit einem Lokal das kunterbunt wurde, weil sie kein Geld für schicke Sachen hatte, weil sie Farbreste benutzte und Möbel vom Flohmarkt. Weil sie Umsatz machen musste und alle Gäste, egal welche, willkommen hieß, um über die Runden zu kommen. Ich schaue sie an, die Natti, faltig geworden von den Sorgen, grau von der Arbeit. Fit ist sie aber noch und schlau. Ich sehe ihr ins Gesicht, hinter die Maske, mit der sie geschickt jedem zeigen kann, was er sehen will. Die Gäste bekommen bei Natti immer wonach sie bitten und sehen eben das, was sie sehen wollen. Und ich sehe eben Natalina, weil ich sie will, weil ich nach ihr bitte. Wir haben Niemandem von unserem Lottogewinn erzählt. Niemand weiß, dass wir die Tickets schon haben. Was niemand ahnt: Morgen brennen wir durch. Das Kunterbunt ist verkauft und Natalina ist endlich frei. Kann raus aus dem Traum, den ihr Mann einst träumte und der ihr sorgenvolle Nächte brachte.

„Wirst du es vermissen, das Kunterbunt?“, frage ich sie am Ende des Tages. Sie lacht und weint, lacht wieder: „Nicht in New York, Sansibar oder Tokyo. Nicht auf den Philippinen!“
 
Der letzte Tag

Heute ist es soweit, das Kunterbunt wird geschlossen. Nach zwanzig Jahren ist Schluss. Natalina, von allen Natti genannt, hat zur großen Abschiedsfete geladen. In der Finkenstraße an der Ecke zum Pariser Platz, einst beste Lage, war es jahrelang der Treffpunkt für Streuner, Musiker, Künstler, Studienabbrecher, Alt-Hippies und alle Nicht-Konformisten, die gerne auch 2014 noch 'nen Kaffee für 'ne Mark trinken. Den gibt es nämlich noch im Kunterbunt, besser gesagt, wird es im Kunterbunt gegeben haben. Der Kaffee für 'ne Mark ist derweil zukünftiger Schnee von gestern. Ein Minimarkt kommt da jetzt hin, vielleicht auch ein Puff. Letztere gibt es hier neuerdings im Überfluss, der Franzosen wegen, die haben sowas nämlich gar nicht; deshalb kommen sie rüber und gehen einkaufen wegen der niedrigeren Mehrwertsteuer, gehen tanken weil hier immernoch billiger ist, gehen bumsen - weil man das hier nämlich darf - für das Geld, das sie beim Einkaufen und Tanken sparen konnten.

Im Kunterbunt gibt es zum Kaffee für 'ne Mark auch ein Küchlein für 'ne Halbe. Auch wenn aus der längst Euro und aus der halben fünfzig Cent geworden sind; aber wo bekommt man noch 'nen Kaffee für einen Euro? Das gibt es nur im Kunterbunt. Die Natti macht das alles, macht den Kaffee, backt den Kuchen. Ab nächster Woche, sagen die, die es wissen müssen, wird sie in einer Kantine arbeiten, dort Brötchen belegen, morgens um halb fünf, für fünf Euro die Stunde. „Aber besser als gar nichts“, sagt Karl. „Was ist eigentlich mit dem Mindestlohn?“ „Mindestlohn?“, höhnt der Karl, „den gibt es doch nur im Fernsehen. Geh für fünf oder geh gar nicht arbeiten, so sieht's doch wohl aus.“

Der alte Manu, eigentlich Michael, warum man ihn Manu nennt weiß keiner, weint schon seit einer Woche. Mittags isst er immer Suppe im Kunterbunt. Mal Kürbis, mal Kartoffel, mal dick mal dünn. Meist dünn. Für eins fünfzig, früher Mark jetzt Euro. „Du bist zu billig“, konstatiert Flo, meint natürlich nicht Natti sondern die Suppe und den Kaffee. „Klar, dass du die Miete nicht mehr zahlen kannst.“ Flo ist hip, nein kein Hippie, nicht wie in den Sechzigern, sondern Hipster, nein auch nicht wie in den Fünfzigern. Natti kann damit nichts anfangen: Hippie, Hipster, hip? Flo ist arm, arbeitslos, mal studiert er, dann doch wieder nicht. Bekommt hin und wieder was von den Eltern: I-Pod, -Pad, -Phone, I-irgendwas aber keine Kohle und trinkt immer 'nen Kaffee für 'ne Mark. Isst aber nie. Keine Suppe. Suppe sei nicht hip meint Manu, und Hippies oder Hipster essen nur hippe Sachen. Natti lacht, sie lacht immer, sogar jetzt noch obwohl Manu weint, weil er nicht weiß, wo er ab morgen hin soll. Alle haben Natti lieb und sind traurig. Natti selbst ist gar nicht so traurig - sie wirkt gelassen -, dabei ist das Kunterbunt doch ihr Leben. Damals mit ihrem Mann hat sie es aufgebaut. Ein Café aufzubauen mit Büchern und Kaffee und Suppe und allem was dazu gehört, war das nicht ihr gemeinsamer Traum? Sie hatten Geld, kauften das Haus; dann starb Harry, Nattis Mann, hatte ein Aneurysma. Keine Chance. Nach zehn Minuten war er innerlich verblutet. Natti kam darüber hinweg, glauben diejenigen zu wissen, die Natti zu kennen glauben, weil sie den Traum, den sie mit ihrem Mann gemeinsam erträumt hatte, nun lebt: Ausgestattet mit gelben Tischen, roten und grünen Stühlen, kleinen rosa-roten Bilderrahmen, braunen Türrahmen, türkisen Vorhängen, auberginefarbener Theke und knallbuntem Geschirr, so ist das Kunterbunt. Farbenfrohes Chaos gefüllt mit schrulligen Gästen. Bei Natti herrscht immer Unordnung, leider auch in der Kasse, deshalb stimmt es nie so richtig, vielleicht ist ihr darum nicht aufgefallen, dass sie so viele Schulden hat. Einen guten Preis habe sie für das Kunterbunt bekommen, es ist groß und hat einen Keller und die Wohnung darüber gehört auch dazu. Und das Haus ist in einem hervorragenden Zustand. „Bist du traurig?“, frage ich Natti. „Nein“, sagt sie bestimmt.

Gegen Nachmittag sind alle da, weniger als erwartet. Überwiegend Stammgäste. Man kennt sich. Der dicke Alfons, dessen gruselige Schnauzerspitzen im Kaffee planschen. Die dumme Tina in Leggings und Katzenpullover, selbst fünfzig und irgendwo in den Achtzigern geparkt. Der Flo und der Manu, die Michi und die Dani. Und ein paar mehr oder weniger farbenfrohe Gestalten geben dem Kunterbunt die letzte Ehre: Natürlich trinken alle 'nen Kaffee für 'ne Mark. Fröhliche Musik läuft, man erzählt sich von früher, als es noch einfach war ein Café zu betreiben, die Menschen noch auswärts aßen und Kaffee tranken und sowieso alles grün und heiter war. Natti hält sich raus, will nichts wissen von alten Zeiten. Sie alleine, frisch verwitwet, mit einem Lokal das kunterbunt wurde, weil sie kein Geld für schicke Sachen hatte, weil sie Farbreste benutzte und Möbel vom Flohmarkt. Weil sie Umsatz machen musste und alle Gäste, egal welche, willkommen hieß, um über die Runden zu kommen. Ich schaue sie an, die Natti, faltig geworden von den Sorgen, grau von der Arbeit. Fit ist sie aber noch und schlau. Ich sehe ihr ins Gesicht, hinter die Maske, mit der sie geschickt jedem zeigen kann, was er sehen will. Die Gäste bekommen bei Natti immer wonach sie bitten und sehen eben das, was sie sehen wollen. Und ich sehe eben Natalina, weil ich sie will, weil ich nach ihr bitte. Wir haben Niemandem von unserem Lottogewinn erzählt. Niemand weiß, dass wir die Tickets schon haben. Was niemand ahnt: Morgen brennen wir durch. Das Kunterbunt ist verkauft und Natalina ist endlich frei. Kann raus aus dem Traum, den ihr Mann einst träumte und der ihr sorgenvolle Nächte brachte.

„Wirst du es vermissen, das Kunterbunt?“, frage ich sie am Ende des Tages. Sie lacht und weint, lacht wieder: „Nicht in New York oder Tokyo. Nicht auf den Philippinen!“
 

Florence

Mitglied
Manchmal muss man eben abschließen.
Einen Traum kann man nicht ewig neu träumen.
Man kann Natti nur Glück und neue Träume wünschen, wo immer sie auch ist.

LG Florence
 



 
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