Der schreibende Arbeiter

ergusu

Mitglied
Der schreibende Arbeiter*

Es gab einmal Zeiten, in welchen ein Arbeiter viel höher geschätzt wurde als ein Ingenieur. Zerknirscht erkannte auch ich meine Fehlentwicklung.
Deshalb wollte ich, der manchmal tätige Angestellte, wenigstens schreibender Arbeiter werden.
Kaum hatte ich meine Absicht bekundet, wurde ich schon eingeladen. Als ich den kleinen Saal betrat und jedes Zirkelmitglied einzeln begrüßte, achtete ich genau auf den Händedruck. Ich spürte keine Schwielen, aber manch wundgeschriebener Finger war sicher dabei.
Ich setzte mich dann und harrte der Dinge und mit mir der Kellner, welcher notierte und korrigierte und sich große Mühe gab, die zögernd geäußerten Wünsche mit den Möglichkeiten der Gastronomie in Übereinstimmung zu bringen. Ich lernte bald, dass mit dem Abgang des Kellners der Zirkelabend begann.
Unser Leiter schärfte mit einem geistigen Getränk sein Gehör und forderte uns dann auf, die poetischen Ergüsse vorzulesen.
Eine junge Mitstreiterin begann. Sie hatte – der Dicke ihrer Mappe nach zu urteilen – fleißig zu Hause gedichtet, hüstelte kurz und zwang uns mit einem Rundblick zur Aufmerksamkeit.
Es war etwas Lyrisches, wie man mir später sagte, nur wenige Zeilen nur lang. Nach kurzer Besinnung wurde über jeden Satz leidenschaftlich diskutiert. Der Einfall, dass eine Gewitterwolke auf einer Fensterbank ausruhte und nach dem Weg fragte, entfachte Begeisterung. Ich konnte diesen Enthusiasmus nicht verstehen und schämte mich gewaltig. Viel Zeit dafür blieb mir nicht, denn schon wurde ich gebeten, selbst zu lesen.
Ich glühte vor Eifer und auch ein wenig Stolz, denn das Gedicht über mein Kurerlebnis war mit zehn Strophen beachtlich lang. Zwei einleitende und erklärende Zusatzverse über das Wetter und die Farbe der die das Pärchen belauschenden Waldvögel lagen griffbereit.
In drei Minuten waren viele Tage Arbeit verhallt. Als ich den Kopf hob und beifallsheischend in die Runde blickte, schwieg en alle. Vielleicht fehlt eine Gewitterwolke, dachte ich, aber schließlich kam doch ein wenig Lob. Mein Fleiß, meine feste Verbundenheit zur Tier- und Vogelwelt sowie mein Mut, Verse zu schreiben, waren die wichtigsten positiven Aspekte.
Bald jedoch musste ich hören und einsehen, was nicht gefallen hatte. Verlegen versteckte ich meine Zusatzstrophen. Als unser Leiter den Text überflog, hatte er im Nu das Wesentliche erkannt und zwei Strophen als existenzberechtigt akzeptiert. Ich wollte anfangen zu streiten, aber da erklärte mir meine Nachbarin, dass zwei aus zehn so viel bedeute, wie ein Fünfer bei 6 aus 49**. Dieser Trost richtete mich gewaltig auf, schließlich hatte ich noch nie im Lotto gewonnen.

Ein Jahr war vergangen, in welchem ich gelernt hatte, wie man nicht schreiben sollte. Erst neulich lobte mich unser Leiter, weil ich nichts vorzulesen hatte.
Als ich mich an einem Montag in die Anwesenheitsliste eintrug, sagte er tröstend zu mir: „Die Unterschrift eines schreibenden Arbeiters ist mehr wert als zehn Seiten gedrucktes Papier.“
Diesen Satz habe ich nie verstanden, aber ich glaube, das ist wieder etwas Lyrisches.




*In der DDR gab es den Zirkel der ‚Schreibenden Arbeiter’, in welchen jeder Werktätige Texte schreiben konnte. Die Mitglieder waren in den seltensten Fälle Arbeiter.
**6 aus 49, Lottospiel in der DDR
 
M

Mara K.

Gast
hallo ergusu ...

nun ja, diese kleine geschichte fängt ein wenig an wie ein märchen aus der guten alten zeit. *smile*
ich bin der ansicht, dass manch einer der lesenden hier aus der LL durchaus wenig mit den damaligen möglichkeiten der ddr-gastronomie anfangen kann.
es ist sicher eine geschichte, welche zum schmunzeln anregt, aber vom thema her empfinde ich sie eher etwas flach ... meiner meinung nach war doch der zirkel "schreibende arbeiter" eine art chance für etwas abwechslung im stetigen ddr-einerlei und garantiert auch der treff parteigetreuer werktätiger ...
dies ist nur meine kleine meinung, sie muss nichts heißen.
ich finde dieses thema leicht abgegriffen ...
mir fallen dazu die filme "Sonnenallee" und "Good bye Lenin" ein ... ich habe für mich entschieden, dass man dies nicht unbedingt mehr haben muss ...

herzlich Mara K.
 

Rainer

Mitglied
eine etwas andere meinung

hallo ergusu und mara k.,

als halb betroffener musste ich über den text und den kommentar schmunzeln.
ich fand ihn recht erfrischend in einigen details (z.b. das schwielensuchen beim händedruck), anderes erscheint mir etwas zu konstruiert ("das lyrische").

der hinweis auf "sonnenallee" und "good bye lenin" ist mir zu einseitig: satirisch gefärbte rückblenden müssen keine slapstick-schlaglichtgewitter sein, manchmal ist etwas subtileres näher an den tatsachen, auch wenn ich mir nicht auf die schenkel klopfen kann.
vergleiche chaplins "der große diktator" mit der wirklichkeit, wie sie von vielen geschildert wurde.

viele grüße an euch beide

rainer
 
M

Mara K.

Gast
hallo Rainer ...

nun ;) nach 30 Jahren DDR-Erfahrung liest man so kleine Geschichten sicher mit einem etwas anderen Gefühl als ein Halbbetroffener ... das möchte ich hier nicht beurteilen müssen ... und es war sicher auch nicht meine Absicht, mir beim Lesen unumwunden die Schenkel zu klopfen :D ...
ich ziehe auch den Hut vor Autoren, welche so blendend Geschichten schreiben können wie ergusu, nur das Thema find ich halt fad und abgegriffen ...
herzlich mit einem Lächeln, Mara K.
 

Rainer

Mitglied
hallo mara k.,

und ich fand gerade das thema gut :).

ich hoffe, wir reden vom gleichen: die diskrepanz von schein und sein; die zonenkulisse ist für mich nur das vehikel. ich glaube, wenn ergusu das thema hinduistischen mönchen in den mund gelegt hätte, wäre der text deutlich länger ausgefallen. gerade die verdichtung von umständen, z.b.

"
Ich setzte mich dann und harrte der Dinge und mit mir der Kellner, welcher notierte und korrigierte und sich große Mühe gab, die zögernd geäußerten Wünsche mit den Möglichkeiten der Gastronomie in Übereinstimmung zu bringen."

macht für mich den wert der geschichte aus. ohne sentimental oder detailliert zu werden, gelingt es, ein ambiente zu erzeugen. wem das bild dazu fehlt, sollte sich keinen der von dir genannten filme, sondern einen alten ost-polizeiruf reinziehen; bei kneipenszenen habe ich dabei noch nie ein falsche kulisse gesehen.
(wahrscheinlich weil das ostfernsehen gar kein geld hatte, um für serienfilme irreale prunkkneipen zu errichten - sogar die dichte und die morphologie des zigarettenqualmes scheint mir "echt" zu sein).

aber ich will mich nicht mit dir streiten, sondern wollte ergusu nur noch eine andere meinung vorstellen.
du kannst das thema fad finden, ich tue das gleiche hinsichtlich von teilen der umsetzung.


viele grüße

rainer
 
M

Mara K.

Gast
hallo Rainer .....

"Ich setzte mich dann und harrte der Dinge und mit mir der Kellner, welcher notierte und korrigierte und sich große Mühe gab, die zögernd geäußerten Wünsche mit den Möglichkeiten der Gastronomie in Übereinstimmung zu bringen."

...gerade diese Passage ist es, die mich etwas wuschig macht, denn bei solchen Veranstaltungen in der DDR und soweit es mir bekannt ist, musste man nicht ausharren, nicht korrigieren und auch nicht zögernd Wünsche äußern...
denn da kamen Getränke auf den Tisch, welche man im Konsum nur unter der Variante "bück dich" - soll heißen unterm Ladentish vorgeholt - bekam ...
und was den Polizeiruf und die Kneipenszenen dort angeht, auch ich möchte mich nicht streiten, sicher kann man in den Kneipen dieser Serie die Luft in Würfel schneiden und locker nach draußen transportieren, aber man konnte die Prunkkneipen der DDR, wie sie u.a. in Interhotels in Leipzig oder Berlin zu finden waren, oder auch die Palette in Halle [ wo es zu DDR-Zeiten schon Tabledance zu vorgerückter Stunde gab ] ja nun wirklich nicht versuchen dem kleinen Mann von der Straße unterzujubeln, dann hätten die auch noch den Polizeiruf weggedreht und sich dann lieber doch etwas vom damaligen Klassenfeind
'reingezogen...
so hat jeder seine Erfahrungen und Ansichten, von den
hinduistischen Mönchen 'mal ganz abgesehen ;) ...

... und was meint eigentlich ergusu dazu ?

in diesem Sinne, herzlich Mara K.
 



 
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