Die Begegnung

Elenore May

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‚Wenn ich jetzt nicht schnell Deckung für uns beide finde, erschlägt uns entweder ein Baum, oder es trifft uns einer der Blitze!‘, dröhnt es in meiner Brust.
Mein Atem geht pumpend, das Wasser läuft mir bereits in gefühlten Bächen den Rücken entlang - und neben mir läuft mein vollkommen verstörter Hund.
‚Verdammt noch mal, wo können wir hin? Komm, denk nach! Weiter hier im Wald - geht nicht. Dieses Gewitter ist direkt über uns – ist, als würde es uns heimtückisch verfolgen. Gott im Himmel! Ich habe Schiss ohne Ende! Mama, hilf mir!‘, fleht es in mir.
Mein Hund fürchtet sich bei Gewitter; und nicht nur er, auch ich bin dagegen nicht gefeit. Außerdem ist er bereits vollkommen durchnässt – kein Wunder, bei seinem dünnen Windhundfell. Er springt ständig ruckartig in die Leine, blickt vorwurfsvoll zu mir hoch (wie wenn ich was fürs Gewitter könnte) und versucht sich loszureißen.
‚Doch wenn er mir jetzt auskommt, rennt er irgendwo ins Gebüsch, versucht sich einzugraben, und die Situation wird noch vertrackter, als sie sowieso schon ist‘, schießt es mir durch den Kopf – also bleibt die Leine fest um das Handgelenk gezurrt.

‚Deckung, Deckung – wo ist Deckung? Unter Bäumen bin ich auf diesem Weg ja schon – auch wenn es heißt: Nie unter Bäumen Schutz suchen! Aber wo soll ich denn bitte hin, ich bin nun mal mitten im Wald!‘
Irgendwo habe ich mal gelesen -bei Gewitter soll man in die Hocke gehen und sich ganz still verhalten- tolle Idee, wirklich! Wer erklärt das aber meinem Hund? Der dreht doch durch, wenn ich das jetzt versuche – also weitergerannt – es wird schon nichts passieren! Auf ‚Gottvertrauen‘ setzen!

Da fällt mir diese Blockhütte ein; die liegt ungefähr einen Kilometer von uns entfernt – ‚da müssen wir hin!‘, pocht es ‚doch die ist noch so möderisch weit weg!‘

Wir hetzen weiter vorwärts. Der Hund läuft zu schnell; doch ich kann ihn nicht abbremsen. Die Luft wird mir knapp; es drückt mir auf die Brust, ich keuche - und dieser verfluchte Himmel schickt Wasser ohne Ende herunter – dazu kracht es, als wenn wir uns mitten in einem Kriegsgefecht befänden; zumindest stelle ich mir das vor.
Und genau genommen ist es auch so. Nur, es ist kaltes Feuer, rücksichtslos, mit stählern wirkender Helle, wenn ein Blitz niedersaust. Und vorher noch der Donner, fast zeitgleich ‚Theaterdonner hört sich auch so an‘, denke ich in einem kurzen Anflug von Sarkasmus ,nur das hier ist die Wirklichkeit, gnadenlose, brutale Wirklichkeit‘.

Weit, ganz weit vorne sehe ich schon die spitzgiebelige Hütte in einer Einbuchtung stehen.
Eine simple Blockhütte aus fast schwarz gebeizten Stämmen ist das. Drinnen steht ein Tisch, der die Hütte der Länge nach ausfüllt. Links und rechts davon läuft jeweils eine hölzerne, aber steinharte Holzbank von mageren dreißig Zentimetern Breite mit – das war‘s.
Alles ist gerade groß genug, dass sich zwei Mann der Länge nach auf den Bänken hinlegen könnten, wenn sie dürr genug sind. Eine Türe gibt es nicht; die Hütte besteht nur aus vier massiven Wänden mit einer mannshohen Unterbrechung für den Eingang. Doch momentan erscheint mir dieser Holzkasten als das Erstrebenswerteste, was ich mir überhaupt nur vorstellen kann.
‚Gott! Ist da noch weit hin!‘, stöhnt es in mir.

Ich japse ständig, habe panische Angst und sage mir ‚lange halte ich das nicht mehr durch.‘
Ich überprüfe die Leine – doch, sie sitzt immer noch fest um mein linkes Handgelenk gezurrt. Ein absolutes Fiasko wäre das, wenn sich der Hund jetzt selbständig machen würde.
Ich bin so sehr mit meinen Nöten beschäftigt, dass ich fast einen Herzschlag bekomme, als sich schwer ein Arm um meine Schultern legt, mich festhält, und zwei Arme mich gerade noch auffangen können, bevor ich hinschlage.
„Kommen Sie, kommen Sie; wir müssen uns beeilen!“, brüllt der Mann durch den Donner hindurch. Ich bin durch seine plötzliche Anwesenheit dermaßen aus der Fassung gebracht, dass mir kein Gedanke an Gegenwehr kommt, als er schon an mir zerrt und gehetzt sagt „für Erklärungen ist jetzt keine Zeit! Schnell jetzt! Setzen Sie sich auf den Gepäckträger!“, und keine zwei Sekunden später sitze ich auf dem Gepäckträger seines Fahrrads.

Ich lege meinen rechten Arm zögernd auf den breiten, massigen Rücken, auf den Rucksack, der dick und fett auf dem Rücken des Mannes sitzt (der linke Arm hält immer noch eisern die Leine fest). Aber der Mann nimmt den Arm und legt ihn mit Nachdruck um seine Taille. Ich beschließe, über diesen Umstand jetzt nicht nachzudenken; denn ich will nur weg, weg – ‚auf einem Fahrrad sitzend, den Rücken eines Fremden umklammernd – wie absurd‘, fällt mir auf.

Der Mann tritt schon kräftig in die Pedale, fliegt fast; der Hund läuft neben her und mir peitscht der Regen mit höllisch spitzen Nadeln ins Gesicht. Und kurz, aber wirklich nur ganz kurz, bin ich vollkommen verblüfft über meinen Hund: er stand bei dieser, nur Sekunden dauernden, Aktion einfach da und - wedelte! Wedelte einen Fremden an!
Also für einen möglichen Ernstfall kein gutes Zeichen – aber ist das jetzt ein Ernstfall? Ich schiebe den Gedanken weg, das ist momentan nicht wichtig – nur raus aus der Gefahrenzone – und ich bin ‚Gott sei Dank‘ nicht mehr so allein mit dieser Wut, die der Himmel über mir gerade auslebt.


Bei der Hütte angekommen schubst mich der Mann erst vom Fahrrad, anschließend stößt er mich ziemlich unsanft in diese finstere Höhle hinein. Ich quetsche mich auf die rechte Bank und rutsche in das hintere Eck zur Stirnwand, drücke mich gegen die kalten Bohlen, und zum ersten Mal seit vielleicht zwanzig Minuten atme ich wieder kräftig durch.
Der Hund kriecht mühselig und wimmernd unter den Tisch - er zittert am ganzen Körper, seine Augen sind voller Schrecken, doch dann rollt er sich ganz eng zusammen und versteckt seinen Kopf zwischen den Hinterläufen.
Ich fasse nach ihm, versuche ihn zu beruhigen, ihm Wärme zu geben; aber meine Hände sind eiskalt, feucht und verkrampft. Alles an mir ist nass und verklebt; es tropft von meiner Nase, meinen Haaren, und ich schniefe ununterbrochen – ein einziger Jammer das Ganze.
Die Hütte ist so klein, dass der Mann noch halb draußen steht, als er seinen Rucksack ablegt. Dabei sieht er mich an und sagt barsch (meine ich zumindest herauszuhören) „ziehen Sie ihre nassen Klamotten aus!“
‚Das klingt wie ein Befehl‘, stelle ich fest, ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, Verunsicherung macht sich in mir breit.

Ich sehe mir den Mann genauer an: Groß und schwer, nicht definierbares Alter, ein ruhiges Gesicht mit Vollbart - alles wirkt sehr dunkel an ihm – so, als wenn er nicht von hier käme ‚aber was heißt das heutzutage schon‘, sage ich mir.
Jedenfalls, das ungute Gefühl bleibt ‚ich Frau, bin alleine mit diesem Fremden. Weit und breit ist niemand, und mein Hund ist nur noch ein Häufchen Elend. Raus kann ich auch nicht, er blockiert den Ausgang. Außerdem - jetzt wieder raus – unmöglich.‘
Er spürt offensichtlich was ich denke und meint gelassen „haben Sie keine Angst, jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren – Sie sind sicher.“ Die Stimme wirkt sanft, kein Dialekt ist rauszuhören, und dabei lächelt er ein wenig.
Es ist ein warmes Lächeln. Voller Sympathie, voller Zuwendung – und plötzlich ist es, als ob ein Schwall von Geborgenheit, von Wärme von ihm ausgehen würde – sie erfüllt den Raum, ist überall. Mein Hund hört zu zittern auf, er liegt jetzt ganz ruhig auf dem aus blankgewetzten Pflastersteinen bestehenden Boden.

Der Mann beginnt seinen Rucksack auszupacken. Und ohne mich anzusehen, wiederholt er „bitte, ziehen Sie endlich diese nassen Sachen aus.“
Ich zögere, bin bockig. Die Arme schließe ich ganz eng um mich. Mit tief auf die Brust gesenktem Kopf sehe ich ihm zu, beobachte ihn. Denn ich bin immer noch unschlüssig und erneut unsicher. Ich vergrabe deshalb mein Gesicht erst mal in den Falten meiner klitschnassen Regenjacke.

Sein Rucksack scheint eine wahre Fundgrube von Annehmlichkeiten zu sein: Er zieht eine Decke heraus, eine Thermosflasche, einen Becher, ein (schauderhaft) großes Messer, dessen Klinge trotz des kaum vorhandenen Lichts kurz aufblitzt; dann einen Plastikteller, Brot und Käse.
Zum Schluss taucht noch eine Flasche Rotwein mit Korkenzieher auf; er stellt zwei Kerzen auf den Tisch, und zündet sie bedächtig an.
Irgendwie wird mir ganz warm ums Herz, und ich ziehe doch tatsächlich meine nassen Klamotten bis auf Unterhemd und Hose aus ‚das gibt’s doch alles nicht!‘, denke ich, wundere mich über mich selbst und frage mich ‚wieso das Vertrauen? Ich bin doch sonst eher skeptisch!‘ Siedend heiß wird mir bewusst, dass ich mit meinen sechzig kaum trainierten Kilos nur wenig gegen ihn vorzuweisen hätte, wenn er’s drauf anlegen würde.

Der Mann, jetzt auch nur noch mit einem bunt kariertem Holzfällerhemd und Hose bekleidet -seine Jacke hat er in das hintere Eck ‚seiner‘ Bank geworfen- stellt den Teller vor mich hin und den Becher dazu.
„Lieber Kaffee oder ein Glas Rotwein?“, fragt er schreiend nach, ein ordentlicher Donnerschlag verschluckt fast seine Stimme, während er auf die Flasche zeigt und gleichzeitig auf die Thermoskanne weist.
‚Edles Gesöff‘, stelle ich zur Rotweinflasche fest, entscheide mich aber für den Kaffee, ich will ja nicht als Säufer dastehen, obwohl mir etwas Alkohol jetzt ganz gut getan hätte.
Er schenkt mir ein. Zwischendurch reicht er mir die Decke rüber, damit ich mich einwickeln kann, wie er meint - was ich auch sofort tue – dieses kleine Unbehagen ist trotzdem wieder zurück.

Er steht auf, soweit das in diesem engen Raum möglich ist, nimmt seine Jacke und breitet sie mit dem Innenfutter nach oben für meinen Hund auf dem Boden aus. Dann bittet! er ihn sich draufzulegen, was der Hund auch ohne weiteres macht – erneut überrascht mich mein Hund, normalerweise ist er Fremden gegenüber sehr reserviert.

Ich streife meine ganzen Bedenken vorerst ab, denn der Kaffee schmeckt vorzüglich, das Brot, das er in dicken Scheiben vom Laib schneidet, ist köstlich, der Käse ist erste Wahl – und ich stelle fest, ich habe einen Mordshunger.
„Und Sie?“, frage ich nach.
„Ich habe schon gesessen.“, meint er fast verlegen und lächelt wieder dieses zaghafte Lächeln, in dem so viel Nähe, so viel von – ‚ich weiß nicht was‘ ist.

Um uns kracht und scheppert es immer noch, begleitet von grellen Blitzen – ein Inferno. Doch ich fühle mich sicher, geborgen; und darum versuche ich im Zwielicht (die Kerzen schaffen gerade mal ein bisschen punktuelle Helligkeit) mir verstohlen den Mann anzusehen, der da stumm aber lächelnd mir gegenüber sitzt.
Doch irgendwie klappt das nicht, es mag am Licht liegen – er verschwindet ständig, wirkt nur wie ein Schatten – etwas Geheimnisvolles hüllt ihn ein – oder ist das bloß meine blühende Fantasie? Dem ganzen Umstand geschuldet? Ich gebe auf und versuche Konversation zu machen.
Doch er weicht bei meinen Fragen -woher er denn käme, wohin er wolle- aus, wird nebulös.
Nur einen Satz sagt er, der mich aufhorchen lässt und meine Unsicherheit wieder schlagartig zurückbringt: „Ich bin im Umgang mit Frauen nicht sehr geübt.“
‚Was soll das heissen!‘, klingeln die Alarmglocken in mir an – mein Herz zeigt mir, wie laut es pochen kann, der Blutdruck steigt, die Angst ist wieder da.

Doch plötzlich ist Ruhe. Nur entferntes Grollen beweist, dass sich hier soeben noch ein Gewitter ausgetobt hat. Der Himmel reißt auf, ein wundervoll zartes, wie gläsern wirkendes Blau erscheint, und die abendliche Sonne schickt einen langen, golden schimmernden Strahl in die Hütte.

Ich sehe durch die Türöffnung in ein Meer von Farben - alles ist wie frisch gewaschen, glänzt und glitzert, wie mit Edelsteinen besetzt. Die letzten Regentropfen fallen von den Blättern; schließlich sind es nur noch einzelne, die verzögert mit hellem Klang auf den Boden klatschen.

Die Enge um meine Brust verschwindet, der Druck weicht mit tiefem Aufstöhnen – ich atme diese zauberhafte Luft ein, die klar und rein wie selten, und voll von schmeichelnden Düften ist. Ich freue mich über den endlich wieder friedlichen Anblick, und drehe meinen Kopf zurück zu meinem Retter: doch er ist weg, ist nicht mehr da.

Auch vom Tisch ist alles verschwunden – keine Kerzen, kein Becher, nichts.
Verschreckt sehe ich unter den Tisch zu meinem Hund: Er liegt wieder auf steinigem Untergrund, von den Sonnenstrahlen mit weichem Licht überzogen. Er reckt und dehnt sich; atmet dabei in einem wohligen Seufzer aus und steht langsam auf.

Meine Hände greifen in die weiche Decke, die mich noch mollig einhüllt – und ich erkenne, das ist meine Decke von Zuhause, die normalerweise auf meinem Sofa liegt – wie, bitteschön, kommt die hierher? Wie kann das sein? Und vor allem - wo ist der Mann hingekommen?

Kein Fahrrad, nichts, stelle ich fest, als ich vor die Hütte gehe – nur friedvolle Stille, Vogelgezwitscher mit leichtem Rauschen in den Baumwipfeln.
Der Hund springt raus, schüttelt sich, und hüpft an mir hoch – er ist noch nass, wie ich auch ‚also das Gewitter war zumindest kein Traum‘, stelle ich fest.

„Verdammt“, will ich sagen, traue mich aber nicht, dieses Wort auszusprechen, es bleibt bei einem verschluckten „verflixt“, und ich weiche noch weiter aus „Gott im Himmel! Was war das?“
Doch die beiden, Gott wie auch der Himmel, bleiben mir die Antwort schuldig.
 



 
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