Die Erkenntnis

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ThomasQu

Mitglied
Die Erkenntnis

Aufgewachsen bin ich auf dem Dorf, als Adoptivsohn von Heidrun und Dr. Wilfried Seliger.
Meine leiblichen Eltern seien durch einen Unfall kurz nach meiner Geburt ums Leben gekommen, so wurde mir das immer erklärt, und weitere Verwandte konnten nicht ausfindig gemacht werden. Somit gab es auch keine Hinweise, die mein Anderssein hätten erklären können.

Schon im Vorschulalter wurde mir bewusst, dass ich viel mehr Kraft besaß als andere Kinder. Das ersparte mir die Hänseleien. Einmal hatte einer gewagt, mich “Bruno Brummkopf“ zu nennen. Diesen Knaben knöpfte ich mir ordentlich vor. Danach ließ man mich in Ruhe. Aber zu Geburtstagen wurde ich nie eingeladen.

Nicht nur mein Gesicht ist anders, auch meine ganze Gestalt: Der große Brustkorb … die kurzen Arme und Beine ...
Das war an sich noch nicht beunruhigend, das konnte man noch als normal bezeichnen. Viel seltsamer war, dass ich mich anders entwickelte. Schneller.
Schon mit Neun erlangte ich meine Geschlechtsreife und ein leichter Flaum bildete sich auf meinem Kinn. Mit Zehn hörte ich auf zu wachsen. Somit bin ich bei knapp einem Meter sechzig stehen geblieben. Nur meine Muskulatur legte weiterhin zu.

Ungewöhnlich waren auch die umfangreichen Untersuchungen, die ich schon von Kindesbeinen an über mich ergehen lassen musste, obwohl ich nie krank war. Nicht in einer Klinik oder Arztpraxis, nein, im Institut meines Vaters. “Du solltest doch die Vorteile zu schätzen wissen, einen Arzt als Vater zu haben“, meinte er immer. Damals nannte ich ihn noch Vater.

Im Klassenzimmer saß ich meistens alleine in der letzten Bank. Auf dem Pausenhof hatte ich mir schnell Respekt verschafft, auch unter den älteren Schülern. Da war ich wie ein Wolf unter Hunden. Jeder, der mir krumm kam, bereute das schmerzlich.
Nach dem Abschluss begann ich eine Forstwirtschaftslehre. Möglichst weg von anderen Menschen, von denen hatte ich genug. Im Wald fühlte ich mich frei. Holzrücker wollte ich werden. Mit Kaltblutpferden Baumstämme herausziehen. Dafür braucht es Ausdauer, Kraft und Geschick.

Die Erkenntnis traf mich nicht wie ein Schlag, sie schlug nicht ein wie eine Bombe, nein, sie wuchs in mir. Ganz langsam, wie ein Sämling, der aus der Erde treibt.
Und das Samenkorn dieser Erkenntnis war, dass ich durch Zufall mitbekommen hatte, dass Wilfried zusätzlich noch Doktor in philosophischer Anthropologie war. Auf einmal interessierte mich dieses Thema.
Nach und nach reifte in mir ein Verdacht, der sich von einer absurden Anfangsidee bis hin zur hohen Wahrscheinlichkeit steigerte. Es passte alles zusammen und es gab kein schlüssiges Gegenargument für das Unfassbare, das Ungeheuerliche.

Ich bin ein Klon! Ein Neandertaler!
Erschaffen im Reagenzglas von Dr. Seliger und seiner damaligen Assistentin Heidrun.
In dem Augenblick, in dem dieser Gedanke zur Gewissheit geworden war, tobten kalte und heiße Schockwellen durch meinen Körper. Ich lag wie gelähmt auf meinem Bett, rang um Luft.
Man hatte mich ins Leben gerufen als reines Forschungsobjekt, als menschliche Laborratte.
Zuerst machte sich in mir Bestürzung breit, danach abgrundtiefer Hass.
Unvermittelt machte sich mein Körper selbstständig. Wie von selbst trugen mich meine Beine in Wilfrieds Arbeitszimmer. Meine Hände fassten ihn an seiner Krawatte und zogen den Knoten zu, immer fester, bis sein Röcheln verstummte.
Heidrun packte ich an den Schultern, schüttelte sie und schlug ihren Kopf so lange gegen die Wand, bis das Blut an der Tapete herunterrann.

Seit drei Tagen liegen die beiden tot im Nebenzimmer. Ich habe alle Rollos heruntergelassen und ignoriere Türklingel und Telefon.
Wie wäre es mir ergangen, wenn ich die beiden nicht umgebracht hätte? Wenn ich mich als Neandertaler geoutet und von dem unglaublichen Verbrechen berichtet hätte?
Ich wäre herumgereicht und zur Schau gestellt worden, präsent in allen Fernsehkanälen …

Die Lebenserwartung bei Neandertalern liegt geschätzt bei circa dreißig Jahren, bei guter medizinischer Versorgung könnten es vielleicht zehn Jahre mehr sein. Zumindest einen Großteil meines restlichen Lebens würde ich demnach im Gefängnis oder in einer Anstalt verbringen!
Sollen doch diese verdammten Anthropologen, Archäologen, Biologen meinen Körper aufschlitzen, sezieren … Mir ist das egal …
Goodbye!
 

fuuly

Mitglied
Ein Text, der auf Anhieb meine Neugierde weckt. Locker und flockig geschrieben und zunächst ahnt man nicht, was es mit diesem Raufbold auf dem Schulhof letztlich auf sich hat. Die Erkenntnis, von der diffusen Ahnung bis zur knallharten Gewissheit, vollzieht sich in fast einem Satz. Vielleicht ein wenig rasant. So gerne hat man als Leser doch, diese Ungewissheit, dieses Gestrüpp von düsteren Ahnungen, Reagenzgläsern, Andeutungen. Schön gruselig. Hat mir gefallen.
 

ThomasQu

Mitglied
Die Erkenntnis

Aufgewachsen bin ich auf dem Dorf, als Adoptivsohn von Heidrun und Dr. Wilfried Seliger.
Meine leiblichen Eltern seien durch einen Unfall kurz nach meiner Geburt ums Leben gekommen, so wurde mir das immer erklärt, und weitere Verwandte konnten nicht ausfindig gemacht werden. Somit gab es auch keine Hinweise, die mein Anderssein hätten erklären können.

Schon im Vorschulalter wurde mir bewusst, dass ich viel mehr Kraft besaß als andere Kinder. Das ersparte mir die Hänseleien. Einmal hatte einer gewagt, mich “Bruno Brummkopf“ zu nennen. Diesen Knaben knöpfte ich mir ordentlich vor. Danach ließ man mich in Ruhe. Aber zu Geburtstagen wurde ich nie eingeladen.

Nicht nur mein Gesicht ist anders, auch meine ganze Gestalt: Der große Brustkorb … die kurzen Arme und Beine ...
Das war an sich noch nicht beunruhigend, das konnte man noch als normal bezeichnen. Viel seltsamer war, dass ich mich anders entwickelte. Schneller.
Schon mit Neun erlangte ich meine Geschlechtsreife und ein leichter Flaum bildete sich auf meinem Kinn. Mit Zehn hörte ich auf zu wachsen. Somit bin ich bei knapp einem Meter sechzig stehen geblieben. Nur meine Muskulatur legte weiterhin zu.

Ungewöhnlich waren auch die umfangreichen Untersuchungen, die ich schon von Kindesbeinen an über mich ergehen lassen musste, obwohl ich nie krank war. Nicht in einer Klinik oder Arztpraxis, nein, im Institut meines Vaters. “Du solltest doch die Vorteile zu schätzen wissen, einen Arzt als Vater zu haben“, meinte er immer. Damals nannte ich ihn noch Vater.

Im Klassenzimmer saß ich meistens alleine in der letzten Bank. Auf dem Pausenhof hatte ich mir schnell Respekt verschafft, auch unter den älteren Schülern. Da war ich wie ein Wolf unter Hunden. Jeder, der mir krumm kam, bereute das schmerzlich.
Nach dem Abschluss begann ich eine Forstwirtschaftslehre. Möglichst weg von anderen Menschen, von denen hatte ich genug. Im Wald fühlte ich mich frei. Holzrücker wollte ich werden. Mit Kaltblutpferden Baumstämme herausziehen. Dafür braucht es Ausdauer, Kraft und Geschick.

Die Erkenntnis traf mich nicht wie ein Schlag, sie schlug nicht ein wie eine Bombe, nein, sie wuchs in mir. Ganz langsam, wie ein Sämling, der aus der Erde treibt.
Und das Samenkorn dieser Erkenntnis war, dass ich durch Zufall mitbekommen hatte, dass Wilfried zusätzlich noch Doktor in philosophischer Anthropologie war. Auf einmal interessierte mich dieses Thema.
Nach und nach reifte in mir ein Verdacht, der sich von einer absurden Anfangsidee bis hin zur hohen Wahrscheinlichkeit steigerte. Es passte alles zusammen und es gab kein schlüssiges Gegenargument für das Unfassbare, das Ungeheuerliche.

Ich bin ein Klon! Ein Neandertaler!
Erschaffen im Reagenzglas von Dr. Seliger und seiner damaligen Assistentin Heidrun.
In dem Augenblick, in dem dieser Gedanke für mich zur Gewissheit geworden war, tobten kalte und heiße Schockwellen durch meinen Körper. Ich lag wie gelähmt auf meinem Bett, rang um Luft.
Man hatte mich ins Leben gerufen als reines Forschungsobjekt, als menschliche Laborratte.
Zuerst machte sich in mir Bestürzung breit, danach abgrundtiefer Hass.
Unvermittelt machte sich mein Körper selbstständig. Wie von selbst trugen mich meine Beine in Wilfrieds Arbeitszimmer. Meine Hände fassten ihn an seiner Krawatte und zogen den Knoten zu, immer fester, bis sein Röcheln verstummte.
Heidrun packte ich an den Schultern, schüttelte sie und schlug ihren Kopf so lange gegen die Wand, bis das Blut an der Tapete herunterrann.

Seit drei Tagen liegen die beiden tot im Nebenzimmer. Ich habe alle Rollos heruntergelassen und ignoriere Türklingel und Telefon.
Wie wäre es mir ergangen, wenn ich die beiden nicht umgebracht hätte? Wenn ich mich als Neandertaler geoutet und von dem unglaublichen Verbrechen berichtet hätte?
Ich wäre herumgereicht und zur Schau gestellt worden, präsent in allen Fernsehkanälen …

Die Lebenserwartung bei Neandertalern liegt geschätzt bei circa dreißig Jahren, bei guter medizinischer Versorgung könnten es vielleicht zehn Jahre mehr sein. Zumindest einen Großteil meines restlichen Lebens würde ich demnach im Gefängnis oder in einer Anstalt verbringen!
Sollen doch diese verdammten Anthropologen, Archäologen, Biologen meinen Körper aufschlitzen, sezieren … Mir ist das egal …
Goodbye!
 



 
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