Die Feier

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monti

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Die Feier

Als Thomas an einem späten Samstagnachmittag durch die Balduinstraße zur S-Bahn eilte, kam er an einem zweistöckigen Haus mit Garten vorbei, aus dem Musik, Gelächter und Geklapper von Geschirr zu hören waren. Jemand rief: „He Thomas!“
Thomas blieb stehen. War er gemeint? Er drehte sich um und erblickte auf der anderen Straßenseite Stefan, einen Sportskameraden, mit dem er einmal die Woche im Verein Basketball spielte. Stefan öffnete gerade die Tür seines metallicgrauen VW Sharans, um etwas herauszuholen. Er war feierlich gekleidet, trug einen cremefarbenen Anzug mit roter Schleife. So hatte Thomas ihn noch nie gesehen.
Er überquerte die Straße. „Hallo Stefan. Du siehst ja edel aus. Was machst du hier?“
„Ich bin eingeladen. Eine Hochzeitsfeier. Komm doch mit.“ Stefan schloss die Tür. In der Hand hielt er eine CD. „Kriegst was zu essen und zu trinken.“ Sie gaben sich die Hand. Stefan war einen halben Kopf größer als er, sein dunkles Haar trat an den Schläfen weit zurück und überließ das Feld einer klassisch gewölbten, ebenmäßigen Stirn.
Thomas zögerte. „Ich kenne die Leute doch gar nicht.“
„Ach hier sind so viele, die mitgebracht worden sind. Sagst halt, du bist mit mir gekommen, wenn du gefragt wirst.“
Thomas überlegte nicht lange. Auf einer Hochzeit gab‘s sicher leckere Sachen zu essen, vor allem Kuchen, und er hatte Lust auf Süßes. Er folgte Stefan, der eine schulterhohe Pforte öffnete, deren Holztür nur angelehnt war.
„Aber ich habe ja gar nicht die richtige Kleidung“, sagte Thomas. Stefan schloss die Tür und besah sich Thomas, der ein beigefarbenes Jackett, weißes Hemd und hellblaue Hose trug.
„Das geht schon. Da siehst sogar Leute, die sind nicht so gut gekleidet wie du.“
Stefan stieg nicht die Stufen zum Eingang des Ziegelbaus auf, wie Thomas erwartet hatte, sondern beschritt einen schmalen Pfad, der über Steinplatten hinweg zwischen zwei Rhododendron-Büsche hindurch führte. Sie gelangten vom Vorgarten in den weitflächigen Hintergarten, wo sich die meisten Gäste aufhielten. Stefan eilte so schnell davon, dass Thomas nicht nachkam.
„He!“, rief er ihm nach.
„Ich komme gleich. Ich muss diese CD einem Freund übergeben“, sagte Stefan und verschwand in der Menge. Zögernd begab sich Thomas unter die Leute, die recht unterschiedlich gekleidet waren, die einen feierlich, die anderen alternativ und einige wenige gar alltäglich. Auf dem Rasen hinter dem Haus waren lange Tische aufgestellt, über denen Girlanden, bunte Luftballons und Lampions hingen. Die Tische waren zur Hälfte besetzt, viele Gäste tummelten sich auf dem Rasen, mit Sektglas oder Teller in der Hand, andere hatten sich um den Swimmingpool versammelt, der etwas tiefer lag; der Rasen fiel sanft zu ihm herab. Aus dem Haus hörte man Big-Band-Jazz. Thomas schätzte die Zahl der Leute auf hundert. Auf der Terrasse erblickte er, wonach er Ausschau hielt: das Buffet. Er beschloss sich etwas zum Essen zu holen.
Von einem Diener in Livree wurden auf einem Tablett Getränke gereicht. Thomas nahm sich ein Glas Sekt. Ein junger Mann nahm sich ebenfalls eins; er trug einen dunklen Anzug mit grauer Weste und roter Plüschfliege. „Entschuldigen Sie, ich bin mit meinem Freund Stefan gekommen, der mir zwar gesagt hatte, wessen Hochzeit hier gefeiert wird, aber ich habe es vergessen“, sagte Thomas zu ihm. „Können Sie mir ...“
„Hochzeit? Wie kommen Sie darauf? Hier wird die Geburt des Sohnes gefeiert.“ Der junge Mann reichte das Glas einer Dame in hellblauem Kostüm und entfernte sich mit ihr.
Thomas wunderte sich. Stefan hatte ihm doch etwas von einer Hochzeit zugerufen. Wo steckte er überhaupt? Eine Dame in gelber Bluse und grünem Faltenrock kam vorbei, sie hatte eine staksigen Gang, ihr Gesicht war überschminkt, fand er, grüngelber Lidschatten, schwarz die Augenränder, knallrot die Lippen.
„Äh, entschuldigen Sie. Wissen Sie, wie der neugeborene Sohn heißt?“, fragte er sie.
„Wovon reden Sie?“
„Ich denke, hier wird die Geburt des Stammhalters gefeiert.“
„Wie kommen Sie darauf? Hier wird der Einstand gefeiert. Vor zwei Wochen ist Familie Kröger in dieses Haus eingezogen. Frau Kröger ist meine Schwester. Sie will keine Kinder haben.“
Und sie stakste weiter. Peinlich, peinlich, dachte Thomas, ich sage am besten gar nichts. Er trat auf die Terrasse und warf einen Blick auf das üppige Buffet. Die vielen Speisen redeten ihm ein, dass er hungrig sei. Auf seinen Teller lud er sich etwas vom Putensalat und Curryreis. Nur nicht zuviel, für den Kuchen musste er Platz lassen. Neben ihm stand eine Frau mit einer Mähne blonder Locken, sie trug eine weiße Bluse, deren Brustpartie mit rotgrüner Stickerei verziert war. Von einem Mann im Smoking sie wurde mit Frau Kröger angesprochen.
„Ich glaube, wir haben uns noch nicht begrüßt. Darf ich fragen, wer Sie sind?“, sagte sie mit einem breiten Lächeln und hielt Thomas ihre Hand hin. Auf ihren roten Wangen bildeten sich längliche Grübchen.
Thomas drückte ihr die Hand. „Ich bin der Thomas, ein Freund von Stefan. Herzlichen Glückwunsch zum Einstand. Das Haus ist sehr schön.“
Sie lachte. „Zum Einstand? Wir wohnen schon drei Jahre hier.“
Thomas merkte, dass er rot wurde. „Oh, ich ... äh, was wird denn gefeiert? Stefan sagte ...“
„Mein Mann und ich haben das Bundesverdienstkreuz zweiter Klasse verliehen bekommen.“
„Ach, das ist ja toll.“ Thomas quälte sich ein Lächeln aufs Gesicht. „Gratuliere. Und wofür?“
„Wir sind Ärzte und behandeln seit Jahren Flüchtlingskinder und Kinder aus Tschernobyl kostenlos.“
„Super!“, sagte Thomas und deutete eine Verbeugung an. „Vor solchen Leuten ziehe ich meinen Hut.“
„Sie haben ja gar keinen“, sagte Frau Kröger und lachte. Dann wandte sie sich von Thomas ab, da sie erneut von dem Herrn im Smoking angesprochen wurde.
Thomas schlang gierig einige Happen hinunter. Ein Fettnäpfchen nach dem anderen. Dieser Stefan. Hochzeit! Ich bringe ihn um. Und die Frau im grünen Rock hatte ihm auch nur Quatsch erzählt. Auf der Suche nach Stefan wandelte er im Garten umher. Die Sonne war hinter den Baumwipfeln mehrerer Pappeln verschwunden. Ahh, riefen die Leute, als die Lampions in farbigem Licht erstrahlten. Kein Stefan in Sicht. War er vielleicht abgehauen?
Nachdem Thomas seinen Teller leergegessen hatte, trat er an den Tisch mit den Süßspeisen. Mindestens zehn verschiedene Kuchen und Torten, und ebenso viele Cremes und Puddings erschwerten ihm die Wahl. Die Schwarzwälder Kirschtorte gewann schließlich seine Gunst. Mit einem großen Stück auf dem Teller stellte er sich an den Rand der Terrasse, von wo er weite Teile des Gartens überblicken konnte. Wo war Stefan?
Die Torte schmeckte ihm nicht, sie hatte einen merkwürdig öligen Nebengeschmack. Als er sich unbeobachtet fühlte, schob er die Reste in eine der Mülltonnen, die neben der rostroten Tür zur Garage aufgestellt waren. Dann eilte er zurück zum Buffet und nahm er sich von den Crepes. Lecker. Wieder hielt er Ausschau nach Stefan. Schließlich erblickte er ihn in einer Gruppe nahe am Swimmingpool. Thomas atmete auf, endlich würde er erfahren, was das zu bedeuten hatte. Ohne den Blick von Stefan abzuwenden, näherte er sich der Gruppe. Er schnappte das Wort Operation auf. Offenbar redeten sie über Medizin. Stefan grüsste Thomas mit einem Augenzwinkern.
„Herr und Frau Kröger sind vermutlich Chirurgen?“, fragte Thomas die Anwesenden, drei Männer, zwei Frauen.
Diese schüttelten die Köpfe. „Die Krögers sind doch keine Ärzte.“
Thomas wäre beinahe der Teller aus der Hand gefallen.
„Was sind sie dann?“, fragte er. Fast klang es aggressiv.
„Frau Kröger ist Designerin, und Herr Kröger ist Architekt.“
„Er ist Erfinder. Er hat Schuhe mit heizbaren Sohlen erfunden“, sagte Stefan. Die anderen lachten.
„Und was wird hier gefeiert“, fragte Thomas, er bohrte seinen Blick in Stefan hinein.
„Die Krögers feiern ein Jubliäum“, sagte der Mann neben ihm, er war dick und atmete schwer. „Vor genau fünf Jahren wurde der Fernsehturm in unserer Stadt fertiggestellt. Herr Kröger war maßgeblich am Bau beteiligt, und Frau Kröger konzipierte die Innenausstattung.“
„Aber das ist ja verrückt“, platzte es aus Thomas heraus. „Jeder erzählt mir etwas anderes.“ Zu Stefan sagte er. „Du hast mir vorhin doch gesagt, dass hier eine Hochzeit gefeiert wird.“
Stefan nickte, fasste Thomas unter den Arm und führte ihn beiseite. „Also, mein Lieber. Lass dich aufklären. Herr Kröger ist der Vorsitzende des hiesigen Lügenvereins. Einmal im Jahr feiert er eine Lügenparty, jeder darf hier nach Herzenslust lügen.“
„Ein Lügenverein? Davon habe ich noch nie gehört.“
„Ja, jetzt weißt du es. Probiers mal. Es macht wirklich Spaß zu lügen. Die meisten Leute hier wissen gar nicht, was los ist.“ Er klopfte Thomas auf die Schulter und verließ ihn.
Thomas stand da und fühlte sich unwohl. Die halbe Crepes lag noch auf dem Teller, aber er mochte sie nicht aufessen. Er hatte in seinem Leben nur selten gelogen, und jedesmal hatte er ein schlechtes Gewissen gehabt.
„Entschuldigen Sie“, fragte ihn eine ältere Dame in weißem Kostüm und blauem Hut, der mit Stoffblumen verziert war. „Wissen Sie eigentlich, was hier gefeiert wird?“
„Äh, ich weiß es nicht genau.“ Thomas überlegte einen Moment. Dann sagte er lächelnd: „Das heißt, ich weiß es schon. Hier wird ein Jubiläum gefeiert. Vor drei Jahren hat Herr Kröger seinen ersten Wunderkuchen gebacken. Einen Pflaumenkuchen. Einfach super. Seine Backwaren sind grandios. Er ist zum Ehrenkonditor der hiesigen Konditorinnung ernannt worden.“
„Wirklich? Und heute kann man diese Wunderkuchen essen? Ich würde von diesem Pflaumenkuchen probieren.“
„Heute backt er schon schon ganz andere Sachen. Beispielsweise Ingwerkuchen. Auf dem Buffet finden Sie seine neuste Kreation: eine Abart der Schwarzwälder Kirschtorte. Kolossal.“
„Oh, wunderbar. Dann hole ich mir gleich etwas.“
„Warten Sie, ich gehe mit Ihnen. Ich muss meinen Teller zurückbringen.“
Mit einem Lächeln sah Thomas zu, wie die Dame sich von der Schwarzwälder Torte nahm. Das war ja doch viel einfacher, als er gedacht hatte. Gar nicht so schlecht, was er da fabriziert hatte. Ein kleines Kunstwerk sogar. Er ballte die Fäuste vor Freude und begab sich unter die Leute, um noch ein paar Lügen aufzutischen.
 

Fellmuthow

Mitglied
hat Spaß gemacht

Hallo monti,

diese Geschichte ist dir gelungen - finde ich.

Habe auch nur ganz wenige Hinweise...

... zwei Rhododendron-Büsche[blue]n[/blue]

wo sich [blue]die meisten[/blue](viele) Gäste aufhielten.
Ob es die meisten waren, das konnten die beiden noch nicht beurteilen.

..,der Rasen fiel sanft zu ihm [blue]herab[/blue](ab)

Gruß Fellmuthow
 

Justina

Mitglied
Hallo monti,

hier ist Dir eine schöne Mischung aus Spannung und Humor gelungen. Besonders gut gefällt mir die Lügengeschichte rund um die Ärzte, die im Nebenamt die Armen dieser Welt retten. Köstlich, Thomas´steife Hochachtungsbekundungen ob dieser Gutmensch-Aktionen - und dann entpuppt sich alles als Bluff!
Ein kleiner Kritikpunkt: eine "Abart" der Schwarzwälder Kirschtorte würde mich nicht zum Probieren einladen. Wie wäre es mit "Verfeinerung" oder "eine besonders exquisite Form der Schwarzwälder Kirschtorte"?

Schmunzelnd grüßt
Justina
 

monti

Mitglied
Hallo Fellmuthow, hallo Justina,
vielen Dank für die Kritik, habe mich gefreut. Ich werde die Korrekturen und Anregungen in der nächsten Fassung berücksichtigen.
Gruß
 

Andi

Mitglied
Hallo monti,
wirklich ein Augenschmaus, besonders die Schwarzwälder Kirschtorte. Die allerdings hat einen öligen Bei-(nicht Neben-)geschmack. Herzliche Grüße, Andi
 



 
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